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Erschienen in: Die Ophthalmologie 2/2023

Open Access 27.08.2022 | Interferone | Bild und Fall

Retinopathie unklarer Genese

verfasst von: Ruth Spaniol, Kristina Spaniol

Erschienen in: Die Ophthalmologie | Ausgabe 2/2023

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Anamnese

Eine 38-jährige Patientin stellte sich erstmalig für eine allgemeine Kontrolle vor. Anamnestisch habe sie 2018 einen „Schatten“ vor dem linken Auge bemerkt. Damals seien Cotton-wool-Herde festgestellt worden. Im Jahr 2021 seien auf dem rechten Auge Cotton-wool-Herde bei einer Routinekontrolle diagnostiziert worden, ohne dass die Patientin erneut ein „Schattensehen“ oder eine sonstige Sehstörung bemerkt habe. Eine 2‑malige internistisch-kardiologische Abklärung sei unauffällig gewesen. Aktuell sei sie beschwerdefrei. Seit dem Jahr 2011 sei eine schubförmig remittierende multiple Sklerose (MS) bekannt. Zunächst wurde diese mit 22 µg Interferon(INF)-β-1α 1‑mal wöchentlich therapiert, 2021 wurde die Dosis auf 44 µg 1‑mal wöchentlich erhöht. Andere Erkrankungen seien nicht bekannt. Bei der Mutter der Patientin sei eine altersbedingte Makuladegeneration bekannt, bei ihrem Onkel eine Vaskulitis.

Befunde

Der bestkorrigierte Visus betrug am rechten Auge −1,0 sph/−2,25 cyl/177° = 1,0 und am linken Auge −0,5 sph/−2,75 cyl/175° = 1,0. Die Pupillen waren isokor und rund bei prompter direkter und indirekter Lichtreaktion. Der vordere Augenabschnitt war beidseits reizfrei und altersentsprechend, und der Augeninnendruck lag bei 15 mm Hg am rechten und 16 mm Hg am linken Auge. Fundoskopisch war der Augenhintergrund unauffällig. Ebenso fanden sich in der optischen Kohärenztomographie keine Pathologien. Auf von der Patientin vorgelegten Bildern zeigte sich 2018 ein Cotton-wool-Herd am linken Auge und 2021 am rechten Auge (Abb. 1). Eine Fluoreszeinangiographie war anamnestisch nicht erfolgt.

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Therapie und Verlauf

Anhand der Vorbefunde war 2‑malig eine internistisch-kardiologische Abklärung erfolgt. Dabei waren Langzeitblutdruckmessung und -EKG sowie eine Sonographie der Karotiden unauffällig. Die vorgelegten Laborbefunde zeigten serologisch keinen Nachweis einer Infektion mit Treponema pallidum oder Borrelia burgdorferi. Zum Ausschluss einer entzündlichen/vaskulitischen Genese war eine serologische Kontrolle von Blutsenkungsgeschwindigkeit, C‑reaktivem Protein, eosinophilen Granulozyten, α‑1-Globulin, α‑2-Globulin, β‑Globulin, γ‑Globulin, c‑anti-neutrophilen zytoplasmatischen Antikörpern (c-ANCA), p‑anti-neutrophilen zytoplasmatischen Antikörpern (pANCA), antinukleären Antikörpern (ANA), Antikörpern gegen zyklisches citrulliniertes Peptid (CCP-Antikörper) und Rheumafaktor erfolgt und zeigte sich unauffällig.
Es erfolgte die Umstellung auf den monoklonalen CD20-Antikörper Ofatumumab im April 2022.
Sehstörungen sind seitdem nicht mehr aufgetreten.

Diskussion

Wir berichten über das Auftreten einer Retinopathie mit Cotton-wool-Herden unter INF-β-1a-Therapie bei einer Patientin mit MS.
Interferone sind Glykoproteine, welche immunmodulatorische Eigenschaften aufweisen. Dabei ist INF‑α zur Behandlung viraler Erkrankungen wie beispielsweise Hepatitis‑C etabliert [1]. Bei INF-β-1a handelt es sich um eine First-line-Therapie der MS. Im Rahmen dieser Therapie kann es zu verschiedenen systemischen Nebenwirkungen, wie z. B. grippeähnlichen Symptomen und Laborveränderungen, kommen [2].

Okuläre Nebenwirkungen im Rahmen einer Interferon-Therapie

Okuläre Nebenwirkungen wurden bisher häufiger im Rahmen einer INF-α-Therapie beobachtet. Es fanden sich Retinopathien, anteriore ischämische Optikusneuropathien, Papillenrandblutungen sowie retinale Blutungen [3]. Die Pathogenese dieser Nebenwirkungen ist bisher unbekannt. Allerdings wird vermutet, dass eine Schädigung der retinalen Mikrozirkulation vorliegt. Hierzu passt das Auftreten von Cotton-wool-Herden und retinalen Blutungen als Zeichen einer Gefäßschädigung der Netzhaut [4].
Guyer et al. stellen außerdem einen Zusammenhang mit dem Vorhandensein von Immunkomplexen und Komplementaktivierung mit der Entstehung von Mikroangiopathien und Thrombosierung als potenziellen immunvermittelten Pathomechanismus her [5]. Diese These könnte auch im Rahmen der Entstehung von Nebenwirkungen bei INF‑β interessant sein. Hunt et al. konnten ein vermehrtes Auftreten thrombotischer Mikroangiopathien bei Patienten mit MS und INF-β-Therapie beobachten [6]. Weiterhin beschreibt ein Fallbericht das Auftreten einer Retinopathie kombiniert mit einem Nierenversagen. Die Nierenbiopsie ergab in diesem Fall thrombotische Mikroangiopathien sowie Immunglobulin- und Komplementablagerungen [4]. Der Pathomechanismus scheint somit bei INF‑α und -β ähnlich zu sein.
Raza et al. konnten ein signifikant erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Retinopathie unter INF-α-Therapie bei Patienten mit arterieller Hypertonie oder Diabetes mellitus feststellen [7]. Patienten mit MS sind in der Regel eher jung und ansonsten gesund. Diese klinischen Unterschiede sowie strukturelle Unterschiede zwischen INF‑α und INF‑β sind möglicherweise eine Erklärung für die deutlich selteneren mikroangiopathischen Nebenwirkungen unter INF‑β [4].

Dosisabhängigkeit und Symptombeginn

Des Weiteren scheint das Auftreten okulärer Nebenwirkungen sowohl bei INF-α- als auch bei INF-β-Therapie dosisabhängig zu sein [4]. Auch im vorliegenden Fall entwickelten sich die Sehstörungen, nachdem die Dosis erhöht wurde.
Retinopathien unter INF-α-Therapie präsentieren sich meist symptomlos, wohingegen 83,3 % der Patienten mit INF-β-assoziierter Retinopathie Symptome wie Gesichtsfeldausfälle oder verschwommenes Sehen zeigen. Fundoskopisch zeigen beide Cotton-wool-Herde und retinale Blutungen [4]. Bei der hier vorgestellten Patientin waren die Cotton-wool-Herde nur am linken Auge mit Sehstörungen assoziiert.
Diagnose: Interferon-β-1α-assoziierte Retinopathie
Im Gegensatz zu Retinopathien unter INF‑α, welche sich zwischen 2 Wochen und 5 Monaten nach Therapiebeginn entwickeln [7], treten INF-β-assoziierte Retinopathien zwischen 3 und 72 Monaten nach Therapiebeginn auf [4]. Insgesamt sind sie deutlich seltener. Im vorliegenden Fall traten die Sehstörungen ca. 84 Monate nach Dosiserhöhung auf. Es sind bisher nur 13 Fälle einer INF-β-assoziierten Retinopathie bei Patienten mit MS beschrieben [4]. Nach Absetzen der Therapie kommt es in aller Regel nach ca. 2 Monaten zu einer Rückbildung der Cotton-wool-Herde und der Symptome. Dies war auch bei unserer Patientin der Fall (Abb. 1).

Fazit für die Praxis

  • Das Auftreten einer Retinopathie unter Interferon-β-Therapie ist selten. Allerdings können Cotton-wool-Herde und Blutungen der Netzhaut auftreten.
  • Patienten unter Interferon-β-Therapie sollten regelmäßige fundoskopische Kontrollen erhalten und darauf hingewiesen werden, sich bei Sehstörungen bei einem Augenarzt vorzustellen.
  • Insbesondere eine Dosiserhöhung sollte mit dem Ophthalmologen kommuniziert werden, da dies mit einer Risikoerhöhung für eine Retinopathie verbunden sein kann.
  • Im Falle einer Retinopathie sollte eine Therapieumstellung, beispielsweise auf einen monoklonalen Antikörper, erfolgen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

R. Spaniol und K. Spaniol geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Moerchen M, Rowton A‑K, Emmerich K‑H (2007) Anteriore ischämische Optikusneuropathie und Retinopathie bei systemischer Interferontherapie. Ophthalmologe 104(8):713–715CrossRef Moerchen M, Rowton A‑K, Emmerich K‑H (2007) Anteriore ischämische Optikusneuropathie und Retinopathie bei systemischer Interferontherapie. Ophthalmologe 104(8):713–715CrossRef
2.
Zurück zum Zitat Walther E, Hohlfeld R (1999) Multiple sclerosis: side effects of interferon beta therapy and their management. Neurology 53(8):1622–1622CrossRef Walther E, Hohlfeld R (1999) Multiple sclerosis: side effects of interferon beta therapy and their management. Neurology 53(8):1622–1622CrossRef
3.
Zurück zum Zitat Jenisch T et al (2012) Kombinierter retinaler arteriovenöser Verschluss unter Interferon-β-Therapie. Ophthalmologe 109(1):71–75CrossRef Jenisch T et al (2012) Kombinierter retinaler arteriovenöser Verschluss unter Interferon-β-Therapie. Ophthalmologe 109(1):71–75CrossRef
4.
Zurück zum Zitat Gaetani L et al (2016) Retinopathy during interferon‑β treatment for multiple sclerosis: case report and review of the literature. J Neurol 263(3):422–427CrossRef Gaetani L et al (2016) Retinopathy during interferon‑β treatment for multiple sclerosis: case report and review of the literature. J Neurol 263(3):422–427CrossRef
5.
Zurück zum Zitat Guyer DR et al (1993) Interferon-associated retinopathy. Arch Ophthalmol 111(3):350–356CrossRef Guyer DR et al (1993) Interferon-associated retinopathy. Arch Ophthalmol 111(3):350–356CrossRef
6.
Zurück zum Zitat Hunt D et al (2014) Thrombotic microangiopathy associated with interferon beta. N Engl J Med 370(13):1270–1271CrossRef Hunt D et al (2014) Thrombotic microangiopathy associated with interferon beta. N Engl J Med 370(13):1270–1271CrossRef
7.
Zurück zum Zitat Raza A, Mittal S, Sood G (2013) Interferon-associated retinopathy during the treatment of chronic hepatitis C: a systematic review. J Viral Hepat 20(9):593–599CrossRef Raza A, Mittal S, Sood G (2013) Interferon-associated retinopathy during the treatment of chronic hepatitis C: a systematic review. J Viral Hepat 20(9):593–599CrossRef
Metadaten
Titel
Retinopathie unklarer Genese
verfasst von
Ruth Spaniol
Kristina Spaniol
Publikationsdatum
27.08.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Ophthalmologie / Ausgabe 2/2023
Print ISSN: 2731-720X
Elektronische ISSN: 2731-7218
DOI
https://doi.org/10.1007/s00347-022-01717-0

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