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Erschienen in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 3/2019

Open Access 31.01.2019 | Pflege | Leitthema

Überpflege – gibt es das auch?

verfasst von: M. Wohlmannstetter, MSc. DGKP

Erschienen in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin | Ausgabe 3/2019

Zusammenfassung

Hintergrund

In vielen Bereichen der Medizin werden in den letzten Jahren vermehrt Maßnahmen diskutiert, die als „Übertherapie“ oder „Überdiagnose“ Eingang in die Literatur gefunden haben.

Fragestellung

Können analog zu diesen Begrifflichkeiten im medizinischen Kontext auch pflegerische Handlungen oder Handlungsweisen identifiziert werden, die als „Überpflege“ zu klassifizieren sind?

Material und Methode

Die verfügbare Literatur wurde ausgewertet und unterschiedliche Formen von Überpflege werden beschrieben. Ritualisierte Pflegehandlungen werden kritisch betrachtet. Es wird eine Definition für den Begriff Überpflege vorgeschlagen. Die sich daraus ergebenden Implikationen für die tägliche Praxis werden dargestellt.

Ergebnisse

Der Begriff Überpflege wird in der vorhandenen Literatur bislang weder ausreichend definiert noch diskutiert. Bisweilen kommen Studien aus dem medizinischen Bereich jedoch zu dem Schluss, dass pflegerische Interventionen auch konkrete, negative Auswirkungen auf den Zustand von Patienten haben können. In der Praxis können unterschiedliche Ursachen für Überpflege gefunden werden. Es bestehen jedoch auch verschiedene Ansätze, um diese zu vermeiden.

Schlussfolgerungen

Es ist wahrscheinlich, dass pflegerische Maßnahmen auch negative Effekte auf die Gesundheit und Genesung von Patienten haben können. Eine Definition des Begriffs Überpflege sowie die Beschäftigung mit deren Auswirkungen und möglichen Maßnahmen, diese zu verhindern, sind wünschenswert.
Hinweise

Redaktion

U. Janssens, Eschweiler
W. Druml, Wien
„Überpflege“ – gibt es das auch? Die erste Hürde bei der Beantwortung dieser Frage ist die fehlende Definition des zu diskutierenden Begriffs. Während im medizinischen Kontext in den letzten Jahren zunehmend Termini wie „overtreatment“ und „overdiagnosis“ Eingang in die Literatur gefunden haben, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem damit verwandten pflegerischen Äquivalent – zumindest in der einschlägigen Fachliteratur – gegenwärtig nicht auszunehmen. Lässt man jedoch den streng wissenschaftlichen Diskurs außer Acht, ergeben sich durchaus Anhaltspunkte, dass Überpflege in der Praxis existiert und ein nicht zu unterschätzendes Problem darstellt.
Pflege ist – verglichen mit der Medizin – eine sehr junge wissenschaftliche Disziplin. Es erscheint daher nicht verwunderlich, dass den positiven Aspekten der Tätigkeit mehr wissenschaftliches Interesse entgegengebracht wird als den negativen. Immerhin dauerte es auch in der Medizin seit Hippokrates 2500 Jahre, bis erkannt wurde, dass überbordende Diagnostik und medizinische Therapie Schaden anrichten können.
Zudem haften dem allgemeinen Pflegeverständnis bis heute zahlreiche anachronistische Elemente an, die eine kritische Auseinandersetzung mit den negativen Aspekten pflegerischen Handelns erschweren. So sind „Aufopferung“ und „Gehorsam“ tief in der DNS der Pflegepersonen verankert und wurden von Generation zu Generation als Maxime beruflichen Handelns weitervererbt. Auch wenn es hier längst zu einem Wandel des Rollenverständnisses gekommen ist, so sind die Nachwirkungen dieser ursprünglichen Einstellung noch nicht ganz abgeklungen. Nicht zuletzt spiegelt sich dies auch in der Sichtweise der Bevölkerung wider, in der der Pflegeberuf nach wie vor eher als „Berufung“ wahrgenommen und mit den Worten: „wie du das schaffst, ich könnte das nicht“ kommentiert wird. Mit dieser Bestärkung von außen und dem inneren Gefühl, sich täglich für seine Patienten aufzuopfern, fällt es jedoch naturgemäß schwer zu glauben, dass man durch zu viel Fürsorge auch Schaden zufügen kann.

Zu viel des Guten – kann Pflege schaden?

Glaubt man Paracelsus, so ist grundsätzlich nichts ohne Gift. Übertragen auf die Pflege müsste dies bedeuten, dass auch hier zu viel des Guten Schaden anrichten kann. Diese Überlegung ist gleichermaßen unangenehm wie notwendig, denn sie bricht ein Tabu auf, da Pflege, wie bereits ausgeführt, im allgemeinen Sprachgebrauch ja stets positiv besetzt ist. Umso wichtiger scheint es, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein „zu viel“ an Pflege im Sinne von Überpflege möglich ist und welche Auswirkungen dies haben könnte.
Jakob erkannte im Jahr 2009 in einer Arbeit an 36 Patienten mit akutem respiratorischem Versagen oder Kreislaufversagen, dass pflegerische Handlungen negative Auswirkungen auf die Sauerstoffsättigung im Lebervenenblut hatten [7], und stellte daher in einem weiteren Artikel die provokante Frage, ob pflegerische Handlungen an Intensivpatienten gefährlich sind [6]. Er leitete aus den Erkenntnissen auch die Vorgabe ab, bei Patienten mit schweren Organfunktionsstörungen „die pflegerischen Maßnahmen auf ein notwendiges Minimum zu beschränken“ [6].
Das Minimal-handling-Konzept fußt auf empirischen Beobachtungen
Ähnliche Vorgaben sind auch aus dem sog. Minimal-handling- bzw. Optimal-handling-Konzept bekannt, dass ursprünglich aus der Neugeborenenintensivpflege stammt [9] und auch in der neurologischen und neurochirurgischen Intensivpflege breite Anwendung findet. Auch ist dieses System in der Intensivpflege gut etabliert, aber in der Literatur selten einheitlich beschrieben. Es fußt zudem „lediglich“ auf empirischen Beobachtungen, dass pflegerische Handlungen mitunter zum Anstieg des Hirndrucks [15] sowie zu hämodynamischen oder respiratorischen Problemen führen können. Konkrete Aussagen, welche Pflegehandlungen vermieden werden müssen oder welche Auswirkungen die beobachteten Effekte auf die Langzeitprognose der Patienten haben, existieren jedoch nicht.
Dementsprechend wage sind auch die daraus abgeleiteten Vorgaben. So beschreibt etwa der Pschyrembel „minimal handling“ in der neonatologischen Intensivpflege als: „umsichtiges, ruhiges gezieltes Handeln und Vermeiden unnötiger Manipulationen“ [12]. Für den Erwachsenenbereich sind verbindliche Aussagen noch schwieriger zu finden.
Nun stellt die Intensivpflege mit Sicherheit eine Arbeit in einem gewissen Grenzbereich dar. Die Patienten sind in der Regel vital bedroht und kleinste Veränderungen können entscheidend für den weiteren Heilungsverlauf sein. Zudem handelt es sich traditionell um ein Tätigkeitsfeld, in dem zahlreiche Grenzen zwischen ärztlichem und pflegerischem Handeln verschwimmen. Aus diesem Blickwinkel kann man natürlich schlussfolgern, dass pflegerische Interventionen ein gewisses Gefahrenpotenzial aufweisen. Doch wie verhält es sich mit der Pflege im Allgemeinen, oder ist Überpflege lediglich ein Problem, das einen Spezialbereich betrifft?

Ursachen für Überpflege

Die entscheidende Frage ist möglicherweise nicht „Gibt es Überpflege?“ sondern: „Welche Formen der Überpflege können unterschieden werden?“.

Pflege als Fortführen der medizinischen Therapie

Pflege ist natürlich auch an der Übertherapie im medizinischen Sinn beteiligt, da in der Praxis vielfältige Überschneidungen zwischen den beiden Disziplinen bestehen. Auf diesen Umstand wurde bereits auch in fachübergreifenden Publikationen aufmerksam gemacht. So ist das Problem bekannt, dass Pflegepersonen im diagnostischen und therapeutischen Bereich vielfach ärztliche Anordnungen mittragen müssen, ohne aktiv in den Entscheidungsprozess eingebunden zu sein [4]. Oder anders formuliert: Jeder „unnötig“ gesetzte zentralvenöse Zugang wurde von einer Pflegeperson vorbereitet, nahezu jede „übertriebene“ Blutabnahme gar von einer Pflegeperson durchgeführt.
Pflege ist das Fortsetzen der Medizin mit anderen Mitteln
Diese Problematik betrifft in einem großen Ausmaß den mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich. Aber auch der eigenverantwortliche Tätigkeitsbereich, also der eigentliche Kern pflegerischen Handelns, wird durch medizinische Vorgaben maßgeblich beeinflusst. Als Beispiel hierfür können Grenzentscheidungen am Lebensende herangezogen werden. So zieht eine Fortsetzung der medizinischen Therapie selbstverständlich auch Pflegehandlungen nach sich, die von den beteiligten Pflegepersonen auch dann umgesetzt werden müssen, wenn sie mit der getroffenen Entscheidung unter Umständen nicht einverstanden sind. Dadurch können Situationen entstehen, in denen Pflegepersonen Tätigkeiten aus ihrem eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich auch entgegen der eigenen Überzeugung durchführen müssen. Angelehnt an von Clausewitz könnte man daher überspitzt formulieren, dass Pflege lediglich das Fortsetzen der Medizin mit anderen Mitteln ist.
Selbstverständlich ist es legitim, sich in diesen Punkten auf die Durchführungsverantwortung zu berufen, und zu konstatieren, dass die Verantwortung für die Anordnung der Maßnahmen bei den ärztlichen Kollegen liegt. Doch streng genommen erlaubt ein aufgeklärtes Pflegeverständnis durchaus auch einen kritischeren Blick auf das Zusammenspiel der Berufsgruppen untereinander. Mit der Verantwortung verhält es sich nämlich nicht wie mit der Freiheit: Sie endet nicht dort, wo die eines anderen beginnt, sondern besteht auch darüber hinaus.

Pflege als Ritual

Hätte die Krankenpflege ein offizielles Motto, würde dieses vermutlich lauten: „Das haben wir immer schon so gemacht“. Über Jahrzehnte war dieses Credo der Satz, den man als Neuling in der Gesundheits- und Krankenpflege während seiner Ausbildung und in den darauffolgenden ersten Jahren am häufigsten gehört hat. Dabei wurde dieser Ausspruch sowohl als allumfassende Erklärung für das Gefragte als auch als Impetus, endlich mit der Arbeit fortzufahren und keine unnötigen Fragen zu stellen, verwendet.
Erst in den letzten Jahren wurde dieser Pfad allmählich verlassen. Pflegerische Frage- und Problemstellungen werden heute kritisch beleuchtet, reflektiert und, im Idealfall, auch wissenschaftlich aufgearbeitet. Dieser Umdenkprozess ist allerdings noch nicht abgeschlossen und nach wie vor halten sich in der Praxis hartnäckig einige Pflegerituale, die, im Hinblick auf das Wohl der Patienten, nicht rational begründet werden können, jedoch, zumindest aus pflegerischer Sicht, auf den ersten Blick durchaus Sinn ergeben. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind das „Durchmessen“ und „Durchbetten“ am Morgen [14] oder die sog. „Pflegerunden“, also das zeitlich mehr oder weniger fixierte Durchführen von Pflegemaßnahmen. Diese Handlungen lassen die tatsächlichen Bedürfnisse der Patienten völlig außer Acht, haben aber gleichzeitig einen klaren logistischen Vorteil, da alle handelnden Personen wissen, welche Arbeiten wann erledigt werden müssen. Dennoch muss man festhalten, dass nicht alle Personen von diesen zeitlich getakteten Pflegehandlungen profitieren. Es handelt sich also streng genommen in vielen Fällen um Überpflege.

Pflege als Selbstzweck

Ein Faktor, der Überpflege zwar nicht per se auslöst, aber zumindest begünstigt, ist mit Sicherheit die Wahrnehmung der Pflege in der Öffentlichkeit, aber auch innerhalb des „Mikrokosmos“ Krankenhaus. So besagt eine tradierte Sichtweise, dass nur eine Pflegeperson, die ständig bei der Arbeit gesehen wird, eine gute Pflegeperson ist. Außerdem wird „Pflege“, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine Tätigkeit mit zahlreichen Facetten handelt, vielfach noch immer über das äußere Erscheinungsbild der Patienten beurteilt. Überspitzt formuliert ist es für die Wahrnehmung von außen unerheblich, ob ein Patient nach kinästhetischen Gesichtspunkten im Bett positioniert wurde, die Betreuung bewusst auf einem speziellen Konzept basiert oder ob die korrekt durchgeführte Bauchlage den Gasaustausch verbessert hat. Am Ende zählt das Erscheinungsbild, das dann eventuell mit den Worten: „Danke Schwester, heute haben Sie meinen Mann aber schön rasiert!“ kommentiert wird.
Pflege wird vielfach über das äußere Erscheinungsbild der Patienten beurteilt
Diese Fremdwahrnehmung führt bisweilen dazu, dass Pflegehandlungen nicht ausschließlich nach den Bedürfnissen der Patienten durchgeführt werden, sondern sich auch am Erscheinungsbild orientieren. Beispiele hierfür sind der sprichwörtliche Blutfleck am Leintuch, der einen Wäschewechsel „erforderlich“ macht oder die rasche Mobilisation vor der Besuchszeit, obwohl der Patient keine Rumpfkontrolle aufweist und von der Maßnahme nicht profitiert. Diese Handlungen sind von den zuvor beschriebenen Ritualen abzugrenzen, über deren Wirksamkeit und Nutzen man im Allgemeinen diskutieren kann, die jedoch in der Regel auf einen konkreten Zweck abzielen. Pflegemaßnahmen, die ausschließlich dem äußeren Schein dienen, erfüllen diese Anforderung jedoch nicht. Sie lassen Pflege zu einem Selbstzweck verkommen. Gerade in einem Bereich, der auf das Leben und die Gesundheit von Menschen ausgerichtet ist, darf man sich diese Freiheit jedoch nicht erlauben. In der Kunst mag es vielleicht vertretbar sein, diese keinem anderen Zweck unterzuordnen („l’art pour l’art“), doch ist Pflege nur um der Pflege willen unweigerlich dazu verdammt, in Überpflege zu münden.

Pflege ohne Nutzung der Patientenressourcen

Als letzter, aber möglicherweise bedeutendster Punkt muss auch Pflege, die die Ressourcen der Patienten außer Acht lässt, erwähnt werden. Das Wesen der Pflege besteht in vielen Punkten darin, Patienten Aufgaben des täglichen Lebens abzunehmen oder sie zumindest bei der Durchführung zu unterstützen. Gefangen in dieser Rolle scheitern Pflegepersonen in der Praxis jedoch oftmals daran, die Ressourcen der zu Pflegenden zu erkennen und diese entsprechend zu nutzen. Dieses Phänomen hat vielerlei Ursachen. Die profanste Erklärung ist, dass es beispielsweise einfacher und weniger zeitaufwendig ist, einem Patienten das Essen einzugeben als ihn bei einer selbständigen Nahrungsaufnahme zu unterstützen. Es erscheint auch oftmals unkomplizierter, Patienten im Bett zu waschen als sie zu mobilisieren und zur Körperpflege anzuleiten.
Diese Form der Überpflege basiert zum einen – wie immer wieder beanstandet und auch in den Medien kolportiert wird – auf Zeit- und Personalmangel [5], zum anderen muss man jedoch auch einräumen, dass oftmals eine normale menschliche Schwäche – nämlich Ungeduld – dahinter steckt. Denn auch wenn man in der Pflege stets an überlebensgroßen Vorbildern à la Florence Nightingale gemessen wird, sind Pflegepersonen dennoch „nur“ Menschen.

Überpflege – der Versuch einer Definition

Aufgrund der ausgeführten unterschiedlichen Ursachen für Überpflege erscheint es naheliegend, dass eine allgemein gültige Beschreibung des Begriffs schwierig zu formulieren sein wird. Dieser Ansatz lässt sich dadurch verdeutlichen, dass selbst der seit vielen Jahren im medizinischen Kontext gebräuchliche Begriff „overdiagnosis“ bis heute nicht einheitlich definiert ist, obwohl dies der erste entscheidende Schritt wäre, um der Problematik zu begegnen, wie auch Carter bereits in der Überschrift eines Artikels einräumt: „The challenge of overdiagnosis begins with its definition“ [1].
Eine allgemein gültige Beschreibung des Begriffs Überpflege ist schwierig zu formulieren
Darin hält er ebenfalls fest, dass eine gute Datenlage und internationale Übereinstimmung über die geeigneten Analysemethoden unumgänglich sind [1]. Hieraus lässt sich eine weitere Problemstellung für die Definition des Begriffs Überpflege ableiten, nämlich die Tatsache, dass direkte Auswirkungen von Pflegehandlungen oftmals schwer nachweisbar und quantifizierbar sind. Während in der Medizin statistische Auswertungen klar aufzeigen können, dass beispielsweise gewisse Untersuchungen keinen Benefit für die Patienten bedeuten [1], ist ein Nachweis in der Pflege oftmals schwieriger zu erbringen. Im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners kann man jedoch Folgendes festhalten:
Sobald sich Pflege nicht an den tatsächlichen Interessen und Bedürfnissen der Patienten orientiert oder potenziell negative Auswirkungen den Nutzen einer Maßnahme übersteigen, handelt es sich um Überpflege.

Auswirkungen von Überpflege

Nachdem bereits dargelegt wurde, dass im pflegerischen Alltag immer wieder Maßnahmen gesetzt werden, die als Überpflege klassifiziert werden können, bleibt die Frage offen, ob diese auch negative Auswirkungen nach sich ziehen.
In der Vergangenheit wurde häufig davon ausgegangen, dass routinemäßig durchgeführte Pflegehandlungen in der Regel nützlich und sinnvoll sind, auf jeden Fall aber keinen Schaden anrichten können [6]. Dem entgegenzuhalten ist der Umkehrschluss, dass eine Kraft, die etwas Positives bewirken kann, natürlich auch das Potenzial für das Gegenteil in sich trägt. Diese Behauptung lässt sich sowohl durch klinische Beobachtung als auch durch die verfügbare Literatur untermauern.
Effekte wie die durch Pflegehandlungen induzierte Minderdurchblutung im Splanchnikusbereich [7] sind klassische medizinische Ansätze, um die Auswirkungen von Pflege zu erklären. Dies kann als wertvoller Beitrag und Anstoß für eine breite Diskussion angesehen werden, entbindet die eigentlich betroffene Berufsgruppe jedoch nicht davon, eigenständige Überlegungen zu dieser Thematik anzustellen. Diese mit Sicherheit intensivmedizinisch relevanten Beobachtungen greifen nämlich zu kurz. Überpflege kann wahrscheinlich als Phänomen betrachtet werden, das den Genesungsprozess verzögert, zu einem verlängerten Aufenthalt in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen beiträgt, dadurch weitere Komplikationen begünstigt und konsekutiv zu erhöhten Kosten bei gleichzeitig schlechterem Outcome für die Patienten führt.
Überpflege kann den Genesungsprozess verzögern und zu Komplikationen führen
Als Beispiel hierfür kann die Rolle von Pflegepersonen bei der Entwicklung von Schlafstörungen von Intensivpatienten herangezogen werden. Pinkert weist dabei sowohl auf die direkte Auswirkung von Pflegehandlungen als auch auf andere – durch Pflegepersonen beinflussbare – Faktoren wie Licht und Lärm hin, die einen Schlafentzug begünstigen [11]. Weitere Ansatzpunkte ergeben sich auch bei der Nutzung von Ressourcen. Hatch und Maietta konstatieren beispielsweise, dass in der Lagerungstherapie und Mobilisation oftmals die Tatsache außer Acht gelassen wird, dass Menschen – anders als starre Objekte – über die Möglichkeit verfügen, Bewegungsabläufe mitzuvollziehen und auch aktiv zu unterstützen. Wird dies nicht beachtet, werden täglich zahlreiche Gelegenheiten verpasst, die Gesundheit der Patienten zu fördern [3]. Dabei könnten Pflegende „eine bedeutende Funktion in der Gesundheitsentwicklung übernehmen, wenn sie Fähigkeiten und Gewohnheiten entwickeln, um diejenigen gesunden Ressourcen zu aktivieren, welche selbst beim schwerstkranken Patienten noch vorhanden sind“ [3]. Es ist anzunehmen, dass diese Liste noch beliebig lange fortgesetzt werden kann. In jedem Fall sollte es Gegenstand weiterer Untersuchungen sein, die Bandbreite pflegerischer Interventionen aufzuzeigen, die potenziell negative Auswirkungen auf die Patienten haben können.

Weniger ist oft mehr – Implikationen für die Praxis

Zum Schluss stellt sich die Frage, wie in der Praxis mit den gewonnenen Erkenntnissen umgegangen werden sollte.
In Samuel Shems „House of God“, einem wahren Klassiker der medizinischen Literatur, lehrt ein erfahrener Arzt seine jungen Kollegen, dass die beste medizinische Betreuung darin besteht, möglichst wenig zu tun („The delivery of medical care is to do as much nothing as possible.“ [13]). Diese zugegebenermaßen sehr zynische Aussage hat dennoch einen wahren Kern: oftmals ist in der Betreuung von Patienten weniger mehr.
Doch wovon weniger? Ist die Lösung tatsächlich ein Weniger an Pflege?
In der Praxis sind wahrscheinlich ein Weniger an übertriebener Fürsorge, ein Weniger an unreflektiertem Handeln und ein Weniger an Ritualen Schritte in die richtige Richtung.
Gleichzeitig braucht es aber auch ein Mehr. Ein Mehr an Selbstvertrauen in der Pflege, ein Mehr an Selbstreflexion, ein Mehr an Willen, die Selbständigkeit der Patienten zu fördern, und ein Mehr an individualisierter Pflege.
Um diese plakativen Forderungen in die Tat umzusetzen, bestehen im Alltag durchaus schon Ansätze. So können Grundaussagen des – bereits angesprochenen – Optimal-handling-Konzepts auch auf die gesamte Pflege übertragen werden. Pflegerische Maßnahmen sollten rasch und schonend sowie zeitlich gut getaktet durchgeführt werden [10]. Des Weiteren sollte vor jeder Pflegehandlung sorgsam überlegt werden, ob diese auch wirklich notwendig ist.
In Bezug auf die Störung des Schlafrhythmus empfiehlt beispielsweise die American Academy of Nursing im Rahmen einer Choosing-wisely-Initiative, die nächtliche Pflegeroutine auf ein notwendiges Minimum zu beschränken („don’t wake the patient for routine care unless the patient’s condition or care specifically requires it“; [2]).
Die Verminderung von Überpflege hat ökonomische Vorteile
Zusätzlich zu den Überlegungen, die auf das Wohl einzelner Patienten abzielen, lassen sich aber auch ökonomische Vorteile für die Verminderung von Überpflege festhalten. Im medizinischen Bereich wurde dieser Umstand bereits trefflich von Moynihan et al. aufgezeigt: „… resources wasted on unnecessary care can be much better spent treating and preventing genuine illness“ [8].
Nun muss man sich mit Sicherheit auch in der Pflege, gerade in Zeiten eines überall erlebten „Pflegenotstands“ mit teilweise massiven Personalproblemen, durchaus fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, „überschießende“ Pflegehandlungen einzusparen, um dafür mehr Zeit für die tatsächlich relevante Betreuung der Patienten zu haben.

Fazit für die Praxis

  • Überpflege ist ein in der Praxis häufig beobachtetes, aber in der Literatur wenig beschriebenes Problem.
  • Es gibt klare Hinweise, dass ein „zu viel“ an Pflege auch negative Auswirkungen auf die Patienten haben kann.
  • Man kann in der Praxis mehrere Ursachen für Überpflege unterscheiden.
  • Überpflege verzögert wahrscheinlich den Genesungsprozess, verlängert möglicherweise den Aufenthalt in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und führt zu Komplikationen.
  • Maßnahmen zur Vermeidung von Überpflege können aus zahlreichen unterschiedlichen Konzepten abgeleitet werden.
  • Eine bessere Aufarbeitung der Thematik im wissenschaftlichen Sinn ist wünschenswert und notwendig.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Wohlmannstetter gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine vom Autor durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Literatur
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Metadaten
Titel
Überpflege – gibt es das auch?
verfasst von
M. Wohlmannstetter, MSc. DGKP
Publikationsdatum
31.01.2019
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin / Ausgabe 3/2019
Print ISSN: 2193-6218
Elektronische ISSN: 2193-6226
DOI
https://doi.org/10.1007/s00063-019-0530-6

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