Würden bei Postinfarkt-Patienten die 2019 aktualisierten Dyslipidämie-Leitlinien adäquat im Praxisalltag umgesetzt, müssten die meisten Patienten mehr als nur eine intensive Statin-Therapie erhalten. Eine neue Analyse verdeutlicht das Ausmaß an potenziell erforderlichen Zusatztherapien.
Mitte 2019 haben die European Society of Cardiology (ESC) und die European Atherosclerosis Society (EAS) eine aktualisierte Fassung ihrer Dylipidämie-Leitlinien vorgelegt. Dem Grundsatz „lower is better“ folgend wird erstmals für Patienten mit als „sehr hoch“ eingestuftem kardiovaskulärem Risiko empfohlen, den LDL-Cholesterinspiegel auf einen Zielwert < 55 mg/dl (<1.4 mmol/l) sowie um mindestens 50% in Relation zum Ausgangswert zu senken.
Patienten, bei denen dieser Zielwert mit einem Statin allein nicht erreicht wird, sollten demnach zunächst Ezetimib (Klasse-IIa-Empfehlung) und danach gegebenenfalls einen PCSK9-Hemmer (Klasse-IIb-Empfehlung) erhalten. Zuvor hatte der Zielwert für Hochrisikopatienten noch bei < 70 mg/dl (<1,8 mmol/l) gelegen.
Welcher Therapieaufwand wäre erforderlich, um bei möglichst allen Hochrisikopatienten mit durchgemachtem Myokardinfarkt das anspruchsvollere Lipidziel im Praxisalltag zu erreichen? Schätzungen dazu liefert nun eine Studie schwedischer Forscher, in der diese die Effekte einer erweiterten Lipidtherapie simuliert haben.
Nach ihren Ergebnissen wäre für eine Zielerreichung bei jedem zweiten Patienten zusätzlich zu Statinen und Ezetimib auch ein PCSK9-Hemmer erforderlich. Die derzeit hohen Kosten dieser neueren Lipidsenker dürften sich allerdings als wohl größte Hürde für die adäquate Umsetzung der neuen Leitlinien-Empfehlung erweisen.
Mehr als 80% bräuchten lipidsenkende Zusatztherapien
Die Forschergruppe um Dr. Peter Ueda vom Danderyd Hospital, Karolinska Institutet in Stockholm, konnte für ihre Analyse auf Daten von 25.466 Postinfarkt-Patienten aus dem landesweiten SWEDEHEART-Register zurückgreifen. Sie waren zwischen Januar 2013 und Oktober 2017 wegen eines akuten Myokardinfarkts (davon 41.5% mit ST-Hebungs-Myokardinfarkt) in stationärer Behandlung gewesen und sechs bis zehn Wochen nach dem Akutereignis erneut untersucht worden.
Zum Zeitpunkt des Akutereignisses waren 80,2% aller Infarktpatienten ohne jegliche lipidsenkende Therapie, bei der Nachuntersuchung nach einigen Wochen waren es dagegen nur noch 3,9%. Inzwischen waren 84,3% auf eine hochdosierte und 8,8% auf eine in niedriger oder mittlerer Dosierung verabreichte Monotherapie mit Statinen sowie 2,7% auf eine Statin/Ezetimib-Kombination eingestellt worden. Der mittlere LDL-Cholesterinwert betrug 119,2 mg/dl (3,1 mmol/l) zur Zeit des Index-Herzinfarkts und 73,0 mg/dl (1,9 mmol/l) bei der Nachuntersuchung.
Bei immerhin 82,9% aller nachuntersuchten Infarktpatienten wäre gemäß den neuen ESC/EAS-Guidelines eine noch intensivere lipidsenkende Therapie indiziert gewesen, da bei ihnen das empfohlene strengere LDL-Ziel nicht erreicht wurde, berichten Ueda und seine Kollegen. Bei 76,6% konnte keine LDL-C-Reduktion auf < 55 mg/dl und bei 6,3% keine LDL-C-Reduktion um ≥50% erzielt werden.
Nach Simulierung der Effekte einer erweiterten Lipidtherapie mithilfe einer speziellen Modellanalyse (Monte Carlo Modell) kamen die Untersucher dann zu folgenden Ergebnissen: Durch maximale Aufdosierung des Statins würde zusätzlich bei 19,9% und durch additive Ezetimib-Gabe bei weiteren 28,5% aller Postinfarkt-Patienten eine der neuen Leitlinien-Empfehlung entsprechende Behandlung realisierbar werden.
Jeder Zweite bliebe Kandidat für eine PCSK9-Hemmung
Doch es bliebe immer noch ein Anteil von 50,7% aller Patienten, bei denen die Gabe eines PCSK9-Hemmers als weiterer Schritt in Richtung Zielerreichung notwendig wäre. Würden diese Patienten additiv Alirocumab oder Evolocumab erhalten, könnte am Ende bei etwa 90% aller Postinfarkt-Patienten das Ziel einer leitliniengerechten LDL-Reduktion erreicht werden, so das Ergebnis der Modellrechnung.
Nach den Ergebnissen dieser Studie sind vier von fünf Patienten mit überlebtem Myokardinfarkt, die bereits überwiegend ein Statin erhalten, Kandidaten für eine Eskalation der lipidsenkenden Therapie. Die Ausschöpfung der Statin-Therapie durch maximale Dosierung würde bei rund 20% und die additive Ezetimib-Gabe bei rund 30% zu einem den Leitlinien entsprechenden Therapieergebnis führen.
Bei weiteren 50% wäre dies aber erst mit der zusätzlichen Verordnung eines PCSK9-Hemmers zu erreichen. Am Ende wäre durch eine solche Therapieeskalation bei immerhin 90% aller Postinfarkt-Patienten eine leitliniengerechte Lipidtherapie in der Praxis umsetzbar, so die Studienautoren.
Hohe Kosten als Schranke
Auch den schwedischen Untersuchern um Studienleiter Udea ist allerdings bewusst, dass eine entsprechende Ausweitung der PCSK9-Hemmer-Verordnung im Praxisalltag aufgrund der damit verbundenen Kosten eine enorme finanzielle Belastung der Gesundheitssysteme mit sich bringen würde. Sie sehen deshalb dringenden Bedarf, die Empfehlungen der neuen ESC/EAS-Leitlinien einer Kosten/Effektivitäts-Analyse zu unterziehen.