Methoden
Medizinische Kinderschutzhotline
Im Rahmen der telefonischen Beratung wurden durch die Beratenden Angaben, z. B. zu Beratungsanliegen der Anrufenden (wie Fragen zu Befunden oder zur Gesprächsführung), mittels eines webbasierten Dokumentationsrasters in Form von auswählbaren Kategorien erfasst. Diese Daten wurden für die Teilstichprobe ambulant tätiger Ärzt:innen in den Bereichen Innere Medizin und Allgemeinmedizin mittels SPSS Statistics for Windows (IBM, Armonk, NY, USA) deskriptiv ausgewertet. Eingeschlossen wurden Anrufe aus dem Zeitraum 01.07.2017 bis 31.12.2021.
Qualitative Interviews
Die qualitative Erhebung erfolgte im Rahmen eines Needs-Assessments in der oben beschriebenen Studie BASEpro. Zur Unterstützung der Entwicklung des E‑Learning-Curriculums wurden im Vorfeld qualitative, semistrukturierte Interviews mit in der Allgemeinmedizin tätigen Ärzt:innen zu psychosozialen Problemen in der Hausarztpraxis, darunter Kindeswohlgefährdung, Suizidalität, Probleme in der Partnerschaft und Sexualität sowie arbeitsbezogene Problemlagen, durchgeführt. In der vorliegenden Studie werden Ergebnisse zum Thema Kinderschutz präsentiert. Ergebnisse zu den Themen Suizidalität und arbeitsbezogene Problemlagen werden aktuell zur Veröffentlichung vorbereitet. Im Hinblick auf Kindeswohlgefährdung enthielt der Leitfaden 3 Fragen zu den Erfahrungen und den Umgang mit Kinderschutzfällen in der Hausarztpraxis („Wissen Sie, ob ihre Patient:innen minderjährige Kinder haben?“, „Hatten Sie schon einmal die Sorge, dass ein minderjähriges Kind aus der Familie eines Patienten oder einer Patientin vernachlässigt, misshandelt oder [sexuell] missbraucht wird bzw. wurde?“, „Welche Schwierigkeiten als Behandler:in erleben Sie hier?“).
Einschlusskriterien für die Teilnahme war eine ärztliche Tätigkeit in der hausärztlichen Versorgung mit abgeschlossener oder aktuell erfolgender Facharztweiterbildung in Allgemeinmedizin bzw. Innere Medizin mit Schwerpunkt der hausärztlichen Tätigkeit.
Potenzielle Teilnehmende wurden in Kooperation mit dem Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Ulm identifiziert und persönlich, per E‑Mail oder Telefon kontaktiert. Zudem wurden Teilnehmende gebeten, die Studieninformationen an potenziell Interessierte weiterzuleiten („snowball sampling“). Interessierte Personen (N = 21) meldeten sich bei Studienmitarbeiterinnen, wurden über Studienziel und -ablauf aufgeklärt und konnten nach schriftlicher Einverständniserklärung einen Interviewtermin vereinbaren (n = 15). Mit 6 Interessierten konnte kein zeitnaher Termin gefunden werden, weshalb diese nicht in die Studie eingeschlossen werden konnten.
Bei der Auswahl der Teilnehmenden wurde auf Heterogenität bezüglich Geschlechts, Alter, Berufserfahrung und Versorgungsgebiet geachtet. Da es Ziel der qualitativen Studie war, einen ersten Eindruck zu den Erfahrungen und Herausforderungen mit verschiedenen psychosozialen Themen in der Hausarztpraxis zu gewinnen, wurde die Rekrutierung nach Durchführung von 15 Interviews beendet. Zwei Studienmitarbeiterinnen (LM, MH) führten die Interviews zwischen August und November 2021 mithilfe der Videoplattform Zoom durch. Die Interviews dauerten zwischen 13 und 44 min (M = 23 min). Als Aufwandsentschädigung erhielten alle Teilnehmenden einen Wertgutschein über 100 €, der bei unterschiedlichen Onlineanbietern eingelöst werden konnte.
Alle Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und anonymisiert. Anschließend erfolgte die Auswertung mithilfe der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltanalyse nach Kuckartz [
8] durch 2 Datenkodiernde (LM, MH). Deduktive Kategorien („Häufigkeit“, „Vorgehen“, „Herausforderungen“) ergaben sich aus den Fragen des Leitfadens. Induktive Kategorien („Unwohlsein“, „Kompetenz“) wurden anhand des Interviewmaterials gebildet. Aufkommende inhaltlich-interpretatorische Diskrepanzen wurden diskutiert und konsentiert. Sämtliche Analysen wurden mithilfe von MAXQDA 20 (VERBI Software GmbH, Berlin, Deutschland) durchgeführt.
Aufgrund der Datenschutzkonzepte beider Studien und der Gestaltung der Einwilligungserklärungen für die qualitativen Interviews können die erhobenen Daten jeweils nicht frei zur Verfügung gestellt werden.
Diskussion
Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel, die wahrgenommene Kompetenz und Erfahrungen von hausärztlich tätigen Ärzt:innen im Umgang mit Fällen von Kindeswohlgefährdung zu untersuchen. Auswertungen qualitativer Interviews sowie von Anrufen der Medizinischen Kinderschutzhotline ergaben hierbei ein heterogenes Bild bezüglich Berührungspunkte mit dieser Thematik im hausärztlichen bzw. allgemeinmedizinischen Behandlungsalltag. Insgesamt bildeten sich übergreifend Unsicherheiten bezüglich des Erkennens einer kinderschutzrelevanten Situation sowie hinsichtlich weiterer Handlungsschritte bei (vermuteter) Kindeswohlgefährdung ab.
Grundsätzlich ist im Hinblick auf Daten bevölkerungsrepräsentativer Stichproben, in denen bis zu 42,2 % der Befragten retrospektiv berichten, eine Form der Kindesmisshandlung in zumindest leichter Ausprägung erlebt zu haben [
19], zu vermuten, dass in der Primärversorgung tätige Ärzt:innen mit einer hohen Zahl an Fällen von potenzieller Kindeswohlgefährdung in Berührung kommen. Zwar machte der Anteil der Anrufe bei der Medizinischen Kinderschutzhotline durch Ärzt:innen in den Gebieten Allgemeinmedizin und Innere Medizin nach Anrufen von Ärzt:innen aus den Bereichen der Kinder- und Jugendmedizin und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie die drittgrößte Gruppe der Anrufe aus dem ambulanten ärztlichen Setting aus, jedoch ist die absolute Anzahl der Anrufe (
N = 59) vergleichsweise gering.
Die Häufigkeiten der in den Gesprächen vermuteten Misshandlungsformen stehen im Einklang zu den Ergebnissen einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage, in der ebenfalls für körperliche Vernachlässigung die höchste Prävalenz gezeigt werden konnte, gefolgt von emotionaler Vernachlässigung [
19]. Wichtig zu erwähnen ist hier, dass Vernachlässigung in der Praxis häufig schwerer zu operationalisieren ist bzw. körperliche Misshandlung in ihrer Akuität als gravierender wahrgenommen wird und entsprechend eher zu einem Tätigwerden führt.
Im Rahmen der qualitativen Interviews ergab sich, dass die Befragten in ihrem Berufsalltag überwiegend keinen bis wenig Kontakt mit Kindeswohlgefährdung erlebten. Teilweise wurde dies seitens der Interviewten damit begründet, dass in der jeweiligen Praxis keine Kinder behandelt werden. Der Aspekt, dass Kinderschutz auch in der Behandlung von Erwachsenen bedeutsam werden kann, wurde von den Interviewten nicht genannt und kann auf eine mangelnde Awareness bezüglich dieser Thematik und Perspektive hinweisen. Kontrastierend hierzu zeigte sich in den Daten aus der Medizinischen Kinderschutzhotline, dass etwa die Hälfte der hier ausgewerteten Anrufe durch die Behandlung von Erwachsenen ausgelöst wurden.
Maier et al. konnten anhand eines Kollektivs von Ärzt:innen und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, deren quantitativ stärkster Anteil in den Feldern der Kinder- und Jugendmedizin bzw. Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt war, zeigen, dass Kinderschutz im medizinischen Bereich noch wenig präsent ist [
12], sodass dies ein fächerübergreifendes Phänomen, und nicht spezifisch für das hausärztliche Feld, zu sein scheint.
In den Interviews wurden teilweise implizite Annahmen über das Auftreten von Kindeswohlgefährdung in Bezug auf Urbanisierung und sozioökonomischen Status erkennbar. Valide Daten für Deutschland zum Zusammenhang zwischen Kindeswohlgefährdung und Urbanisierung sind den Autor:innen nicht bekannt, für die USA liegen heterogene Daten [
11] vor. Ein niedrigerer sozioökonomischer Status wird in der Literatur als Risikofaktor für Kindesmisshandlung benannt [
4,
5], gleichzeitig zeigt die Erfahrung von Einrichtungen wie den Berliner Kinderschutzambulanzen, dass alle Misshandlungsformen in sämtlichen Einkommens- und Bildungsgruppen auftreten (unveröffentlichte Daten). Implizite Annahmen über das Auftreten von Kindeswohlgefährdung können einen Einfluss auf die Awareness von Ärztinnen und Ärzten bezüglich dieser Thematik haben.
Die Ergebnisse der qualitativen Interviews erweisen, dass das eigene Wissen zur Thematik des Kinderschutzes als gering eingeschätzt wird. Als möglicher Grund wird hier das Fehlen der Thematik in Studium und Weiterbildung genannt. Dies kann auch damit in Zusammenhang gebracht werden, dass mit dem neuen Gegenstandskatalog, der erst ab dem Jahr 2022 Gültigkeit erhielt, kinderschutzrelevante Aspekte im Medizinstudium erstmals als verpflichtender Inhalt aufgenommen wurden [
7]. Die aktuelle Musterweiterbildungsordnung Allgemeinmedizin sieht bis dato keine für die Erlangung der Facharztbezeichnung erforderlichen, explizit benannten Kompetenzen im Bereich des Kinderschutzes [
2] vor. Gleichzeitig ist der Kinderschutz aus Sicht der Autor:innen bereits auch u. a. unter den Weiterbildungsinhalten zu Prävention zu sehen und sollte dringend vermittelt werden. Wichtig anzumerken ist, dass es jedoch in den letzten beiden Dekaden zunehmende Entwicklungen im Bereich des medizinischen Kinderschutzes gibt [
6], nicht zuletzt mit der Zertifizierungsmöglichkeit durch die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) zum „Kinderschutzmediziner“ und der Verabschiedung der AWMF-S3-Kinderschutzleitlinie [
16].
Der Ergebnisbericht des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zu Erhebungen im Gesundheitswesen zur Wirkung des Bundeskinderschutzgesetzes zeigt, dass bis zum Erhebungszeitpunkt von übergeordneten Organisationen im Gesundheitswesen (wie Ärztekammern und Fachgesellschaften) ihre Mitglieder teils nur unregelmäßig über kinderschutzrelevante Themen informiert wurden [
1]. Da diese Organisationen als wichtige Disseminatoren hinsichtlich neuer Entwicklungen im Kinderschutz anzusehen sind, sei auf diese bedeutende Lücke in der Verbreitung relevanten Wissens hingewiesen, was ebenfalls eingeschränkte Kenntnisse zu der Thematik – auch bei Ärzt:innen, deren Aus- und Weiterbildung schon längere Zeit zurückliegt – erklären kann.
Im Rahmen der qualitativen Interviews wurde betont, dass das fehlende Wissen um das Thema Kindesmisshandlung häufig mit einem Gefühl des Unwohlseins und der Unsicherheit einhergehe. Gefühle dieser Art können möglicherweise zur Hemmung von Awareness und Tätigwerden in Bezug auf Kindesmissbrauch beitragen. Hierzu wären ergänzende Untersuchungen sinnvoll, welche Faktoren an der Evozierung dieser Emotionen beteiligt sind und ob durch Wissensvermittlung diese gemindert werden können. Im Rahmen eines Interviews wurde dazu geäußert, dass keine subjektive Kompetenz trotz besuchter Weiterbildung zur Kinderschutzthematik erlebt werde. Dies stellt möglicherweise auf die Erfordernisse vertiefender Fortbildungsangebote ab, wenngleich offen bleibt, in welchem Umfang sich die Teilnehmende fortgebildet hatte.
Die in den Interviews geschilderten Herausforderungen im Umgang mit Kindeswohlgefährdung sind mit den häufigsten Beratungsanlässen bei der Medizinischen Kinderschutzhotline in Einklang zu bringen und implizieren einen Fortbildungsbedarf in den Bereichen Erkennen von Kindeswohlgefährdung, Gesprächsführung und rechtliche Kenntnisse sowie Versorgungsangebote innerhalb und außerhalb des medizinischen Systems.
Das DJI benennt, dass eine fehlende Integration des Kinderschutzes in die berufliche Identität mancher Akteure im medizinischen System auch mitbedingen könnte, dass die Auseinandersetzung mit Neuerungen im Kinderschutzbereich eventuell von diesen als nicht relevant erlebt werden [
1]. Zudem ergaben sich im Ergebnisbericht des DJI Hinweise, dass die Gültigkeit des Bundeskinderschutzgesetzes teilweise eher für die Jugendhilfe gesehen wird. Ähnliches berichten Teilnehmende der Interviews und sehen die (Haupt‑)Verantwortlichkeit für Kindeswohlgefährdung nicht in der hausärztlichen Versorgung. Gleichsam benennt das Bundeskinderschutzgesetz keine expliziten Facharztgruppen bzw. schließt keine Gruppe aus.
Interessanterweise wurde das Thema der Finanzierung der ärztlichen Leistungen im Kinderschutz in den durchgeführten Interviews als mögliches Hemmnis oder relevanter Hebel bezüglich des eigenen Tätigwerdens nicht genannt, wenngleich nicht gezielt danach gefragt wurde. Es ist nicht zu vernachlässigen, dass der individuelle Kinderschutzfall, u. a. durch Gesprächsführung und Kooperation, sowie die grundsätzliche fallunabhängige Vernetzung durchaus erhebliche Ressourcen bindet. Ein möglicher Grund für eine fehlende spontane Nennungen könnte sein, dass dieser Faktor durch eher geringe Awareness oder erlebte Konfrontation mit der Thematik noch nicht reflektiert wurde oder zum Tragen kam. Gleichzeitig könnte dies auch als mögliches Tabuthema diskutiert werden.
Limitationen der vorliegenden Arbeit liegen in der geringen Anzahl der Befragten. Zwar lag bezüglich des qualitativen Needs-Assessments ein balanciertes Sample vor, allerdings ist nicht auszuschließen, dass sich primär Ärzt:innen, die grundsätzlich Interesse an psychosozialen Themen haben bzw. sensibel für diese Thematik sind, für die Teilnahme an der Befragung bereiterklärt haben. Etwaige Effekte könnten durch „snowball sampling“ verstärkt worden sein. Unter Umständen können Ärzt:innen, die über weniger zeitliche Ressourcen verfügen, im Befragtenkollektiv aufgrund terminlicher Aspekte des Studiendesigns unterrepräsentiert sein.
Auch können seitens der absoluten und relativen Häufigkeit der Anrufe bei der Medizinischen Kinderschutzhotline nur eingeschränkt Aussagen über die Awareness hausärztlich tätiger Ärztinnen und Ärzte gemacht werden, da unklar ist, inwiefern das Beratungsangebot der Medizinischen Kinderschutzhotline im hausärztlichen bzw. grundsätzlich im ärztlichen Versorgungsalltag bekannt ist. Zwar sprach eine Teilnehmende in dem Interview von „Gewalthotlines“, die sie kenne; hier ließ sich nicht nachvollziehen, um welches Beratungsangebot es sich konkret handelte. Darüber hinaus könnte es auch sein, dass ein Anruf bei der Medizinischen Kinderschutzhotline als nicht notwendig erlebt wird, z. B. weil ausreichendes Handlungswissen vorhanden ist oder andere, z. B. lokale Beratungsangebote in Anspruch genommen werden. Außerdem erfolgte bei der Kategorisierung der anrufenden Ärzt:innen, die internistisch tätig sind, keine Unterscheidung, ob diese in einer hausärztlichen Praxis oder einem anderen Feld tätig sind. Dies kann entsprechend dazu führen, dass auch Anrufe aus einem internistischen Behandlungssetting in die Auswertung mit einflossen und damit die resultierenden Aussagen teilweise hinsichtlich ihrer Validität schmälern. Des Weiteren wurden die anrufenden Ärzt:innen nicht explizit nach ihren Fortbildungsbedarfen befragt, sodass Beratungsinhalte lediglich als Hinweise für mögliche Fortbildungserfordernisse gesehen werden können.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.