Laktatazidose bei Diabetes Typ 1: Was war die Ursache?

Eine junge Patientin mit Diabetes Typ 1 muss mit Laktat- und Ketoazidose stationär aufgenommen werden. Da die behandelnden Ärztinnen und Ärzte nach eigener Aussage voreingenommen waren, haben sie eine aufwendige Diagnostik veranlasst, anstatt an eine naheliegende Ursache zu denken. Eine 21-jährige Frau mit unkontrolliertem Typ-1-Diabetes mellitus (bei der letzten Krankenhauseinweisung wegen Ketoazidose lag der HbA1c-Wert bei 13,6%) stellte sich im November 2020 während der ersten Welle der SARS-CoV-2-Pandemie vor. Der Grund waren zunehmende Übelkeit, mehrere Episoden von Erbrechen und eingeschränkte orale Aufnahme seit vier Tagen. Zudem litt sie unter Oberbauchschmerzen, Husten, Durchfall, Kurzatmigkeit, Myalgien und Halsschmerzen. Es wurde eine diabetische Ketoazidose (DKA) diagnostiziert, mit einem Glukosewert von 748 mmol/l, einer Anionenlücke von 28 mmol/l, einem arteriellen pH-Wert von 7,29, einem Laktatwert von 4,9 mmol/l und Leukozyten von 8,7 Tsd/µl. Die Lebertransaminasen waren leicht erhöht, die Ultraschalluntersuchung des rechten oberen Quadranten des Abdomens war unauffällig. Eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs wurde ebenfalls durchgeführt, die keinen Befund ergab. Der PCR-Test auf SARS-CoV-2-RNA war negativ. Im Urin waren Glukose und Ketonkörper nachweisbar sowie eine Leukozyturie, jedoch keine Bakterien. Die Behandlung umfasste eine Insulininfusion, Dextrose, Antiemetika und Ceftriaxon aufgrund einer möglichen Harnwegsinfektion, zusätzlich zur Gabe von Kalium und intravenöser Flüssigkeit. In den folgenden Stunden und Tagen normalisierten sich die Blutwerte nur langsam. Das Laktat der Patientin schwankte jedoch weiterhin und stieg am dritten Tag des Klinikaufenthalts erneut auf 4,1 mmol/l an. Laktatazidose Typ A oder B? Der anfängliche Laktatanstieg bzw. die Laktatazidose wurden von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten um Rachel Jaber Chehaye von der Yale School of Medicine in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut auf einen Volumenmangel (Laktatazidose Typ A) zurückgeführt, der bei DKA häufig auftritt. Typ A ist die häufigste Ursache für eine Laktatazidose und aufgrund von Hypoxämie und Hypoperfusion die klinisch dringlichste. Bei der Patientin gab es jedoch keine offensichtlichen Anzeichen einer akuten Infektion oder einer Darmischämie. Blutkulturen wurden nicht angelegt, da der klinische Verdacht auf eine Bakteriämie angesichts der stabilen Hämodynamik und des Fehlens von Fieber oder Leukozytose sehr gering war. Tests auf Krankheitserreger im Stuhl, sexuell übertragbare Krankheiten, Atemwegsviren, SARS-CoV-2 und akute Hepatitis wurden durchgeführt, waren jedoch alle negativ. Daraufhin ging der Verdacht von Chehaye und ihrem Team über in eine Laktatazidose Typ B. Es gibt ein breiteres Spektrum von Ursachen, die zu erhöhtem Laktat bei Laktatazidose Typ B führen, wie z. B. Enzym- oder Kofaktormangel. Die Patientin nahm keine Laktatazidose-induzierenden Medikamente ein, wie Metformin, nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren oder Paracetamol. Schließlich verabreichten die behandelnden Ärztinnen und Ärzte einen Thiamin-Bolus, der die Laktatspiegel auf einen Wert unter 3 mmol/l stabilisierte. Die Patientin wurde schließlich am achten Tag entlassen, mit einem Rezept für eine tägliche orale Vitamin-B1-Substitution. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass ihr Thiamin im Blut bei der Aufnahme lediglich 7 (8–30) nmol/l betragen hatte. An Vitamin-B1-Mangel denken Untersuchungen deuten darauf hin, dass bis zu einem Viertel der Patientinnen und Patienten mit DKA einen Thiaminmangel aufweisen. Dabei besteht eine umgekehrte Korrelation zwischen den Thiamin- und Laktatspiegeln, auch die Häufigkeit von Erbrechen und Bauchschmerzen bei Personen mit Thiaminmangel ist deutlich erhöht. In-vitro-Studien haben gezeigt, dass ein Insulinmangel sowohl zu einer verschlechterten Thiaminabsorption im Dünndarm als auch zu einer verringerten Wiederaufnahme in den proximalen Tubuli der Nieren führt, was erklären könnte, warum Personen mit Diabetes häufiger einen Thiaminmangel aufweisen. Kognitive Verzerrungen ausschalten Die Autorinnen und Autoren der Kasuistik um Chehaye machen einen sogenannten kognitiven Bias bzw. eine kognitive Verzerrung (oder einfach nur Voreingenommenheit) dafür verantwortlich, nicht früher auf die wahre Ursache der DKA gekommen zu sein. Während der COVID-19-Pandemie etwa seien viele Patientinnen und Patienten mit Laktatazidose eingeliefert worden. „Seit dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie hat man sich auf die Laktatwerte als Sepsismarker trotz anderer potenzieller Auslöser der Laktatazidose verlassen“, so die Autorinnen und Autoren um Chehaye. Die ausschließliche Konzentration auf eine Typ-A-Ätiologie der Laktatazidose und die Vernachlässigung von Typ B sei ein Beispiel für einen Ankerheuristik („anchoring bias“), d. h. die Tendenz, sich zu fixieren und Entscheidungen auf anfängliche Beweise zu stützen, wie in diesem Fall die Gewebehypoperfusion. Eine weitere wahrscheinliche Ursache sei eine Verfügbarkeitsheuristik („availability bias“), bei der Erfahrungen und Ereignisse, die in den Gedanken aktuell sehr präsent sind, die Wahrnehmung verändern – wie die COVID-19-Pandemie mit besonders vielen Patientinnen und Patienten mit Sepsis. Laut Chehaye und Kolleginnen und Kollegen sollte das Risiko kognitiver Verzerrungen die Wachsamkeit der behandelnden Ärztinnen und Ärzte erhöhen, um einen Bias zu erkennen und Wissenslücken zu schließen, mit dem Ziel, eine effizientere und effektivere Versorgung zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall führte der kognitive Bias zu umfangreichen Untersuchungen auf Laktatazidose bei einer asymptomatischen Patientin in gutem Allgemeinzustand.

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