Skip to main content

Open Access 11.09.2024 | Kindesmisshandlung | Originalien

Kindeswohlgefährdung: (k)ein Thema!?

Explorative Untersuchungen zu Awareness, Herausforderungen und Fortbildungsbedarfen bezüglich des Kinderschutzes in der hausärztlichen Praxis

verfasst von: Dr. Katharina Grau, Lea Mayer, Maria Haun, Natalie Lamp, Oliver Berthold, Anne Barzel, Jörg M. Fegert, Eva Rothermund, Nathalie Oexle, Vera Clemens, Miriam Rassenhofer

Erschienen in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin

Zusammenfassung

Hintergrund

Studien zeigen, dass Kindesmisshandlung in Deutschland häufig ist. Auch im Gesundheitssystem ergeben sich Handlungsimplikationen insbesondere im Hinblick auf das Erkennen von Hinweisen auf Misshandlung sowie die Einleitung von Hilfen. In der Primärversorgung tätigen Ärzt:innen kommt hierbei eine wichtige Schlüsselfunktion zu. Ziel dieser Arbeit ist es, Awareness, Kompetenzerleben und Fortbildungsbedarfe bezüglicher dieser Thematik bei in Deutschland hausärztlich tätigen Ärzt:innen zu beschreiben.

Material und Methoden

Deskriptive Beschreibung der Daten der Medizinischen Kinderschutzhotline von Telefonanrufen (N = 59) aus dem hausärztlichen und ambulanten internistischen Feld im Zeitraum von Juli 2017 bis Dezember 2021. Zudem erfolgte die qualitative Auswertung von semistrukturierten Interviews mit 15 hausärztlich tätigen Ärzt:innen, die im Rahmen eines Needs-Assessments zur Vorbereitung der Entwicklung eines E‑Learning-Curriculums für hausärztlich tätige Ärzt:innen zu psychosozialen Themen erfolgten.

Ergebnisse

In den Daten der Medizinischen Kinderschutzhotline zeigte sich eine bislang geringe Anzahl von Anrufen aus dem hausärztlichen Feld. Beratungsanliegen bezogen sich insbesondere auf das weitere Vorgehen im Jugendhilfekontext, vorliegende Befunde und Gesprächsführung. Unter den Befragten des Needs-Assessments bildeten sich unter den Interviewten bislang wenig Berührungspunkte mit dem Thema ab, jedoch wurden Unsicherheiten u. a. im Hinblick auf das Erkennen von Kinderschutzfällen und die Gesprächsführung genannt.

Diskussion

Grundsätzlich scheint eine bislang eher moderate Awareness bezüglich möglicher Kinderschutzfälle im hausärztlichen Behandlungskontext zu bestehen. Die Beratungsanliegen bei der Medizinischen Kinderschutzhotline ähnelten den Herausforderungen und Unsicherheiten, die sich aus den qualitativen Interviews ableiten ließen. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass in der Primärversorgung Schulungsbedarf in Bezug auf das Erkennen kinderschutzrelevanter Problemlagen und das Einleiten erster weiterführender Schritte besteht.
Hinweise
Vera Clemens und Miriam Rassenhofer teilen sich die Letztautorenschaft.
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Hintergrund und Fragestellung

Gewaltfreies Aufwachsen wurde als eines der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 von den Vereinten Nationen definiert [18]. Kindesmisshandlung hat für die jeweils Betroffenen nicht nur kurzfristige psychische bzw. körperliche Folgen, sondern kann sich auch langfristig auf die körperliche und psychische Gesundheit sowie auf das soziale Funktionsniveau der Betroffenen auswirken [13].
Mit ihren regelmäßigen Kontakten zur Allgemeinbevölkerung spielen Fachkräfte im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle bei der Erkennung von Kindesmisshandlung [17]. Als eine der zahlenmäßig stärksten Arztgruppen [2] ist bei Allgemeinmediziner:innen mit Kontakt zu vielen Patient:innen unterschiedlichen Alters von einer wichtigen Schlüsselrolle im medizinischen Kinderschutz auszugehen.

Definitionen

Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) definieren Kindesmisshandlung als willentliche Handlungen oder Unterlassungen, die Schaden verursachen oder Minderjährige der Gefahr eines Schadens aussetzen. Der Schaden selbst muss dabei nicht beabsichtigt sein [10]. Eine Abgrenzung verschiedener Misshandlungsformen erfolgte nach einem umfassenden Konsentierungsprozess. Demnach sind Handlungen („acts of commission“) von Unterlassungen („acts of omission“) abzugrenzen [10]. Unter Erstere fallen sexueller Missbrauch, körperliche und emotionale Misshandlung. Zu beachten ist, dass sexueller Missbrauch nicht nur sexuelle Handlungen mit Körperkontakt („hands-on“) an einem Kind oder Jugendlichen bedeutet, sondern auch solche Handlungen einschließt, bei denen es zu keinem Körperkontakt („hands-off“), wie das Zeigen von pornographischem Material, kommt. Zu den Unterlassungen gehören Vernachlässigung und unterlassene Aufsicht. Die Vernachlässigung bezieht sich hierbei neben dem Nichterfüllen körperlicher und emotionaler Bedürfnisse des Kinds, auch auf medizinische oder erzieherische Bedürfnisse, denen nicht bzw. unzureichend Rechnung getragen wird. Die unterlassene Aufsicht bedeutet ein Aussetzen von Minderjährigen gegenüber einer gewaltvollen Umgebung sowie eine dem Entwicklungsstand des Kinds unzureichende Beaufsichtigung [9].
Unter Kindeswohlgefährdung versteht man entsprechend einer Konkretisierung des Bundesgerichtshofs „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ [3].

Prävalenzen

In einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe aus Deutschland (14–94 Jahre; n = 2487) bejahten etwa 7,0 % der Befragten, retrospektiv schwere emotionale Vernachlässigung und 9,0 % der Teilnehmenden schwere körperliche Vernachlässigung während ihrer Kindheit erfahren zu haben [19]. Die Lebenszeitprävalenz von schwerem sexuellem Missbrauch lag bei 2,3 %, für schwere körperliche Misshandlung bei 3,3 % und für schwere emotionale Misshandlung bei 2,6 %. Schließt man Misshandlungsformen in mindestens leichter Ausprägung mit ein, wurde Kindesmisshandlung noch deutlich häufiger berichtet wie in Tab. 1 dargestellt.
Tab. 1
Häufigkeiten angegebener Kindesmisshandlungsformen (ab leichten Schweregrads) in einer deutschen bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe [19]
Misshandlungsform
Prävalenz (%)
Sexueller Missbrauch
14,4
Körperliche Misshandlung
12,9
Emotionale Misshandlung
19,2
Körperliche Vernachlässigung
40,8
Emotionale Vernachlässigung
42,2

Risikofaktoren

Risikofaktoren für Kindesmisshandlung können sich auf das Kind, die Eltern oder die Umwelt beziehen und sind aus Abb. 1 zu entnehmen.

Medizinische Kinderschutzhotline

Im Zuge der Spezifika des Gesundheitswesens bestehen besondere Anforderungen an ein Beratungsangebot in Kinderschutzfragen für Angehörige von Heilberufen. Zunächst ergeben sich aus fachlicher Perspektive spezifische Fragestellungen, für deren Beantwortung spezielles medizinisches Fachwissen erforderlich ist. Andererseits machen der im Gesundheitswesen herrschende Zeitdruck und die Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen auch außerhalb der sonst üblichen Öffnungszeiten von z. B. Beratungsstellen ein auf die Bedürfnisse von Angehörigen von Heilberufen abgestimmtes Beratungsangebot erforderlich. Seit dem 01.07.2017 besteht daher die Möglichkeit für Angehörige von Heilberufen aus ganz Deutschland, sich rund um die Uhr von im Kinderschutz erfahrenen Ärzt:innen telefonisch unter der Telefonnummer 0800-19210-00 in Kinderschutzfragen kostenfrei beraten zu lassen. Das Beratungsangebot wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert und wurde zwischenzeitlich auch für Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe sowie von Familiengerichten geöffnet, um diesen eine niederschwellige medizinische Beratung in Kinderschutzfällen zu ermöglichen. Für Qualitätssicherungs- und Forschungszwecke werden Daten zu Beratungsanlässen erhoben.

Relevanz hausärztlich tätiger Ärzt:innen im Kinderschutz und BASEpro

Hausärztlich tätige Ärzt:innen behandeln häufig mehrere Familienmitglieder über einen langen Zeitraum und haben somit Einblick in das Leben ihrer Patient:innen. Wie in Abb. 1 dargestellt liegt die größte Anzahl der Risikofaktoren für Kindesmisshandlung bei Eltern. Entsprechend der Häufigkeit von Kindesmisshandlung müssten auch hausärztlich tätige Ärzt:innen nicht nur bei der Behandlung von Kindern in ihrem Berufsalltag häufig mit dieser Thematik konfrontiert werden. Wie andere psychosoziale Problemlagen wird Kindesmisshandlung gesellschaftlich tabuisiert und stigmatisiert [15], sodass diese von Patient:innen mutmaßlich selten direkt thematisiert werden und somit unter Umständen unzureichend in der Diagnosestellung und Behandlungsplanung berücksichtigt werden können. Um hausärztlich tätige Primärbehandelnde darin zu unterstützen, betroffene bzw. vulnerable Patient:innen zu identifizieren und Handlungswissen zu psychosozialen Themen zu stärken, wurde ein E‑Learning-Curriculum („e-learning to empower primary care providers“, BASEpro [20] entwickelt und wird derzeit evaluiert. Das Curriculum BASEpro besteht aus einem Onlinekurs und geleiteten Fallgruppen und fokussiert neben Kindeswohlgefährdung auf die psychosozialen Themen Suizidalität, arbeitsplatzbezogene Problemlagen sowie Schwierigkeiten in Partnerschaft und Sexualität. Das Projekt wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert [14].

Fragestellung und Ziele

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Awareness (Sensitivität für Kindesmisshandlung), subjektives Kompetenzerleben, Herausforderungen sowie Fortbildungsbedarfe in Bezug auf das Thema Kindeswohlgefährdung bei in Deutschland hausärztlich tätigen Ärzt:innen zu beschreiben. Hierfür wurde ein qualitatives Needs-Assessment herangezogen, das im Vorfeld der Entwicklung des BASEPro-E-Curriculums die subjektive Kompetenz von hausärztlich tätigen Ärzt:innen in Kinderschutzbelangen erhob. Daten zu diesen Fragestellungen liegen nach Kenntnis der Autor:innen für Deutschland nicht vor. Ergänzend wurden die Daten der Medizinischen Kinderschutzhotline analysiert, um herauszufinden, in welchen Fällen im hausärztlichen Behandlungskontext bereits an eine Kindeswohlgefährdung gedacht wird bzw. welche Fragestellungen sich in den konkreten Fällen für die Behandelnden ergeben, um daraus Fortbildungsbedarfe in diesem Kontext abzuleiten.

Methoden

Medizinische Kinderschutzhotline

Im Rahmen der telefonischen Beratung wurden durch die Beratenden Angaben, z. B. zu Beratungsanliegen der Anrufenden (wie Fragen zu Befunden oder zur Gesprächsführung), mittels eines webbasierten Dokumentationsrasters in Form von auswählbaren Kategorien erfasst. Diese Daten wurden für die Teilstichprobe ambulant tätiger Ärzt:innen in den Bereichen Innere Medizin und Allgemeinmedizin mittels SPSS Statistics for Windows (IBM, Armonk, NY, USA) deskriptiv ausgewertet. Eingeschlossen wurden Anrufe aus dem Zeitraum 01.07.2017 bis 31.12.2021.

Qualitative Interviews

Die qualitative Erhebung erfolgte im Rahmen eines Needs-Assessments in der oben beschriebenen Studie BASEpro. Zur Unterstützung der Entwicklung des E‑Learning-Curriculums wurden im Vorfeld qualitative, semistrukturierte Interviews mit in der Allgemeinmedizin tätigen Ärzt:innen zu psychosozialen Problemen in der Hausarztpraxis, darunter Kindeswohlgefährdung, Suizidalität, Probleme in der Partnerschaft und Sexualität sowie arbeitsbezogene Problemlagen, durchgeführt. In der vorliegenden Studie werden Ergebnisse zum Thema Kinderschutz präsentiert. Ergebnisse zu den Themen Suizidalität und arbeitsbezogene Problemlagen werden aktuell zur Veröffentlichung vorbereitet. Im Hinblick auf Kindeswohlgefährdung enthielt der Leitfaden 3 Fragen zu den Erfahrungen und den Umgang mit Kinderschutzfällen in der Hausarztpraxis („Wissen Sie, ob ihre Patient:innen minderjährige Kinder haben?“, „Hatten Sie schon einmal die Sorge, dass ein minderjähriges Kind aus der Familie eines Patienten oder einer Patientin vernachlässigt, misshandelt oder [sexuell] missbraucht wird bzw. wurde?“, „Welche Schwierigkeiten als Behandler:in erleben Sie hier?“).
Einschlusskriterien für die Teilnahme war eine ärztliche Tätigkeit in der hausärztlichen Versorgung mit abgeschlossener oder aktuell erfolgender Facharztweiterbildung in Allgemeinmedizin bzw. Innere Medizin mit Schwerpunkt der hausärztlichen Tätigkeit.
Potenzielle Teilnehmende wurden in Kooperation mit dem Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Ulm identifiziert und persönlich, per E‑Mail oder Telefon kontaktiert. Zudem wurden Teilnehmende gebeten, die Studieninformationen an potenziell Interessierte weiterzuleiten („snowball sampling“). Interessierte Personen (N = 21) meldeten sich bei Studienmitarbeiterinnen, wurden über Studienziel und -ablauf aufgeklärt und konnten nach schriftlicher Einverständniserklärung einen Interviewtermin vereinbaren (n = 15). Mit 6 Interessierten konnte kein zeitnaher Termin gefunden werden, weshalb diese nicht in die Studie eingeschlossen werden konnten.
Bei der Auswahl der Teilnehmenden wurde auf Heterogenität bezüglich Geschlechts, Alter, Berufserfahrung und Versorgungsgebiet geachtet. Da es Ziel der qualitativen Studie war, einen ersten Eindruck zu den Erfahrungen und Herausforderungen mit verschiedenen psychosozialen Themen in der Hausarztpraxis zu gewinnen, wurde die Rekrutierung nach Durchführung von 15 Interviews beendet. Zwei Studienmitarbeiterinnen (LM, MH) führten die Interviews zwischen August und November 2021 mithilfe der Videoplattform Zoom durch. Die Interviews dauerten zwischen 13 und 44 min (M = 23 min). Als Aufwandsentschädigung erhielten alle Teilnehmenden einen Wertgutschein über 100 €, der bei unterschiedlichen Onlineanbietern eingelöst werden konnte.
Alle Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und anonymisiert. Anschließend erfolgte die Auswertung mithilfe der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltanalyse nach Kuckartz [8] durch 2 Datenkodiernde (LM, MH). Deduktive Kategorien („Häufigkeit“, „Vorgehen“, „Herausforderungen“) ergaben sich aus den Fragen des Leitfadens. Induktive Kategorien („Unwohlsein“, „Kompetenz“) wurden anhand des Interviewmaterials gebildet. Aufkommende inhaltlich-interpretatorische Diskrepanzen wurden diskutiert und konsentiert. Sämtliche Analysen wurden mithilfe von MAXQDA 20 (VERBI Software GmbH, Berlin, Deutschland) durchgeführt.
Aufgrund der Datenschutzkonzepte beider Studien und der Gestaltung der Einwilligungserklärungen für die qualitativen Interviews können die erhobenen Daten jeweils nicht frei zur Verfügung gestellt werden.

Ergebnisse

Medizinische Kinderschutzhotline

Anrufendenkollektiv

Im Zeitraum vom 01.07.2017 bis zum 31.12.2021 erfolgten 665 Anrufe von ambulant tätigen Ärzt:innen bei der Medizinischen Kinderschutzhotline. 8,9 % der Anrufenden (n = 59) wurden – entsprechend der Angaben der Anrufenden – dem Bereich der Allgemeinmedizin oder Inneren Medizin zugeordnet und waren im ambulanten Bereich tätig (s. Abb. 2), was der drittgrößten Inanspruchnahmegruppe unter den anrufenden Ärzt:innen, nach den Fachgebieten der Kinder- und Jugendmedizin und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, entsprach. Eine weitere differenzierende Unterteilung der anrufenden Fachärzt:innen für Innere Medizin (hausärztlicher Schwerpunkt vs. anderer ambulanter Behandlungsschwerpunkt) erfolgte nicht.
Für die weiteren Analysen werden lediglich die Anrufe von Ärzt:innen, die ambulant sowie in den Bereichen Allgemeinmedizin/Innere Medizin tätig sind, betrachtet.

Indexpatient:innen und Misshandlungsformen

In 52,5 % (n = 31) der Anrufe aus dem Gebiet der Inneren Medizin und Allgemeinmedizin war das Kind, um dessen Wohl sich die Anrufenden sorgten, selbst Patient:in (Indexpatient:in) der Anrufenden. Bei 47,5 % (n = 24) waren die Elternteile von Kindern, um die sich die Ärzt:innen sorgten, die Patient:innen (Indexpatient:in) der anrufenden Ärzt:innen. Die Häufigkeiten der in den Falldarstellungen der Anrufenden vermutete Misshandlungsformen ist Abb. 3 zu entnehmen. Mehrfachnennungen waren jeweils möglich.

Beratungsinhalte

Inhalte der Beratung durch die Ärzt:innen der Medizinischen Kinderschutzhotline betrafen bei den Anrufen der o. g. Zielgruppe vorrangig Fragen bezüglich des weiteren Vorgehens im Kontext der Jugendhilfe. Hierunter fielen typischerweise Fragen, ob das Jugendamt im vorliegenden Fall zu kontaktieren ist bzw. wie hierbei vorzugehen ist. Auch die Beratung, ob alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wurde dieser Kategorie zugeordnet. Ein weiteres häufiges Anliegen war die Befundbesprechung z. B. mit der Frage, wie wahrscheinlich der vorliegende Befund auf eine Kindesmisshandlung zurückzuführen ist bzw. ob aus den vorliegenden Befunden bereits gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung resultieren. Fragen zur Gesprächsführung waren ebenfalls von Relevanz sowie der Verweis an andere Akteure (z. B.: Welche anderen Einrichtungen können den Beteiligten weiterhelfen). Aus Abb. 4 sind die Häufigkeiten der jeweiligen Beratungsanliegen sowie weitere Themen der Beratungen zu entnehmen.

Qualitative Interviews

Teilnehmende

An den qualitativen Interviews nahmen N = 15 hausärztlich tätige Ärzt:innen teil (Tab. 2). Neun der Ärzt:innen (60 %) trugen die Facharztbezeichnung Allgemeinmedizin, 6 der Teilnehmenden (40 %) befanden sich in Weiterbildung im Gebiet der Allgemeinmedizin. Alle befragten Ärzt:innen waren im ambulanten Sektor (Niederlassung) tätig. Ein Großteil der Teilnehmenden gab an, in einem ländlichen Gebiet zu praktizieren (n = 8; 53 %), gefolgt vom gemischten (n = 4; 27 %) und städtischen Gebiet (n = 3; 20 %). Im Durchschnitt hatten die Teilnehmenden 6 Jahre Berufserfahrung in der Allgemeinmedizin, mit einer „range“ von 7 Monaten bis zu 30 Jahren.
Tab. 2
Soziodemografische Variablen der Teilnehmenden der qualitativen Interviews
Nummer
Alter (in Jahren)
Geschlecht
Berufsbezeichnung
1
48
w
FÄ AM
2
49
m
ÄiW AM
3
32
w
ÄiW AM
4
40
m
FÄ AM
5
44
m
ÄiW AM
6
60
m
FÄ AM
7
54
m
FÄ AM
8
38
m
FÄ AM
9
39
w
ÄiW AM
10
40
w
FÄ AM
11
35
w
FÄ AM
12
37
w
ÄiW AM
13
44
w
FÄ AM
14
32
w
ÄiW AM
15
30
w
ÄiW AM
m männlich, w weiblich, FÄ AM Fachärzt:in für Allgemeinmedizin, ÄiW AM Ärzt:in in Weiterbildung Allgemeinmedizin

Erlebte Häufigkeit von Kindeswohlgefährdung in der allgemeinmedizinischen Praxis

Ein Großteil der an den qualitativen Interviews teilnehmenden Ärzt:innen berichtete, wenige bis gar keine Erfahrungen mit Kindeswohlgefährdung in ihrem Arbeitsalltag zu haben. Nur eine Teilnehmerin äußerte, dass sie Kindeswohlgefährdung häufiger erlebe: „Das habe ich tatsächlich sehr häufig“ (I11). Die Teilnehmenden begründeten ihre geringe Erfahrung mit dem Thema teilweise mit dem wenigen Kontakt zu Kindern selbst: „Das ist jetzt auch nicht so unser Hauptklientel. … Wir behandeln nicht sehr oft Kinder“ (I12). Gleichzeitig schilderten andere Teilnehmende häufigeren Kontakt mit Kindern in der Praxis: „Ich habe auch Kinder. Als Patienten“ (I08) und „Man sieht Kinder …, wenn sie … akut erkrankt sind … z. B. mit der Großmutter, weil die ohnehin einen Termin bei uns hat“ (I06). Zudem äußerten einzelne Teilnehmende Annahmen über die Häufigkeit von Kindeswohlgefährdung in Bezug auf den sozioökonomischen Status der Familie/des Umfelds („Gerade in so sozialen Brennpunkten …, in Problemvierteln [ist Kindeswohlgefährdung häufiger]“ (I02) und „Aber man muss auch sagen, in der Praxis sind es schon sehr wenig so sozial schwache Patienten. … Also ich glaube deswegen [ist Kindeswohlgefährdung kaum Thema in der Praxis]“ (I14)) sowie die Urbanisierung („Ich kann mir vorstellen, dass man das in der Stadt tatsächlich noch mehr hat“ (I03) und „[Stadt] ist natürlich eine Insel der Glückseligkeit mit seiner ländlichen Struktur, das ist aber in Ballungsräumen … sicher etwas anderes“ (I02)).

Wahrgenommene Kompetenz im Umgang mit Kindeswohlgefährdung

Die Teilnehmenden nahmen ihre Kompetenz im Umgang mit Kindeswohlgefährdung unterschiedlich wahr. So gaben sie einerseits an, Anlaufstellen für weitere Unterstützung zu kennen („Ich weiß auch, dass es da so Gewalthotlines gibt“ [I03]), wobei andere von Wissenslücken berichteten: „Ich weiß einfach auch nicht …, wie weit darf ich da gehen oder … wie man das schlau macht“. Als Grund gaben die Teilnehmenden das Fehlen der Thematik in Studium und Facharztweiterbildung an: „In meiner Ausbildung war das gar nie, gar nicht so wirklich Thema“ (I10). Häufig ging fehlendes Wissen auch mit Unwohlsein und Unsicherheit einher: „Das ist etwas, wo ich mich nicht wohlfühle“ (I10). Gleichzeitig berichtete eine Teilnehmende trotz Weiterbildung ebenfalls von Unsicherheiten: „Tatsächlich habe ich auch schon mal ein Kurs gemacht. … Aber wirklich kompetent oder so etwas fühle ich mich nicht“ (I08).

Wahrgenommene Herausforderungen im Umgang mit Kindeswohlgefährdung im allgemeinmedizinischen Setting

Die Interviewten berichteten von Schwierigkeiten, Zeichen der Kindeswohlgefährdung zu erkennen: „Das dann herauszufinden, ist ganz, ganz schwierig“ (I06). Besonders bei nicht eindeutigen Fällen wurde Unsicherheit im Umgang berichtet: „Und ich bin mir auch selbst vielleicht einfach total unsicher, wenn es nicht super eindeutig ist. … Da gibt’s ja ganz viele so Grenzsituationen, wo es nicht eindeutig ist.“ (I15).
Weiter berichteten die Teilnehmenden von Herausforderungen beim Gespräch mit Sorgeberechtigten bzw. den Kindern. Als schwierig wurde das grundsätzliche Ansprechen des Verdachts auf eine Kindeswohlgefährdung gegenüber den Sorgeberechtigten bewertet: „Das ist natürlich eine Herausforderung, das dann bei den Eltern klar anzusprechen.“ (I13). Die Teilnehmenden äußerten hier insbesondere die Sorge, einen falschen Verdacht zu äußern („Eine Sorge ist auch sicherlich …, dass man da den Eltern auch einen falschen Vorwurf macht. Also etwas Falsches unterstellt“ [I14]), sowie vor dem kompletten Rückzug aus dem Behandlungssetting („Und dann kommen die gar nicht mehr zu mir zur Behandlung, …, wenn ich ein Problem finde dort“ [I01]). Die Teilnehmenden wiesen darauf hin, dass es insbesondere herausfordernd sei, das Vertrauen zwischen Ärzt:in und Eltern(teil) aufzubauen: „Ich glaube, da wirklich dann ein Vertrauen aufzubauen, dass die [Eltern] ehrlich sind, und dass die einem das auch anvertrauen. Das ist ja häufig auch extrem schambehaftet. Das muss jetzt ja gar nicht etwas Missbrauchsmäßiges sein, aber zu sagen, ich bin überfordert mit der Kindererziehung“ (I14). Abschließend merkten 2 Teilnehmende zudem an, dass sie die Allgemeinmedizin nicht als hauptverantwortlich für Kinderschutz sehen: „Da sind eher die Kinderärzte gefragt“ (I06) und „Sie [Mädchen mit Knochenfraktur] war im Krankenhaus. Ich dachte, die haben dort alle gefragt“ (I01).
Zudem berichteten die Interviewten von Schwierigkeiten bezüglich der weiteren medizinischen bzw. psychologischen Anbindung der Kinder und Jugendlichen: „Und das war wie gesagt auch dann mein größeres Problem, die irgendwie unterzukriegen oder anzubinden“ (I04). Dabei wurden sowohl Schwierigkeiten in Bezug auf das Versorgungssystem („Man kann die [Kinder und Jugendliche] schlecht akut dann auch dort [in die Psychiatrie] einweisen. Das wollen die Kollegen nicht, die wollen das dann meistens telefonisch klären“ [I04]) als auch auf Sorgerechtsaspekte („Aber da [Einweisung in Klinik] müssen die Eltern natürlich ja auch mitspielen“ [I12]) benannt.

Diskussion

Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel, die wahrgenommene Kompetenz und Erfahrungen von hausärztlich tätigen Ärzt:innen im Umgang mit Fällen von Kindeswohlgefährdung zu untersuchen. Auswertungen qualitativer Interviews sowie von Anrufen der Medizinischen Kinderschutzhotline ergaben hierbei ein heterogenes Bild bezüglich Berührungspunkte mit dieser Thematik im hausärztlichen bzw. allgemeinmedizinischen Behandlungsalltag. Insgesamt bildeten sich übergreifend Unsicherheiten bezüglich des Erkennens einer kinderschutzrelevanten Situation sowie hinsichtlich weiterer Handlungsschritte bei (vermuteter) Kindeswohlgefährdung ab.
Grundsätzlich ist im Hinblick auf Daten bevölkerungsrepräsentativer Stichproben, in denen bis zu 42,2 % der Befragten retrospektiv berichten, eine Form der Kindesmisshandlung in zumindest leichter Ausprägung erlebt zu haben [19], zu vermuten, dass in der Primärversorgung tätige Ärzt:innen mit einer hohen Zahl an Fällen von potenzieller Kindeswohlgefährdung in Berührung kommen. Zwar machte der Anteil der Anrufe bei der Medizinischen Kinderschutzhotline durch Ärzt:innen in den Gebieten Allgemeinmedizin und Innere Medizin nach Anrufen von Ärzt:innen aus den Bereichen der Kinder- und Jugendmedizin und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie die drittgrößte Gruppe der Anrufe aus dem ambulanten ärztlichen Setting aus, jedoch ist die absolute Anzahl der Anrufe (N = 59) vergleichsweise gering.
Die Häufigkeiten der in den Gesprächen vermuteten Misshandlungsformen stehen im Einklang zu den Ergebnissen einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage, in der ebenfalls für körperliche Vernachlässigung die höchste Prävalenz gezeigt werden konnte, gefolgt von emotionaler Vernachlässigung [19]. Wichtig zu erwähnen ist hier, dass Vernachlässigung in der Praxis häufig schwerer zu operationalisieren ist bzw. körperliche Misshandlung in ihrer Akuität als gravierender wahrgenommen wird und entsprechend eher zu einem Tätigwerden führt.
Im Rahmen der qualitativen Interviews ergab sich, dass die Befragten in ihrem Berufsalltag überwiegend keinen bis wenig Kontakt mit Kindeswohlgefährdung erlebten. Teilweise wurde dies seitens der Interviewten damit begründet, dass in der jeweiligen Praxis keine Kinder behandelt werden. Der Aspekt, dass Kinderschutz auch in der Behandlung von Erwachsenen bedeutsam werden kann, wurde von den Interviewten nicht genannt und kann auf eine mangelnde Awareness bezüglich dieser Thematik und Perspektive hinweisen. Kontrastierend hierzu zeigte sich in den Daten aus der Medizinischen Kinderschutzhotline, dass etwa die Hälfte der hier ausgewerteten Anrufe durch die Behandlung von Erwachsenen ausgelöst wurden.
Maier et al. konnten anhand eines Kollektivs von Ärzt:innen und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, deren quantitativ stärkster Anteil in den Feldern der Kinder- und Jugendmedizin bzw. Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt war, zeigen, dass Kinderschutz im medizinischen Bereich noch wenig präsent ist [12], sodass dies ein fächerübergreifendes Phänomen, und nicht spezifisch für das hausärztliche Feld, zu sein scheint.
In den Interviews wurden teilweise implizite Annahmen über das Auftreten von Kindeswohlgefährdung in Bezug auf Urbanisierung und sozioökonomischen Status erkennbar. Valide Daten für Deutschland zum Zusammenhang zwischen Kindeswohlgefährdung und Urbanisierung sind den Autor:innen nicht bekannt, für die USA liegen heterogene Daten [11] vor. Ein niedrigerer sozioökonomischer Status wird in der Literatur als Risikofaktor für Kindesmisshandlung benannt [4, 5], gleichzeitig zeigt die Erfahrung von Einrichtungen wie den Berliner Kinderschutzambulanzen, dass alle Misshandlungsformen in sämtlichen Einkommens- und Bildungsgruppen auftreten (unveröffentlichte Daten). Implizite Annahmen über das Auftreten von Kindeswohlgefährdung können einen Einfluss auf die Awareness von Ärztinnen und Ärzten bezüglich dieser Thematik haben.
Die Ergebnisse der qualitativen Interviews erweisen, dass das eigene Wissen zur Thematik des Kinderschutzes als gering eingeschätzt wird. Als möglicher Grund wird hier das Fehlen der Thematik in Studium und Weiterbildung genannt. Dies kann auch damit in Zusammenhang gebracht werden, dass mit dem neuen Gegenstandskatalog, der erst ab dem Jahr 2022 Gültigkeit erhielt, kinderschutzrelevante Aspekte im Medizinstudium erstmals als verpflichtender Inhalt aufgenommen wurden [7]. Die aktuelle Musterweiterbildungsordnung Allgemeinmedizin sieht bis dato keine für die Erlangung der Facharztbezeichnung erforderlichen, explizit benannten Kompetenzen im Bereich des Kinderschutzes [2] vor. Gleichzeitig ist der Kinderschutz aus Sicht der Autor:innen bereits auch u. a. unter den Weiterbildungsinhalten zu Prävention zu sehen und sollte dringend vermittelt werden. Wichtig anzumerken ist, dass es jedoch in den letzten beiden Dekaden zunehmende Entwicklungen im Bereich des medizinischen Kinderschutzes gibt [6], nicht zuletzt mit der Zertifizierungsmöglichkeit durch die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) zum „Kinderschutzmediziner“ und der Verabschiedung der AWMF-S3-Kinderschutzleitlinie [16].
Der Ergebnisbericht des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zu Erhebungen im Gesundheitswesen zur Wirkung des Bundeskinderschutzgesetzes zeigt, dass bis zum Erhebungszeitpunkt von übergeordneten Organisationen im Gesundheitswesen (wie Ärztekammern und Fachgesellschaften) ihre Mitglieder teils nur unregelmäßig über kinderschutzrelevante Themen informiert wurden [1]. Da diese Organisationen als wichtige Disseminatoren hinsichtlich neuer Entwicklungen im Kinderschutz anzusehen sind, sei auf diese bedeutende Lücke in der Verbreitung relevanten Wissens hingewiesen, was ebenfalls eingeschränkte Kenntnisse zu der Thematik – auch bei Ärzt:innen, deren Aus- und Weiterbildung schon längere Zeit zurückliegt – erklären kann.
Im Rahmen der qualitativen Interviews wurde betont, dass das fehlende Wissen um das Thema Kindesmisshandlung häufig mit einem Gefühl des Unwohlseins und der Unsicherheit einhergehe. Gefühle dieser Art können möglicherweise zur Hemmung von Awareness und Tätigwerden in Bezug auf Kindesmissbrauch beitragen. Hierzu wären ergänzende Untersuchungen sinnvoll, welche Faktoren an der Evozierung dieser Emotionen beteiligt sind und ob durch Wissensvermittlung diese gemindert werden können. Im Rahmen eines Interviews wurde dazu geäußert, dass keine subjektive Kompetenz trotz besuchter Weiterbildung zur Kinderschutzthematik erlebt werde. Dies stellt möglicherweise auf die Erfordernisse vertiefender Fortbildungsangebote ab, wenngleich offen bleibt, in welchem Umfang sich die Teilnehmende fortgebildet hatte.
Die in den Interviews geschilderten Herausforderungen im Umgang mit Kindeswohlgefährdung sind mit den häufigsten Beratungsanlässen bei der Medizinischen Kinderschutzhotline in Einklang zu bringen und implizieren einen Fortbildungsbedarf in den Bereichen Erkennen von Kindeswohlgefährdung, Gesprächsführung und rechtliche Kenntnisse sowie Versorgungsangebote innerhalb und außerhalb des medizinischen Systems.
Das DJI benennt, dass eine fehlende Integration des Kinderschutzes in die berufliche Identität mancher Akteure im medizinischen System auch mitbedingen könnte, dass die Auseinandersetzung mit Neuerungen im Kinderschutzbereich eventuell von diesen als nicht relevant erlebt werden [1]. Zudem ergaben sich im Ergebnisbericht des DJI Hinweise, dass die Gültigkeit des Bundeskinderschutzgesetzes teilweise eher für die Jugendhilfe gesehen wird. Ähnliches berichten Teilnehmende der Interviews und sehen die (Haupt‑)Verantwortlichkeit für Kindeswohlgefährdung nicht in der hausärztlichen Versorgung. Gleichsam benennt das Bundeskinderschutzgesetz keine expliziten Facharztgruppen bzw. schließt keine Gruppe aus.
Interessanterweise wurde das Thema der Finanzierung der ärztlichen Leistungen im Kinderschutz in den durchgeführten Interviews als mögliches Hemmnis oder relevanter Hebel bezüglich des eigenen Tätigwerdens nicht genannt, wenngleich nicht gezielt danach gefragt wurde. Es ist nicht zu vernachlässigen, dass der individuelle Kinderschutzfall, u. a. durch Gesprächsführung und Kooperation, sowie die grundsätzliche fallunabhängige Vernetzung durchaus erhebliche Ressourcen bindet. Ein möglicher Grund für eine fehlende spontane Nennungen könnte sein, dass dieser Faktor durch eher geringe Awareness oder erlebte Konfrontation mit der Thematik noch nicht reflektiert wurde oder zum Tragen kam. Gleichzeitig könnte dies auch als mögliches Tabuthema diskutiert werden.
Limitationen der vorliegenden Arbeit liegen in der geringen Anzahl der Befragten. Zwar lag bezüglich des qualitativen Needs-Assessments ein balanciertes Sample vor, allerdings ist nicht auszuschließen, dass sich primär Ärzt:innen, die grundsätzlich Interesse an psychosozialen Themen haben bzw. sensibel für diese Thematik sind, für die Teilnahme an der Befragung bereiterklärt haben. Etwaige Effekte könnten durch „snowball sampling“ verstärkt worden sein. Unter Umständen können Ärzt:innen, die über weniger zeitliche Ressourcen verfügen, im Befragtenkollektiv aufgrund terminlicher Aspekte des Studiendesigns unterrepräsentiert sein.
Auch können seitens der absoluten und relativen Häufigkeit der Anrufe bei der Medizinischen Kinderschutzhotline nur eingeschränkt Aussagen über die Awareness hausärztlich tätiger Ärztinnen und Ärzte gemacht werden, da unklar ist, inwiefern das Beratungsangebot der Medizinischen Kinderschutzhotline im hausärztlichen bzw. grundsätzlich im ärztlichen Versorgungsalltag bekannt ist. Zwar sprach eine Teilnehmende in dem Interview von „Gewalthotlines“, die sie kenne; hier ließ sich nicht nachvollziehen, um welches Beratungsangebot es sich konkret handelte. Darüber hinaus könnte es auch sein, dass ein Anruf bei der Medizinischen Kinderschutzhotline als nicht notwendig erlebt wird, z. B. weil ausreichendes Handlungswissen vorhanden ist oder andere, z. B. lokale Beratungsangebote in Anspruch genommen werden. Außerdem erfolgte bei der Kategorisierung der anrufenden Ärzt:innen, die internistisch tätig sind, keine Unterscheidung, ob diese in einer hausärztlichen Praxis oder einem anderen Feld tätig sind. Dies kann entsprechend dazu führen, dass auch Anrufe aus einem internistischen Behandlungssetting in die Auswertung mit einflossen und damit die resultierenden Aussagen teilweise hinsichtlich ihrer Validität schmälern. Des Weiteren wurden die anrufenden Ärzt:innen nicht explizit nach ihren Fortbildungsbedarfen befragt, sodass Beratungsinhalte lediglich als Hinweise für mögliche Fortbildungserfordernisse gesehen werden können.

Fazit für die Praxis

Die Awareness für Kindesmisshandlung ist aufgrund der hohen Prävalenz und bedeutenden Folgen für die Betroffenen sowie die gesamte Gesellschaft im ärztlichen Behandlungsalltag von hoher Relevanz. Hausärztlich tätige Ärzt:innen haben in ihrer familienärztlichen Rolle in der Behandlung von Erwachsenen und Kindern eine wichtige Funktion im Erkennen etwaiger kinderschutzrelevanter Problemlagen sowie bei der Einleitung erster weiterführender Schritte. In unserer qualitativen Studie konnten wir wichtige Hinweise auf Erfordernisse an Fortbildungen zu kinderschutzrelevanten Themen (z. B. Erkennen von Kindesmisshandlung, Gesprächsführung, rechtliche Rahmenbedingungen) herausarbeiten, wenngleich bereits eine gewisse Sensibilität für diese Thematik besteht. Fortbildungsmaßnahmen wären sowohl in Präsenz als auch mittels E‑Learning (z. B. BASEpro) https://​base-elearning.​de/​ denkbar. Weiterer Forschungsbedarf besteht in Bezug auf die Kompetenz der Ärzt:innen im Umgang mit Kindeswohlgefährdung und Möglichkeiten, dieses zu stärken.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

K. Grau war bis 2018 als Ärztin bei der Medizinischen Kinderschutzhotline tätig. O. Berthold ist klinischer Teamleiter der Medizinischen Kinderschutzhotline. J.M. Fegert erhielt Forschungsförderungen von EU, BMG, BMBF, BMFSFJ, DFG, G‑BA Innovationsfonds, Länderministerien Baden-Württemberg und Saarland, Landesstiftung Baden-Württemberg, Ingrid & Frank Stiftung, Stiftung Deutsche Krebshilfe, Auxilium Stiftung, Vector Stiftung, Evangelische Landeskirche Baden-Württemberg, Porticus und erhielt Reisebeihilfen, Referentenhonorare, Veranstaltungs- und Ausbildungssponsoring von APK, Adenauer- und Ebertstiftung, Deutschlandfunk, DFG, DJI, DKSB, Infectopharm, med update, UNICdEF, Fachverbänden, Universitäten sowie Bundes- und Landesministerien und er war als Berater tätig für APK e. V., Universitätsklinikum des Saarlandes/Staatskanzlei, Bundes- und Landesministerien, Servier. V. Clemens war bis 2021 als Ärztin bei der Medizinischen Kinderschutzhotline tätig. L. Mayer, M. Haun, N. Lamp, A. Barzel, E. Rothermund, N. Oexle und M. Rassenhofer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Unsere Produktempfehlungen

Zeitschrift für Allgemeinmedizin

Print-Titel

  • NEU: ZFA TALKS - der Podcast für praxisrelevantes Wissen
  • Zertifizierte CME-Fortbildungen


e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

© Springer Medizin

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

e.Med Allgemeinmedizin

Kombi-Abonnement

Mit e.Med Allgemeinmedizin erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Premium-Inhalten der allgemeinmedizinischen Zeitschriften, inklusive einer gedruckten Allgemeinmedizin-Zeitschrift Ihrer Wahl.© Springer Medizin

Weitere Produktempfehlungen anzeigen
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Bertsch B (2016) Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes – wissenschaftliche Grundlagen. Ergebnisbericht zu Erhebungen im Gesundheitswesen. Deutsches Jugendinstitut, München Bertsch B (2016) Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes – wissenschaftliche Grundlagen. Ergebnisbericht zu Erhebungen im Gesundheitswesen. Deutsches Jugendinstitut, München
3.
Zurück zum Zitat Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. Juli 1956 – IV ZB 22/56 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. Juli 1956 – IV ZB 22/56
5.
Zurück zum Zitat Doidge JC, Higgins DJ, Delfabbro P, Segal L (2017) Risk factors for child maltreatment in an Australian population-based birth cohort. Child Abuse Negl 64:47–60CrossRefPubMed Doidge JC, Higgins DJ, Delfabbro P, Segal L (2017) Risk factors for child maltreatment in an Australian population-based birth cohort. Child Abuse Negl 64:47–60CrossRefPubMed
6.
Zurück zum Zitat Herrmann B, Banaschak S, Csorba R, Navratil F, Dettmeyer R (2014) Physical Examination in Child Sexual Abuse. Dtsch Ärztebl Int Herrmann B, Banaschak S, Csorba R, Navratil F, Dettmeyer R (2014) Physical Examination in Child Sexual Abuse. Dtsch Ärztebl Int
7.
Zurück zum Zitat Institut für medizinische und pharmakologische Prüfungsfragen (2013) IMPP-Gegenstandskatalog (IMPP-GK2) für den schriftlichen Teil des zweiten Abschnitts der ärztlichen Prüfung und IMPP-Gegenstandskatalog (IMPP-GK) für den zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung Institut für medizinische und pharmakologische Prüfungsfragen (2013) IMPP-Gegenstandskatalog (IMPP-GK2) für den schriftlichen Teil des zweiten Abschnitts der ärztlichen Prüfung und IMPP-Gegenstandskatalog (IMPP-GK) für den zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung
8.
Zurück zum Zitat Kuckartz U (2018) Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Grundlagentexte Methoden. Beltz Verlagsgruppe, Weinheim Kuckartz U (2018) Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Grundlagentexte Methoden. Beltz Verlagsgruppe, Weinheim
9.
Zurück zum Zitat Leeb R, Paulozzi L, Melanson C, Simon T, Areas I (2008) Child maltreatment surveillance: Uniform definitions for public health and recommended data elements, version 1.0. Atlanta (GA): Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Injury Prevention and Control Leeb R, Paulozzi L, Melanson C, Simon T, Areas I (2008) Child maltreatment surveillance: Uniform definitions for public health and recommended data elements, version 1.0. Atlanta (GA): Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Injury Prevention and Control
10.
Zurück zum Zitat Leeb RT (2008) Child Maltreatment Surveillance. Uniform Definitions for Public Health and Recommended Data Elements. Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Injury Prevention and ControlCrossRef Leeb RT (2008) Child Maltreatment Surveillance. Uniform Definitions for Public Health and Recommended Data Elements. Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Injury Prevention and ControlCrossRef
11.
Zurück zum Zitat Maguire-Jack K, Jespersen B, Korbin JE, Spilsbury JC (2021) Rural Child Maltreatment: A Scoping Literature Review. Trauma Violence Abuse 22(5):1316–1325CrossRefPubMed Maguire-Jack K, Jespersen B, Korbin JE, Spilsbury JC (2021) Rural Child Maltreatment: A Scoping Literature Review. Trauma Violence Abuse 22(5):1316–1325CrossRefPubMed
12.
Zurück zum Zitat Maier A, Fegert JM, Hoffmann U (2022) “An uncomfortable topic”: Health professionals’ perspectives on child protection capacities, training offers and the potential need for action in Germany. BMC Health Serv Res 22(1):571CrossRefPubMedPubMedCentral Maier A, Fegert JM, Hoffmann U (2022) “An uncomfortable topic”: Health professionals’ perspectives on child protection capacities, training offers and the potential need for action in Germany. BMC Health Serv Res 22(1):571CrossRefPubMedPubMedCentral
13.
Zurück zum Zitat Rassenhofer M (2020) Die Folgen von Kindesmisshandlung und ihre psychotherapeutische Behandlung: Eine praxisorientierte Übersicht. Z Psychiatr Psychol Psychother 68(1):5–15 Rassenhofer M (2020) Die Folgen von Kindesmisshandlung und ihre psychotherapeutische Behandlung: Eine praxisorientierte Übersicht. Z Psychiatr Psychol Psychother 68(1):5–15
14.
Zurück zum Zitat Schmitz M, Rothermund E, Bekavac-Günther I, Barzel A, Schwill S, Clemens V, Fegert JM, Grau K, Gündel H, Haun M, Lamp N, Lloret B, Mayer L, Rassenhofer M, Schneider I, Herpertz SC, Oexle N (2023) Psychosoziale Themen in der Hausarztpraxis. Nervenheilkunde 42(10):696–701CrossRef Schmitz M, Rothermund E, Bekavac-Günther I, Barzel A, Schwill S, Clemens V, Fegert JM, Grau K, Gündel H, Haun M, Lamp N, Lloret B, Mayer L, Rassenhofer M, Schneider I, Herpertz SC, Oexle N (2023) Psychosoziale Themen in der Hausarztpraxis. Nervenheilkunde 42(10):696–701CrossRef
15.
Zurück zum Zitat Schomerus G, Schindler S, Rechenberg T, Gfesser T, Grabe HJ, Liebergesell M, Sander C, Ulke C, Speerforck S (2021) Stigma as a barrier to addressing childhood trauma in conversation with trauma survivors: A study in the general population. PLoS ONE 16(10):e258782CrossRefPubMedPubMedCentral Schomerus G, Schindler S, Rechenberg T, Gfesser T, Grabe HJ, Liebergesell M, Sander C, Ulke C, Speerforck S (2021) Stigma as a barrier to addressing childhood trauma in conversation with trauma survivors: A study in the general population. PLoS ONE 16(10):e258782CrossRefPubMedPubMedCentral
16.
Zurück zum Zitat Schwier F, Manjgo P, Kieslich M (2019) Neue Entwicklungen im medizinischen Kinderschutz. Monatsschr Kinderheilkd 167(10):856–867CrossRef Schwier F, Manjgo P, Kieslich M (2019) Neue Entwicklungen im medizinischen Kinderschutz. Monatsschr Kinderheilkd 167(10):856–867CrossRef
17.
Zurück zum Zitat Sethi D (Hrsg) (2013) European report on preventing child maltreatment. World Health Organization, Regional Office for Europe Sethi D (Hrsg) (2013) European report on preventing child maltreatment. World Health Organization, Regional Office for Europe
19.
Zurück zum Zitat Witt A, Brown RC, Plener PL, Brähler E, Fegert JM (2017) Child maltreatment in Germany: prevalence rates in the general population. Child Adolesc Psychiatry Ment Health 11:47CrossRefPubMedPubMedCentral Witt A, Brown RC, Plener PL, Brähler E, Fegert JM (2017) Child maltreatment in Germany: prevalence rates in the general population. Child Adolesc Psychiatry Ment Health 11:47CrossRefPubMedPubMedCentral
Metadaten
Titel
Kindeswohlgefährdung: (k)ein Thema!?
Explorative Untersuchungen zu Awareness, Herausforderungen und Fortbildungsbedarfen bezüglich des Kinderschutzes in der hausärztlichen Praxis
verfasst von
Dr. Katharina Grau
Lea Mayer
Maria Haun
Natalie Lamp
Oliver Berthold
Anne Barzel
Jörg M. Fegert
Eva Rothermund
Nathalie Oexle
Vera Clemens
Miriam Rassenhofer
Publikationsdatum
11.09.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Zeitschrift für Allgemeinmedizin
Print ISSN: 1433-6251
Elektronische ISSN: 1439-9229
DOI
https://doi.org/10.1007/s44266-024-00284-8

Kompaktes Leitlinien-Wissen Allgemeinmedizin

Mit medbee Pocketcards schnell und sicher entscheiden.
Leitlinien-Wissen kostenlos und immer griffbereit auf ihrem Desktop, Handy oder Tablet.

Facharzt-Training Allgemeinmedizin

Vorbereitungskurs zur Facharztprüfung Allgemeinmedizin

Die ideale Vorbereitung zur anstehenden Prüfung mit den ersten 70 von 100 klinischen Fallbeispielen verschiedener Themenfelder.

Kostenfrei für DEGAM-Mitglieder.

Mehr erfahren

Neu im Fachgebiet Allgemeinmedizin

Zu wenig Blutdruckkontrollen, schlechte Therapie-Compliance

Die derzeitigen Strategien zur Blutdruckkontrolle sind zu unwirksam. Die Herausforderung besteht darin, den Blutdruck in den westlichen Ländern effektiver zu kontrollieren und die Therapietreue zu verbessern.

Auch Sonntagssportler beugen mehr als 200 Erkrankungen vor

Unter der Woche regelmäßig körperlich aktiv zu sein, fällt vielen Menschen schwer, meistens findet Sport am Wochenende statt. Solange das empfohlene Aktivitätsvolumen erreicht wird, scheint das die präventive Wirkung nicht zu schmälern.

Langzeitinjektion statt täglicher Blutdruckmedikation?

Eine neue Therapie auf Basis der siRNA-Technologie ermöglicht es, das Renin-Angiotensin-System (RAS) durch eine einzige Injektion für mehrere Monate zu hemmen und so den Blutdruck langfristig zu senken. Diese Methode verbessert die Therapietreue und beugt Organschäden vor.

Problematische Verordnungskaskaden im ambulanten Bereich

Verordnungskaskaden können den Nettonutzen einer Therapie gefährden. Ein Forschungsteam aus den Niederlanden hat untersucht, welche dieser problematischen Verordnungskaskaden für den ambulanten Bereich relevant sind.

EKG Essentials: EKG befunden mit System

In diesem CME-Kurs können Sie Ihr Wissen zur EKG-Befundung anhand von zwölf Video-Tutorials auffrischen und 10 CME-Punkte sammeln.
Praxisnah, relevant und mit vielen Tipps & Tricks vom Profi.

Update Allgemeinmedizin

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.