Ein 66-jähriger Mann entwickelt im Zuge einer milden SARS-CoV-2-Infektion eine Lungenembolie. Die Ärzte machen zunächst das Virus verantwortlich. Doch als der Mann einen Schlaganfall erleidet, intensiveren sie die Suche – und finden eine ganz andere Ursache.
Bei Patienten mit milden COVID-19-Verläufen sollten in der Folge auftretende thromboembolische Ereignisse nicht automatisch der Infektion zugeordnet werden. Sonst besteht die Gefahr, bisher unentdeckte Erkrankungen zu übersehen, wie der folgende, von Dr. Jakob van Herck und Kollegen im „European Heart Journal Case Reports“ publizierte Fall deutlich macht.
Lungenembolie bei positiven SARS-CoV-2-Nachweis
Ein 66-jähriger Mann wird wegen Schmerzen in der Brust und der Schulterblatt-Region in ein Krankenhaus im belgischen Sint-Niklaas eingewiesen. Die dort tätigen Ärzte messen deutlich erhöhte D-Dimer-Spiegel mit >10.000 ng/ml (normal ˂ 500 ng/ml). Im CT ist eine nicht-okklusive subsegmentale Lungenembolie im rechten unteren Lungenlappen zu sehen. Der im Krankenhaus routinemäßig vorgenommene Abstrich auf SARS-CoV-2 fällt positiv aus.
Zusätzlich zur Lungenembolie sind in der Duplexsonografie oberflächliche Thrombosen im linken unteren Bein zu sehen sowie eine tiefe Beinvenenthrombose im Unterschenkelbereich.
Obwohl der Patient abseits der Brustschmerzen keine Beschwerden einer COVID-Erkrankung vorweist, gehen die Ärzte zunächst davon aus, dass die Thrombosen ursächlich auf die Infektion zurückzuführen sind. Der Mann wird deshalb fünf Tage lang mit einer therapeutischen Enoxaparin-Dosis behandelt und nachfolgend mit Edoxaban 60 mg/Tag entlassen.
Doch die Infektion ist nicht die Ursache
Doch hiermit endet die Krankheitsgeschichte des Mannes nicht: Vier Wochen später kommt er erneut wegen seit zwei Wochen anhaltendem subakuten Schwindel, Gangschwierigkeiten und Doppelsehen in die Notaufnahme. Er habe die Edoxaban-Therapie eine Woche nach der Krankenhausentlassung abgesetzt, gibt der Patient zu. Mithilfe des Finger-Nasen-Versuchs stellen die belgischen Ärzte eine Dysmetrie im rechten Arm fest, der Mann hat zudem Schwierigkeiten, auf einer Linie zu gehen. Im MRT sind zahlreiche ischämische Gehirnläsionen sub(kortial), im Corpus callosum und in der rechten Kleinhirnhemisphäre zu erkennen, was die beschriebene rechtsseitige Ataxie erklärt.
Doch was ist die Ursache für den Schlaganfall, ist es wirklich die SARS-CoV-2-Infektion? Die belgischen Ärzte bezweifeln ihre erste Diagnose jetzt. Aufgrund des multifokalen Musters vermuten sie eine embolische Ursache. Sie finden aber keine Anhaltspunkte hierfür. Der Mann hat weder Vorhofflimmern noch Herzgeräusche, er leidet bzw. litt auch nicht an Fieber oder Palpitationen. Stutzig macht die Mediziner, dass der Patient laut eigenen Angaben ungewollt Gewicht verloren hat, etwa 4 Kilogramm, nichtsdestotrotz ist er noch immer übergewichtig. Die Blutuntersuchung ergibt erhöhte Konzentrationen von Alkalischer Phosphatase von 463 U/L (normal 45–117 U/L) und mit 24 mg/L leicht erhöhte Werte von C-reaktiven Protein (normal ˂ 3,0 mg/L), sonst keine weiteren Auffälligkeiten. Erneut wird eine Antikoagulation mit Edoxaban 60 mg/Tag initiiert.
Vegetation an der Aortenklappe
Die Ärzte intensiveren ihre Suche und nehmen eine transösophageale Echokardiografie vor: Darin ist eine kleine Vegetation von 6,7 mm × 5,2 mm auf der Aortenklappe zu sehen, die als Endokarditis interpretiert wird. Darüber hinaus zeigt sich eine moderate Aortenklappenregurgitation mit einem zum anterioren Segel der Mitralklappe gerichteten Jet. Mehrere Blutkulturen auf in Europa endemische Erreger bleiben negativ. Auch Antiphospholipid-Antikörper lassen sich nicht nachweisen. Wenn eine Infektion und autoimmune Genese auszuschließen sind, was ist dann die Ursache für die Aortenklappenendokarditis?
Die Ärzte beginnen nun, nach malignen Ursachen zu forschen. Im Thorax-CT sind keine verdächtigen Läsionen zu sehen. Ein fäkaler okkulter Bluttest fällt ebenfalls negativ aus. Deutlich erhöht ist dagegen das Prostataspezifische Antigen (PSA) mit einem Wert von 317 ng/ml (normal ˂ 4,5 ng/ml). In der Rektaluntersuchung ist zudem eine Verhärtung an der rechten Seite der Prostata zu spüren. Die Ärzte gehen deshalb von einem Prostatakarzinom aus, was sich in der Biopsie bestätigt. Im PET-CT wird deutlich, dass der Tumor bereits gestreut hat, in die Knochen und mehrere Lymphknoten. Eine erhöhte Aufnahme des Tracers in die Vegetation auf der Aortenklappe lässt sich nicht nachweisen.
Für van Herck und Kollegen steht damit die Diagnose fest: Der Mann leidet an einem fortgeschrittenen, metastasierten Prostatakarzinom, welches eine sekundäre nicht-bakterielle thrombotische Aortenklappenendokarditis verursacht hat. Die vormals diagnostizierte Lungenembolie interpretieren die Ärzte als paraneoplastisches Symptom der Krebserkrankung.
Seltene Ursache für ischämische Schlaganfälle
„Unseres Wissens wurden bisher nur drei Fälle einer nicht-bakteriellen thrombotischen Endokarditis publiziert, die als sekundäre Folge eines Prostatakarzinoms aufgetreten sind“, erläutern van Herck und sein Team die Besonderheit dieses Falles. Charakteristisch für diese Erkrankung sind ihren Ausführungen nach systemische Embolien, am häufigsten im Gehirn, wohingegen Fieber eher selten auftritt. Diese Endokarditis-Form sollte als seltene Ursache für multi-territoriale ischämische Schlaganfälle in Betracht gezogen werden, so van Herck und Kollegen. Neben einer Krebserkrankung (am häufigsten Pankreas- oder Lungentumore) kommen als Ursache für eine nicht-bakterielle thrombotische Endokarditis auch eine Hyperkoagulabilität oder Autoimmunerkrankungen infrage.
Fazit: Nicht vorschnell urteilen
Aus dem folgenden Fall lässt sich aber noch eine weitere Erkenntnis ableiten: Auch wenn eine SARS-CoV-2-Infektion zweifellos ein erhöhtes thromboembolisches Risiko birgt, sollten gerade bei Patienten mit milden COVID-19-Verläufen entsprechende Befunde nicht vorschnell der Infektion zugeschrieben werden. In ihrem Falle hätte die COVID-19-Erkrankung die aufgetretene Lungenembolie nicht hinreichend erklären können, machen van Herck und Kollegen deutlich. „Alle Patienten, bei denen venöse Thromboembolien angenommen werden, aber keine Risikofaktoren identifizierbar sind, wie bei dem Patienten in diesem Fall, sollten zumindest einem begrenzten Screening auf okkulte Tumore unterzogen werden“, empfehlen die Mediziner, „vor allem ältere Patienten, angesichts der bei ihnen vorliegenden hohen Prävalenz von okkulten Tumoren“.
Bei dem 66-jährigen Patienten wird nach der Diagnosestellung eine Androgendeprivationstherapie begonnen. Er bekommt als Thromboseprophylaxe Edoxaban und zur Prophylaxe von Knochenbrüchen Denosumab und Calicum-Vitamin D. Der Patient spricht gut auf die Tumorbehandlung an. Nach fünf Monaten sind keine Vegetationen an der Aortenklappe im Echo mehr erkennbar.
Fazit für die Praxis: |
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