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Erschienen in: Der Orthopäde 8/2017

Open Access 19.07.2017 | Knochendefekte | Leitthema

Kallusdistraktion und Segmenttransport zur Behandlung von Knochendefekten

verfasst von: Prof. Dr. Dr. R. Baumgart, B. Schuster, T. Baumgart

Erschienen in: Die Orthopädie | Ausgabe 8/2017

Zusammenfassung

Hintergrund

Die Methode der Kallusdistraktion beinhaltet als einziges Rekonstruktionsverfahren die Möglichkeit, primär vaskularisiertes, neues Knochengewebe nicht nur in Verbindung mit Längenzuwachs, sondern auch in unmittelbarem Weichteilverbund vor Ort – angepasst an die mechanische Beanspruchung – entstehen zu lassen. Das Verfahren ist zunächst nicht limitiert und zeichnet sich durch eine hohe Infektresistenz von der Infektprävention bis hin zur Infektsanierung aus. Dies ist für eine erfolgreiche Behandlung großer Knochendefekte eine wichtige Voraussetzung.

Technik

Als Standardverfahren kann ein Segmenttransport mit Ringfixateuren auch an weniger spezialisierten Kliniken selbst unter einfachen Voraussetzungen durchgeführt werden, wenn z. B. kein intraoperatives Röntgen möglich ist. In den vergangenen 30 Jahren wurde jedoch mit der Entwicklung motorisierter, externer und voll implantierbarer Systeme eine wesentliche Steigerung bei der apparativen Umsetzung, die weit über den Standard hinausgeht, möglich.

Ergebnisse

Der hohe technische Aufwand ist kostenintensiv und erfordert Spezialkenntnis, was nur an spezialisierten Zentren vorgehalten werden kann. Komplikationslose Verläufe und die Behandlungsergebnisse rechtfertigen allerdings den Aufwand sowohl für die betroffenen Patienten als letztendlich auch für die Kostenträger.
Abkürzungen
FSA
„Femur segment actuator“
ROM
„Range of motion“
SAA
„Slide active actuator“
TSA
„Tibia segment actuator“
Knochendefekte können angeboren, unfall- oder tumorbedingt sein. Die unterschiedlichen Ursachen haben auch völlig unterschiedliche Behandlungsansätze zur Folge. Immer ist das Ausmaß der Defektstrecke in Zusammenhang mit der Gesamtlänge des betroffenen Knochens zu sehen, da zumindest an der unteren Extremität neben der Kontinuität auch die seitengleiche Extremitätenlänge und die achsengerechte Stellung das Behandlungsziel sein sollte.

Knochendefekte und ihre Ursache

Angeborene Knochendefekte

Angeborene Knochendefekte, wie die kongenitale Tibiapseudarthrose, werden bereits sehr früh im Kindesalter auffällig, weil Fehlstellungen und Verkürzungen auftreten und die Kinder die betroffene Extremität nicht richtig belasten. Ursache ist eine umschriebene Ossifikationsstörung, die die Ausbildung eines normalen Knochens verhindert. Nur wenn der erkrankte Knochen vollständig entfernt und der Knochendefekt erfolgreich überbrückt wird, besteht eine realistische Chance, dass der Knochen dauerhaft tragfähig wird.

Unfallbedingte primäre oder sekundäre Knochendefekte

Von primären, unfallbedingten Knochendefekten spricht man, wenn durch das Unfallereignis selbst ein Knochensegment verloren geht. Rasanztraumen kommen hierzu ebenso in Betracht wie Munitionsverletzungen. Sofern einzelne Knochenfragmente zunächst in situ verbleiben und erst später, mit oder ohne operative Versorgung, nekrotisch werden, spricht man von einem sekundären Knochendefekt. Diese Knochenfragmente imponieren im Röntgenbild oft als reaktionslose Sequester. Sie täuschen einen scheinbar kleinen knöchernen Defekt vor und lassen das eigentliche Ausmaß der Defektstrecke anfänglich oft nicht erkennen. Auch Pseudarthrosen können langstreckige Knochendefekte verschleiern und zu erheblichen Verkürzungen führen, insbesondere wenn sie zur Begünstigung der Knochenheilung unter Druck gesetzt werden. Immer muss auch Klarheit bestehen, ob ein akutes oder chronisches Infektgeschehen ausgeschlossen werden kann oder ggf. berücksichtigt werden muss.

Tumorbedingte Knochendefekte

Die Resektion von malignen Knochentumoren muss im Gesunden erfolgen und grundsätzlich den etablierten Radikalitätsanforderungen gerecht werden, da nur dann in Kombination mit der Chemotherapie und ggf. einer Bestrahlung die bisherigen Behandlungserfolge auch weiterhin gesichert sind. Mit erheblichen Defektgrößen und zusätzlichen Vaskularitätsdefiziten aufgrund von Muskelresektionen ist zu rechnen. Bei malignen Tumoren, die gehäuft im Kindes- und Adoleszentenalter auftreten, kommt noch die Nähe oder sogar die Einbeziehung der Wachstumsfuge oder der angrenzenden Gelenke hinzu. Bei benignen Knochentumoren sind die Ausgangsbedingungen deutlich günstiger, grundsätzlich gelten aber ähnliche Überlegungen.

Analyse der Ausgangssituation

Bevor Entscheidungen über das Behandlungskonzept bei Knochendefekten getroffen werden, ist einerseits das tatsächliche Ausmaß der Defektstrecke genau zu ermitteln und andererseits die Vaskularitätsreserve kritisch abzuschätzen. Das tatsächliche Ausmaß der Defektstrecke ist häufig nicht offensichtlich, was dazu führen kann, dass über lange Zeit insuffiziente Behandlungsmethoden eingesetzt werden. Auch fällt es nach mehreren Voroperationen schwer, mühsam aufgebaute dünne Knochenstraßen wieder zu opfern, wenn das tatsächliche Defektausmaß erst verspätet erkennbar wird. Es ist deshalb wichtig, gleich zu Beginn die Vitalitätsgrenzen des Knochens zu eruieren und solange nachzuresezieren, bis diese zweifelsfrei erreicht werden. Gleichzeitig muss dabei auch die gesamte Beingeometrie im Auge behalten werden. Gerade während der Initialbehandlung mit externen Fixateuren, wenn Vitalparameter erste Priorität haben, geht vielfach unkontrolliert Länge verloren oder es manifestieren sich zusätzlich Verkürzungen, Achsen- oder Torsionsabweichungen. Verkürzungen müssen kalkulatorisch der Defektstrecke hinzugerechnet werden. Achsen- und Torsionsabweichungen sind ebenfalls frühzeitig mitzuerfassen und in die Planung einzubeziehen, um Korrekturosteotomien nach Abschluss der Defektbehandlung möglichst zu vermeiden. Bei langstreckigen Defekten kann es vorteilhaft sein, eine bereits eingetretene Verkürzung bewusst zu belassen oder den Defekt sogar aktiv durch Längenaufgabe zunächst zu verkleinern. Die Verlängerung kann dann ggf. unter verbesserten Voraussetzungen zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen (primäre Verkürzung und sekundäre Verlängerung). In jedem Fall muss zu Beginn der Defektbehandlung Klarheit darüber bestehen, wie viel Knochen tatsächlich fehlt, weil dies für die Auswahl des Konzepts der Defektbehandlung entscheidend sein kann.
Die Vaskularität unterscheidet sich bereits in gesunden Extremitätenabschnitten je nach Lokalisation ganz erheblich. Am Femur treten etwa an den Viertelpunkten jeweils eine, insgesamt also 3 Aa. nutriciae über die Linea aspera ein und versorgen das intramedulläre Gefäßsystem wesentlich besser mit arteriellem Blut als an der Tibia, wo nur eine A. nutricia, etwa im proximalen Drittelpunkt, eintritt. Auch die periostale Blutversorgung ist am Femur mit seinem dicken Muskelmantel wesentlich besser ausgebildet als an der Tibia, die zum einen mit einem geringeren Mitteldruck perfundiert wird und zum anderen auf der Ventralseite nahezu unmittelbar der Haut anliegt. Besonders bei Verfahrenswechseln sind die Vaskularitätsreserven von größter Bedeutung. Während ein externer Fixateur die Versorgungsschienen des Knochen-Weichteil-Verbundes am wenigsten tangiert, haben andere Verfahren höchst unterschiedliche Auswirkungen. Konventionelle Platten, die Stabilität durch Anpressdruck vermitteln und die periostale Schiene stark kompromittieren, wurden inzwischen weitgehend durch Platten mit winkelstabilen Schrauben ersetzt, sodass eine Art Fixateur interne resultiert und die Durchblutung auch unter der Platte erhalten bleibt.
Unverändert sind allerdings der operative Zugang und die damit verbundene Weichteilschädigung am Ort des Knochendefekts. Vorteile bieten diesbezüglich Marknagelsysteme, da diese Implantate durch einen kleinen Zugang fern der Defektregion eingebracht werden können. Sofern kein exzessives Aufbohren des Markraumes erfolgt, erholen sich die intramedullären Gefäße relativ rasch [9]. Eine kritische Abwägung muss aber in jedem Fall erfolgen.
Wesentlichen Einfluss hat auch das Vorliegen eines Infekts, was immer auch an eine ursächliche oder zumindest die Entstehung begünstigende Vaskularitätsschädigung denken lassen sollte. Schwere Weichteiltraumen oder nekrotische Knochenareale – insbesondere zerklüftete Knochenstrukturen – bieten Rückzugsmöglichkeiten für Bakterien und führen nicht selten zu einem chronischen Infektgeschehen. Nur die vollständige lokale Sanierung mit vitalem Gewebe verspricht dauerhaften Erfolg, auch wenn der Defekt zunächst deutlich größer wird.

Optionen bei Knochendefekten und Grundlagen der Kallusdistraktion

Während bei Pseudarthrosen und kleineren Defekten der Goldstandard auch weiterhin in der autologen Spongiosaplastik gesehen werden kann, ist dieses Verfahren bei längeren Defektstrecken – zumindest nicht isoliert – keine Alternative. Eine Verbesserung, zumindest am Oberschenkel, verspricht die Masquelet-Technik [7], bei der in einem zweizeitigen Verfahren zur Verbesserung des Lagers zunächst eine Membran aufgebaut wird, und dann erst Spongiosa angelagert wird (s. hierzu Beitrag von Saxer F, Eckardt H in diesem Heft [8]). Der Einsatz von Knochenersatzmaterialien kann, zumindest bei größeren Defekten der langen Röhrenknochen, aus unserer Erfahrung bisher nicht überzeugen. Allenfalls die Ergänzung zu körpereigener Spongiosa oder Markraumaspirat kann in Betracht gezogen werden, wenn nicht genug eigenes Spendermaterial zur Verfügung steht. Hier müssen, ebenso wie beim Einsatz von Ultraschall oder anderen knochenstimulierenden Maßnahmen, kritisch die biologischen Grundlagen berücksichtigt und das Preis-Leistungs-Verhältnis abgewogen werden.
Das Einbringen von körpereigenem oder körperfremdem Material in einen Knochendefekt bleibt letztendlich immer ein Massenproblem. Die Blutversorgung muss zunächst allein durch Diffusion aufrechterhalten werden, bis eine ausreichende Vaskularisierung eingetreten ist. Insbesondere bei größeren Mengen ist dies nicht sicher gewährleistet. Will man den Prozess der Gefäßeinsprossung primär verbessern, bleiben nur der vaskularisierte Knochentransfer oder die Kallusdistraktion. Bei letzterer Methode werden die Knochenheilungsprozesse „überlistet“, indem man einen dauerhaften, längs gerichteten Zug auf das Fibroblastengewebe in einem Osteotomiespalt ausübt, und so bereits während der Regeneratentstehung die Gefäßneubildung anregt. Dies führt dazu, dass, anders als bei der Spongiosaplastik, nicht ein primär anisotropes Knochengewebe vaskularisiert und unter Belastung ausgerichtet wird, sondern dass primär ein isotropes Knochengewebe mit Gefäßanbindung entsteht, das wesentlich bessere mechanische Eigenschaften und Infektresistenzen aufweist.

Die Kallusdistraktion in der Knochendefektbehandlung

Die Grundlagen der Kallusdistraktion sind bestens erforscht und wissenschaftlich anerkannt. Sie gehen im Wesentlichen auf Arbeiten von Ilizarov [4] zurück, der den uneingeschränkten Einsatz des Ringfixateurs zeitlebens propagierte. In den vergangenen 3 Jahrzehnten haben sich darauf aufbauend allerdings wesentliche Verbesserungen in der apparativen Umsetzung ergeben, sodass die Behandlungen deutlich sicherer und komfortabler geworden sind.
Hinsichtlich der Beinverlängerung mit und ohne Achsenkorrektur ist die anfängliche Technik der konventionellen Ringfixateure deutlich in den Hintergrund getreten und weitgehend einer Hexapodentechnologie gewichen. Mit diesen multidirektional verstellbaren Apparaten sind alle Positionen zwischen 2 Knochenfragmenten im Raum erreichbar. Die Einstellvorgaben an den 6 Spindeln werden zwar durch einfach zu handhabende Computerprogramme erleichtert, was aber nichts daran ändert, dass die Apparatur die Extremität zirkulär umschließt und die Befestigungselemente einen permanenten Weichteilreiz erzeugen und meist hässliche Narben hinterlassen. Mit der Weiterentwicklung von voll implantierbaren Distraktionsmarknägeln [1] hat sich zumindest bei Erwachsenen der Einsatz von externen Fixateuren, auch der Hexapoden, zur Beinverlängerung stark reduziert, zumal mit modernen Implantaten und einer geeigneten Planungs- und Operationstechnik [3] minimalinvasiv intraoperativ alle Korrekturen der Achsen und der Torsion sowie postoperativ Verlängerungen simultan an Ober- und Unterschenkeln exakt und mit großer Sicherheit durchgeführt werden können und kaum Narben verbleiben.
Zugseilsyteme sind weitgehend schmerzfrei und hinterlassen kaum Narben
Für die Behandlung von Knochendefekten durch Segmenttransport haben sich parallel zu dieser Entwicklung ebenfalls wesentliche apparative Verbesserungen ergeben. Die grundlegende Idee, ein dem Defekt zugewandtes Knochensegment schonend abzutrennen und dann kontinuierlich durch den Defekt zu ziehen, sodass im Osteotomiespalt – so wie bei der Verlängerung – neues Knochengewebe entstehen kann, ist unverändert geblieben [5]. Auch der gleichzeitige Transport von 2 gegenüberliegenden Segmenten aufeinander zu ist möglich. Die Apparatur wird dadurch komplexer, die Behandlungszeit wird dafür aber kürzer. Während früher mit konventionellen Ringfixateuren oder monolateralen Leichtmetallfixateuren ein Querverzug von Weichteilen mit entsprechender Hautreizung und hässlicher Narbenbildung unvermeidbar war, stehen jetzt Seilzugsysteme [6] zur Verfügung, die wesentliche Vorteile bieten. Das Zugseil kann hierbei an 2 Stellen, medial und lateral, stationär durch die Weichteile außen liegenden Spindeln zugeführt werden [10], sodass der nachteilige Querverzug zum Transport des Verschiebesegments nahezu vollständig entfällt. Noch vorteilhafter ist ein einzelnes Zugseil, das über eine mittig im Knochen platzierte Umlenkrolle nicht nur die Extremität ortsfest verlässt, sondern darüber hinaus auch einem motorisierten Antrieb zugeführt werden kann, der an einem externen Fixateur montierbar ist [2]. Bei korrekter Fixateurmontage macht dieser sogenannte vollautomatische, motorische, zentrale Segmenttransport auch bei langstreckigen Defekten die Behandlung für die Patienten nahezu schmerzfrei und wesentlich komfortabler. Durch den Wegfall des Querverzugs und damit des permanenten Weichteilreizes verbleiben darüber hinaus kaum Narben.
Sofern keine Kontraindikationen gegen einen Marknagel bestehen und die Vaskularitätsreserven als ausreichend erachtet werden, kann sowohl ein alleiniger Segmenttransport als auch ein Segmenttransport mit einer sich anschließenden Verlängerung vorteilhaft im Rahmen einer einzigen Behandlung mit einem voll implantierbaren motorisierten Marknagelsystem (FITBONE®, Wittenstein intens, Igersheim, Deutschland) durchgeführt werden [1, 2].
Zur Stabilisierung der Hauptfragmente erfolgt eine proximale und distale Verriegelung der Implantate während das Verschiebesegment über eine Schraube oder einen Riegel transportiert wird. An der Kontaktstelle zum Hauptfragment (Dockingstelle) am Ende des Transports wird das Verschiebesegment unter Druck gesetzt, sodass es auch ohne Spongiosaanlagerung zu einer Fusion kommen kann. Sonderimplantate ermöglichen, falls erforderlich, eine sich anschließende Verlängerung, ohne dass eine erneute Operation erforderlich ist. Da der Patient nicht durch einen externen Fixateur belastet ist, relativieren sich die Behandlungszeiten. Letztendlich bleiben während der Transport- und Konsolidierungsphase somit nur die Teilbelastung und damit die Notwendigkeit von Unterarmgehstützen.
Aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslagen sind Standardimplantate kaum verfügbar
Aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslagen hinsichtlich Knochenlänge, Knochendurchmesser sowie Ausmaß und Lage der Defektstrecke sind Standardimplantate für eine optimale, effektive Behandlung kaum verfügbar. Vielmehr müssen die erforderlichen Komponenten meist individuell auf den jeweiligen Fall abgestimmt werden, was eine gute Planung bedingt und mit hohen Kosten verbunden ist. Als Sonderanfertigungen für Defekte und Verkürzungen am Ober- und Unterschenkel stehen die FITBONE®-Varianten SAA (Slide Active Actuator), FSA (Femur Segment Actuator) oder TSA (Tibia Segment Actuator) zur Verfügung. Die Operationstechnik mit entsprechender Konfektionierung der Hauptfragmente ist anspruchsvoll und bedarf einer genauen präoperativen Planung, da spätere Korrekturen nur im Rahmen einer erneuten Operation möglich sind. Die Defektbehandlung mit voll implantierbaren Systemen bedeutet somit einen erheblichen Aufwand, der nur an spezialisierten Zentren betrieben werden kann und die Möglichkeiten der Regelversorgung sprengt. Die zielführende Behandlungssicherheit, das geringe Infektionsrisiko und der hohe Behandlungskomfort für den Patienten rechtfertigen letztendlich aber diese Vorgehensweise.

Behandlungsbeispiele

Am Oberschenkel sind langstreckige Knochendefekte nach Tumorresektion häufiger und stellen eine große Herausforderung dar, während posttraumatische und infektträchtige Knochendefekte eher am Unterschenkel lokalisiert sind. Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Behandlungsabläufe nach Tumorresektion am Oberschenkel dargestellt, die die jeweiligen Behandlungsbesonderheiten deutlich erkennen lassen. Einmal erfolgt bei Defektlokalisation im Bereich der Diaphyse die Rekonstruktion des Knochens mit einem Distraktionsmarknagel. Ein weiteres Beispiel zeigt aufgrund der Gelenknähe eine extrem aufwendige, multidirektionale Rekonstruktion mit einem externen Fixateur und einem Zugseilsystem.

Segmenttransport und Verlängerung am Femur mit Distraktionsmarknagel

Bei einem 11-jährigen Jungen bestand am linken Oberschenkel ein Ewing-Sarkom in der Schaftmitte. Nach En-bloc-Resektion resultierte eine Defektstrecke von 12 cm. Zur Stabilisierung wurde von retrograd ein solider Marknagel eingebracht, der die beiden Hauptfragmente zueinander positionierte und zur Aufnahme der Axialkräfte jeweils 3 Verriegelungsoptionen proximal und distal aufwies. Mit diesem Implantat war es dem Patienten möglich, während der Chemotherapie voll zu belasten. Drei Monate nach Abschluss der Chemotherapie erfolgte im Rahmen einer erneuten Operation die Entfernung des Marknagels und die Implantation eines Distraktionsmarknagels (FITBONE®), der als Sonderimplantat einen Segmenttransport von proximal nach distal ermöglichte (Abb. 1a). Während der Transportzeit von 150 Tagen war eine Teilbelastung mit maximal 20 kg zulässig. Der Transport verlief regelrecht, allerdings zeigte sich auch 6 Monate nach Abschluss des Segmenttransportes nur eine marginale Regeneratbildung im Distraktionsspalt. Auf der Kontrollaufnahme erkannte man allerdings, dass die distale Femurwachstumsfuge weiterhin aktiv war, da das distale Marknagelende etwa um 15 mm weiter nach proximal verschoben war (Abb. 1b). Unter dem Verdacht auf eine zu große Stressprotektion durch den rigiden Distraktionsmarknagel erfolgte der Wechsel auf eine weniger steife „Schiffchenplatte“, die von distal eingeschoben und mit jeweils 6 Kleinfragmentschrauben an den beiden Hauptfragmenten verankert wurde. Die Kontrollaufnahme 3 Monate später zeigte, dass sich das Regenerat in dem Distraktionsspalt unter der weniger rigiden Montage deutlich entwickelte (Abb. 1c), was die Vermutung bestätigt, dass das Regenerat zwar angelegt aber durch den starren Distraktionsmarknagel an der weiteren Ausbildung gehindert war. Die lateralseitige Platte wurde 3 Jahre nach der Implantation entfernt, die knöcherne Rekonstruktion zeigte sich in beiden Ebenen tragfähig, sodass auch sportliche Aktivitäten möglich wurden. Sieben Jahre nach der Defektrekonstruktion ergab die Vermessung der Beingeometrie nach Abschluss des Längenwachstums bei dem jetzt 18-jährigen Jungen eine Beinlängendifferenz von 3,5 cm. In üblicher Weise erfolgte daraufhin die femorale Implantation eines Distraktionsmarknagels von retrograd und eine Osteotomie in minimalinvasiver Technik 8 cm proximal der Kniegelenkebene im ehemaligen distalen Hauptfragment (Abb. 2a). Der Distraktionsverlauf mit 1 mm pro Tag erfolgte komplikationslos, die Regeneratbildung war regelrecht, sodass 18 Monate später der Distraktionsmarknagel planmäßig wieder entfernt werden konnte. Die Standbeinaufnahme bei der Abschlussuntersuchung dokumentiert weitgehend seitengleiche Beinlängen in achsengerechter Stellung (Abb. 2b) bei uneingeschränkter Kniegelenkfunktion.

Bidirektionaler Segmenttransport mit Hybridfixateur und Zugseilsystem

Bei einer 10-jährigen Patientin wurde ein Osteosarkom des rechten distalen Femurs diagnostiziert. Aufgrund der Gelenknähe musste die Wachstumsfuge mit entfernt werden, sodass nach En-bloc-Resektion im Gesunden (R0) ein 15 cm langer Knochendefekt resultierte und distalseitig lediglich ein 16 mm langes Segment mit den Resten der beiden Femurkondylen verbleiben konnte. Die Stabilisierung der Extremität erfolgte mit einem ventral liegenden, kniegelenküberbrückenden Karbonfixator, ergänzt durch einen 4/5-Karbonring mit 2 gekreuzten Kirschner-Drähten, die das schmale Kondylenfragment fixierten (Abb. 3a).
Von dem proximalen Hauptfragment wurde ein 6 cm langes Knochensegment schonend abgetrennt, an dessen distalem Ende ein Weichteilverdrängungskegel zur Ausleitung eines einzelnen Zugseils angebracht wurde (Abb. 3b). Das Zugseil wurde über eine Umlenkrolle im Kondylenbereich geführt und nach außen einem kleinen, elektromotorischen Antrieb (FITBONE® externe) zugeleitet, der an dem Fixateur montiert war. Auf diese Weise wurde erreicht, dass in vorteilhafter Weise das vollautomatisch arbeitende Transportsystem völlig unabhängig vom Stabilisierungssystem bleibt (Abb. 3c). In einem ersten Schritt erfolgte noch während der Chemotherapie der kontinuierliche Segmenttransport über 24 h, allerdings mit einer reduzierten Geschwindigkeit von 0,5 mm/Tag von proximal nach distal (Abb. 3d).
Etwa 1 cm vor Erreichen der Dockingstelle erfolgte im Rahmen eines erneuten operativen Eingriffs die schonende Längsspaltung des Verschiebesegments und die Befestigung von jeweils einem Zugseil an der medialen und an der lateralen distalen Kortikalis (Abb. 4a). Die beiden Zugseile wurden separat nach außen geleitet und über Umlenkrollen gemeinsam dem außen liegenden elektromotorischen Antrieb zugeführt (Abb. 4b). Nach Erreichen der medialen und lateralen Dockingstelle zu dem jeweiligen Kondylenfragment wurde die Montage reduziert und Spongiosa aus dem rechten Beckenkamm angelagert. Im weiteren Verlauf zeigte sich eine zunehmende Konsolidierung des Regenerats, sodass etwa 1 Jahr nach der Primäroperation die kniegelenküberbrückende Montage aufgehoben wurde und die Stabilisierung durch eine laterale Platte (Abb. 4c) erfolgte, die dann im weiteren Verlauf durch eine kürzere Platte ersetzt werden konnte.
Im Alter von 15 Jahren entwickelte die Patientin, bedingt durch den Verlust der distalen Femurwachstumsfuge, eine Beinlängendifferenz von 8 cm (Abb. 5a). Es folgte die Implantation jeweils eines antegraden FITBONE®-Distraktionsmarknagels in das Femur und eines weiteren Distraktionsmarknagels in die Tibia sowie die simultane Verlängerung an Ober- und Unterschenkel zum Ausgleich der Beinlängendifferenz (Abb. 5b).
Bei der Abschlussuntersuchung konnte folgendes Ergebnis ermittelt werden:
  • Tumorfreiheit über 10 Jahre (Chemotherapie regelrecht durchgeführt).
  • Multidimensional rekonstruierte Defektregion suprakondylär (Abb. 6a).
  • ROM Kniegelenk rechts (Extension/Flexion) 0‑0-130 nach 13 Monaten Kniegelenküberbrückung.
  • Verbliebene Beinlängendifferenz 1,5 cm, bedingt durch weiteres Restwachstum links (Abb. 6b).
  • Insgesamt 9 Operationen im Rahmen der Rekonstruktion und Verlängerung.
  • Normales Gangbild, keine Schmerzen.
  • Keine Fremdmaterialien, keine künstlichen Gelenke.

Fazit für die Praxis

  • Der Behandlung von Knochendefekten sollte eine genaue Analyse der gesamten Beingeometrie und der Vaskularitätsreserve vorausgehen.
  • Langstreckige Knochendefekte überfordern mengenmäßig häufig die körpereigenen Lager und sind anfällig für Infektionen.
  • Die Methode der Kallusdistraktion beinhaltet als einziges Rekonstruktionsverfahren die Möglichkeit, nahezu unbegrenzt primär vaskularisiertes, neues Knochengewebe entstehen zu lassen.
  • Das Regenerat kann modelliert und den jeweiligen mechanischen Beanspruchungen optimal angepasst werden.
  • Die unbegrenzte Verfügbarkeit, die hohe mechanische Stabilität und die vaskularitätsbedingte Infektresistenz sind wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung langstreckiger Knochendefekte.
  • Als Standardverfahren kann die Kallusdistraktion mit klassischen Ringfixateuren auch an weniger spezialisierten Kliniken unter einfachen Voraussetzungen eingesetzt werden.
  • Motorisierte externe und voll implantierbare „Custom Made“-Implantate optimieren den Segmenttransport an spezialisierten Zentren.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

R. Baumgart weist auf folgende Beziehung hin: Bezahlter Beratervertrag mit Wittenstein intens. B. Schuster und T. Baumgart geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Alle Patienten, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben. Im Fall von nichtmündigen Patienten liegt die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten oder des gesetzlich bestellten Betreuers vor.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Metadaten
Titel
Kallusdistraktion und Segmenttransport zur Behandlung von Knochendefekten
verfasst von
Prof. Dr. Dr. R. Baumgart
B. Schuster
T. Baumgart
Publikationsdatum
19.07.2017
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Orthopädie / Ausgabe 8/2017
Print ISSN: 2731-7145
Elektronische ISSN: 2731-7153
DOI
https://doi.org/10.1007/s00132-017-3441-3

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