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17.06.2022 | Kardiologie | Nachrichten

Erstaunlicher Therapieerfolg: Mit Nabelschnur-Stammzellen gegen Lungenhochdruck

verfasst von: Philipp Grätzel

An der Medizinischen Hochschule Hannover wurde erstmals weltweit ein Kind mit genetischem Lungenhochdruck mit einer Stammzelltherapie auf Basis von Nabelschnurblut behandelt – mit offenbar erstaunlichem Erfolg.

Bei Kindern mit pulmonal-arterieller Hypertonie (PAH) hat sich die medikamentöse Therapie in den letzten Jahren dank PDE5-Hemmer, Endothelin-Blockern und Prostaglandinen verbessert. Doch bei schwer betroffenen Kindern ist früher oder später noch immer die Lungentransplantation unvermeidlich. Geht es vielleicht auch anders? 

Ärzte um Prof. Dr. Georg Hansmann von der Klinik für Pädiatrische Kardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) haben bei einem dreijährigen Mädchen eine ganz neue Behandlung als individuellen Heilversuch getestet, nämlich eine Stammzelltherapie auf Basis von Nabelschnurblut.

Die Hannoveraner haben darüber jetzt in Nature Cardiovascular Research berichtet. Konkret geht es um ein Mädchen mit PAH auf Basis einer Mutation im ACVRL1-Gen. „Diese Mutationen können spontan auftreten oder vererbt werden, wobei die ACVRL1-Mutation unter allen bekannten Genveränderungen die schlechteste Prognose hat. Weltweit waren bis zu diesem Zeitpunkt nur sieben PAH-Patienten mit exakt dieser Mutation bekannt“, so Hansmann.

Dreijähriges Mädchen mit Krampfanfällen 

Das Kind war ursprünglich durch zwei Krampfanfälle auffällig geworden, die zunächst als Fieberkrämpfe fehlinterpretiert worden waren. Bei der genaueren Abklärung fand sich dann eine deutlich eingeschränkte Belastbarkeit. Wachstum und Gewichtszunahme waren nicht altersentsprechend, es fielen außerdem Teleangiektasien auf, die mit Nasenbluten einhergingen – ein Befund, der für die ACVRL1-Genveränderung beschrieben ist. In der Echokardiografie fanden die Kardiologen eine schwer eingeschränkte, rechtsventrikuläre Funktion mit Trikuspidalinsuffizienz Grad 2. Im Katheter zeigte sich ein enorm hoher Lungenblutdruck von 119/57 mmHg.

"Lungentransplantation in diesem Alter nicht ideal"

Die Vorstellung des Kindes an der MHH erfolgte mit Frage nach Lungentransplantation. Das sei aber in dem Alter nicht ideal, wie Hansmann gegenüber Kardiologie.org betonte: „Die Organfunktion bleibt nicht jahrzehntelang erhalten, wie das bei Herztransplantationen oft der Fall ist. Auch ist die Immunsuppression gerade für Kinder nicht leicht durchzuhalten.“ Im ersten Schritt versuchten es die MHH-Experten deswegen mit einer Modifikation der medikamentösen Therapie. Das Mädchen kam mit Sildenafil und Bosentan. Letzteres wurde durch Macitentan ersetzt, Sprionolacton und inhalatives Iloprost kamen dazu. Intravenöse Prostaglandine waren wegen des ohnehin niedrigen, systemischen Blutdrucks keine Option. Unter dieser Behandlung kam es zu einer gewissen Stabilisierung. Die Gehstrecke wurde etwas länger, aber letztlich änderten sich die hämodynamischen Parameter kaum.

Zytokin-Cocktail aus der Nabelschnur ist Balsam für den rechten Ventrikel

An dieser Stelle brachten die Eltern mit Verweis auf eine Klinik in China die Stammzelltherapie ins Spiel. Ob und was genau in China gemacht wurde, ließ sich zwar nicht recherchieren. Aber da ein Geschwisterkind unterwegs war, entschieden sich Ärzte und Eltern letztlich zu einem Therapieversuch mit humanen mesenchymalen Stammzellen aus der Nabelschnur (HUCMSC): „Prinzipiell muss es nicht die Nabelschnur von Familienmitgliedern sein. HUCMSC sind immunologisch inert“, betont Hansmann.

Genau genommen behandelten die Hannoveraner nicht mit den Stammzellen per se, sondern mit konditioniertem Medium, also dem „Überstand“ der Stammzellkulturen – ein bei anderen Stammzelltherapien gängiges Vorgehen, da unklar ist, inwieweit adulte Stammzellen bei Stammzelltherapien überhaupt anwachsen können. Möglicherweise lösen nicht die Zellen selbst, sondern die von ihnen produzierten Zytokine die therapeutischen Effekte aus. Das Kind erhielt am Ende fünf Infusionen aus nicht-GMP-zertifiziertem, konditioniertem HUCMSC-Medium, zwei davon in die Lungenarterien, drei über einen zentralvenösen Zugang.

Vertragen wurde das von dem Mädchen problemlos, und der therapeutische Effekt danach war geradezu spektakulär. Nach Beginn der Infusionen wuchs das Kind innerhalb von drei Monaten um 10 cm und „sprang“ dadurch von der 5. auf die 65. Perzentile. Die Distanz im 6-Minuten-Gehtest stieg von 370 auf 485 Meter. Im Herzkatheter fiel der pulmonalarterielle Druck um ein Viertel, und in Echo und Kardio-MRT normalisierte sich die rechtsventrikuläre Funktion weitgehend. Das alles ist jetzt drei Jahre her. Das Kind ist natürlich nicht geheilt, aber zumindest derzeit annähernd normal belastbar.

Viele Theorien, was passiert sein könnte

Da die Wissenschaftler um Hansmann sich seit Jahren in der PAH-Forschung engagieren, versuchten sie, mögliche Mechanismen zu klären, die das Beobachtete erklären könnten. Unter anderem fanden sie im infundierten Medium Prostaglandin E2 (PGE2) in hoher Konzentration. Es könnte sich also um Prostaglandineffekte handeln. PGE2 wirkt immunregulatorisch, regenerativ und antiproliferativ. Einzelzellanalysen bei HUCMSC sowie Transkriptomanalysen mehrerer Nabelschnüre erbrachten außerdem Hinweise auf Stärkung der Autophagie, also des Abbaus toxischer Lipidmetabolite, auf Aktivierung entzündungshemmender Signalwege und auf eine Fibrosehemmung, ablesbar am Fibrosemarker NEDD9.

Von dieser letztgenannten Beobachtung zeigt sich Prof. Dr. Bradley Maron, Experte für PAH am Brigham and Women’s Hospital der Harvard Medical School in Boston und Leiter des Zentrums für pulmonalvaskuläre Erkrankungen am VA Boston Healthcare System, besonders beeindruckt. Die Abnahme von NEDD9 spreche dafür, dass die Therapie antioxidative Prozesse stimuliert habe, was wiederum die pulmonalen Gefäße entlaste.

Die spannende Frage ist natürlich, warum die Effekte – anders als bei medikamentöser Prostaglandin-Gabe – offenbar anhaltend sind. Es sei denkbar, dass der in HUCMSC-CM versammelte Zytokin-Cocktail zu einer Reprogrammierung epigenetischer, transkriptomischer und proteomischer „Signaturen“ in pulmonalen Gefäßzellen führe, was Prostaglandine alleine nicht erreichten, so Maron gegenüber Kardiologie.org. Dies müsse aber noch weiter erforscht werden.

Auch bei Erwachsenen?

„Weiter forschen“, das ist jetzt ohnehin der nächste Schritt: Die Behandlung mit Nabelschnurblut bei Kindern mit PAH müsse systematisch evaluiert werden, forderte Maron. Eine Möglichkeit dafür sind weitere individuelle Therapieversuche. Lieber wäre Hansmann allerdings eine multizentrische Studie, die aber kostenintensiv ist und bei einer Erkrankung dieser Seltenheit schwer zu organisieren. Eine andere Frage ist, ob der Therapieansatz eventuell auch für Erwachsene mit PAH in Frage kommen könnte. Maron betonte, dass es stammzellbezogene klinische Studien bei Erwachsenen mit PAH gebe, die bisher aber überwiegend noch keine Ergebnisse vorgelegt hätten. Als besonders interessante Zielgruppe sieht er junge Erwachsene mit früh einsetzender PAH. Das ist aber erneut nur eine kleine Subgruppe der PAH-Patienten.

Literatur

Hansmann G et al. Human umbilical cord mesenchymal stem cell-derived treatment of severe pulmonary arterial hypertension. Nature Cardiovascular Research 2022; 1:568-76

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