Kinder psychisch erkrankter Eltern haben ein erhöhtes Risiko für eigene psychische Belastungen (Thorup et al.
2018), das durch das Erleben von Misshandlung und Vernachlässigung nochmals erhöht wird (Christiansen et al.
2015). Weltweit wird geschätzt, dass ca. 15–23 % aller Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen (Leijdesdorff et al.
2017). Diese Kinder stellen somit eine besonders vulnerable und präventionsrelevante Gruppe dar. Insbesondere die psychiatrische Regelversorgung der Eltern bietet Möglichkeiten, diese Kinder frühzeitig zu identifizieren (Wiegand-Grefe et al.
2011).
Hintergrund
Bei 2 Untersuchungen im deutschsprachigen Raum zeigte sich, dass in der Psychiatrie tätige Fachkräfte zwar in der Mehrheit angaben zu wissen, ob ihre Patient:innen Kinder haben (Franz et al.
2012) und auch Angaben zu Alter und aktueller Versorgungssituation der minderjährigen Kinder machen konnten (Wlodarczyk et al.
2017). Allerdings wurde eine wichtige Barriere bei der Versorgung der betroffenen Kinder deutlich, indem die Mehrheit des befragten Fachpersonals angab, überhaupt nur „selten“ direkten Kontakt zu den Kindern seiner Patient:innen zu erhalten. Bei deren Unterstützung nannten die Befragten als strukturelle Hindernisse hauptsächlich hohe Arbeitsbelastung, knappe Ressourcen und individualisierte Behandlung, mit Fokus auf das erkrankte Elternteil. In einem internationalen Review präsentierten Maybery und Reupert (
2009) verschiedene Lösungsvorschläge, um den systematischen Barrieren bei der Unterstützung von Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu begegnen. Dabei betonten sie die Notwendigkeit, einen Screeningprozess, der minderjährige Kinder systematisch identifiziert und deren evtl. (Behandlungs‑)Bedarf erfasst, in psychiatrische Kliniken zu integrieren.
Aus Sicht der betroffenen Eltern zeigen sich ebenfalls Barrieren für die Inanspruchnahme von Hilfen: Eltern geben an, sich von der eigenständigen Organisation unterstützender Hilfsmaßnahmen für die Familie belastet zu fühlen (Schmid et al.
2008), wünschen sich jedoch häufig Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten für ihre Kinder (Kühnis et al.
2016). Zudem brechen Eltern indizierte stationäre Behandlungen ab oder treten diese nicht an, da sie ihre Kinder nicht ausreichend versorgt sehen (Kühnis et al.
2016). Aus diesen Gründen gilt es, besonders frühzeitig präventive und unterstützende Angebote für betroffene Familien zu ermöglichen, um die Bedürfnisse psychisch erkrankter Eltern zu adressieren und den weitreichenden negativen Folgen für ihre Kinder vorzubeugen.
Eine Möglichkeit, diese Barrieren zu überwinden und den Versorgungsbedarf der betroffenen Kinder zu identifizieren, stellt die Implementierung von systematischen Screenings dar, die sowohl psychische Belastungen der Kinder als auch das Vorhandensein von familiären Risiko- und Belastungsfaktoren, Misshandlung und Vernachlässigung feststellen. So können eine umfassende Beurteilung des psychosozialen Unterstützungsbedarfs dieser Kinder und der Familie erfolgen und somit Ansatzpunkte für Prävention und Intervention aufgezeigt werden. Aufgrund der berichteten Barrieren und begrenzten Ressourcen sollten diese Screenings möglichst ökonomisch und dennoch sensitiv betroffene Kinder identifizieren und deren Behandlungs- und Unterstützungsbedarf evaluieren. Eine direkte Befragung der Eltern stellt eine vielversprechende Möglichkeit dar, diesen Bedarf zu adressieren.
Im deutschsprachigen Raum existieren bisher nach Kenntnis der Autorinnen des vorliegenden Beitrags keine zielgruppenspezifischen Screeningverfahren in Form von Elternfragebogen, die eine systematische Abfrage des psychosozialen Unterstützungsbedarfs von Kindern psychisch erkrankter Eltern auf ökonomische und zugleich valide Art erlauben. In vorhandenen Screenings zu psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen (u. a. Döpfner et al.
2014; Klasen et al.
2003) werden weitere Belastungsbereiche und Risikofaktoren dieser Familien nicht berücksichtigt. Eine flankierende Erfassung familiärer Risiko- und Belastungsfaktoren sowie von Hinweisen auf Misshandlung und Vernachlässigung in der Familie ist jedoch wesentlich, um den psychosozialen Unterstützungsbedarf der Familie umfassend beurteilen zu können und die Einleitung entsprechender Hilfen zu ermöglichen. Während für den deutschen Sprachraum verschiedene, z. T. validierte Fragebogen- und Interviewverfahren zur Erfassung familiärer Risiko- und Belastungsfaktoren sowie von Misshandlung und Vernachlässigung vorliegen (White et al.
2021), sind diese aus inhaltlicher und methodischer Sicht für ein Screening nur bedingt geeignet. Inhaltlich erfassen die beiden vorhandenen deutschsprachigen Fragebogen nur die elterliche Belastung (Eltern-Belastungs-Screening zur Kindeswohlgefährdung: Deegener et al.
2009; Eltern-Belastungs-Inventar: Tröster
2010), sodass weitere Risikofaktoren sowie das Vorkommen von Misshandlung und Vernachlässigung im Sinne von „adverse childhood experiences“ (ACE; Barnett et al.
1993) nicht abgedeckt werden. Zur direkten Erfassung von Misshandlung und Vernachlässigung liegen wiederum Instrumente in Form von zeitintensiven Fragebogen und semistrukturierten Interviews vor (z. B. Belastende Kindheitserfahrungen, KERF, Isele et al.
2014; Childhood Trauma Questionnaire, CTQ, Bernstein et al.
2003), die nun beide erstmalig für den deutschsprachigen Elternbericht adaptiert wurden (Calvano et al.
2021; Eich
2021). Weiterhin existiert eine deutschsprachige Version (Horlich et al.
2014) des Maternal Interview Child Maltreatment (MICM; Cicchetti et al.
2003). Allerdings sind die genannten Interviews und Fragebogen sehr zeitintensiv, weshalb sie für Screeningzwecke weniger geeignet sind, und nicht spezifisch für die Zielgruppe der psychisch erkrankten Eltern entwickelt. Zusätzlich ist eine direkte Befragung der Kinder z. B. mithilfe spezifischer Interviews bzw. Fragebogen (z. B. Juvenile Victimization Questionnaire, JVQ; Hamby et al.
2005) in der Versorgung psychiatrisch erkrankter Eltern aufgrund systematischer Barrieren schwer zu realisieren (Maybery und Reupert
2009). Eine kurze, direkte Elternbefragung, die zudem als weniger schulungs- und ressourcenintensiv für Behandelnde zu bewerten ist, stellt somit einen vielversprechenden Screeningansatz für die Zielgruppe der Kinder der psychisch erkrankten Eltern dar.
Um diesen Bedarf zu adressieren, wurden Screenings für sowohl psychische Auffälligkeiten der Kinder als auch für familiäre Risiko- und Belastungsfaktoren unter Berücksichtigung der genannten Aspekte spezifisch für die Gruppe Kinder psychisch erkrankter Eltern im Rahmen der deutschlandweiten Multizenterstudie „Children of mentally ill parents-network“ (CHIMPS-NET; Wiegand-Grefe et al.
in Vorbereitung) entwickelt, einer Folgestudie des CHIMPS-Projekts (Wiegand-Grefe et al.
2021).
Diskussion
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Entwicklung und erste Pilotierung spezifischer Screenings vorzustellen, die es ermöglichen, einen evtl. Unterstützungsbedarf bei Kindern psychisch erkrankter Eltern frühzeitig zu identifizieren. Es wurden 2 Screeningverfahren, das „Kinderscreening“ und das „Familienscreening“ für Kinder psychisch erkrankter Eltern entwickelt, die im Sinne einer primären und sekundären Prävention eine systematische Abfrage des psychosozialen Behandlungs- und Unterstützungsbedarfs der betroffenen Kinder auf ökonomische und zugleich valide Art erlauben (Maybery und Reupert
2009). Die Screenings sind als jeweils einseitige Elternfragebögen entwickelt. Dies ermöglicht, erste Informationen über minderjährige Kinder und ihren Unterstützungsbedarf auf sehr zeiteffiziente Weise zu erhalten, ohne dass Behandelnde in der Psychiatrie direkten Kontakt zu den Kindern herstellen müssen, was sich in der Vergangenheit als schwierig gezeigt hatte (Wlodarczyk et al.
2017). Zudem erhalten Behandelnde bei beiden Screenings eine Empfehlung, inwieweit und mit welcher Dringlichkeit Maßnahmen eingeleitet werden sollten. Damit soll den bestehenden, systematischen Barrieren begegnet werden, die eine effektive und frühzeitige Identifizierung von belasteten Kindern psychisch erkrankter Eltern und deren Behandlungsbedarf im Rahmen der psychiatrischen Versorgungssituation erschweren (Franz et al.
2012). Eine frühzeitige Identifizierung des Unterstützungsbedarfes betroffener Kinder erscheint besonders relevant, da präventive Interventionen das Risiko für die Entwicklung eigener psychischer Probleme bei betroffenen Kindern um bis zu 40 % verringern könnten (Leijdesdorff et al.
2017).
Die Ergebnisse der vorliegenden Pilotstudie ergeben zusammenfassend für das Kinderscreening in der Version für die 6‑ bis 18-jährigen Kinder in der untersuchten Stichprobe eine gute Sensitivität im ersten Cut off („gelbe Ampel“) und eine gute Spezifität für den zweiten Cut off („rote Ampel“), entsprechend den Empfehlungen für Screeninginstrumente (Michel et al.
2014). Da es sich jedoch um erste, vorläufige Ergebnisse aus einer kleinen Stichprobe (
n = 22/
n = 22) handelt, muss die Güte des Screenings in einer größeren, möglichst repräsentativen Stichprobe überprüft werden. Aktuell wird der Fragebogen innerhalb der Studie CHIMPS-NET eingesetzt, im Verlauf mit externen Kriterien validiert und ggf. überarbeitet. Zusätzlich wird eine Version für den Altersbereich 3 bis 5 Jahre entwickelt.
Für das Familienscreening erfolgt aktuell in CHIMPS-NET eine externe Validierung sowohl durch die Angaben der Eltern zu Misshandlung und traumatischen Lebenserfahrungen ihrer Kinder als auch durch eine Experteneinschätzung der Familientherapeut:innen zum Vorhandensein einer Kindeswohlgefährdung. Bisher liegen nur erste, vorläufige Pilotdaten vor, die im Rahmen der Fragebogenentwicklung in einer kleinen Risikostichprobe in der Kinderschutzambulanz der Charité – Universitätsmedizin erhoben wurden und noch nicht quantitativ berücksichtigt werden können.
Im Vergleich zu bisherigen Screeninginstrumenten (u. a. Döpfner et al.
2014; Deegener et al.
2009) wurde aufgrund der hochbelasteten Zielgruppe in der Entwicklung beider Screenings auf eine möglichst ökonomische und übersichtliche Form Wert gelegt, wobei trotzdem alle im Kindes- und Jugendalter klinisch relevanten Problembereiche erfragt werden. Weiterhin wurde in den Formulierungen auf eine verständliche und entstigmatisierende Sprache geachtet, um betroffenen Eltern den Zugang zu Hilfsangeboten zu erleichtern. Außerdem wurde versucht, die elterliche Akzeptanz des Screenings durch den Fokus auf die Ressourcen zu unterstützen. Zusätzlich wird im Kinderscreening der Wunsch nach Unterstützung der Eltern erfragt, weil sich psychisch erkrankte Eltern häufiger Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten wünschen, als sie diese in ihrer Behandlung erhalten (Kühnis et al.
2016). Dadurch erhalten die Behandelnden eine erste, wertschätzende Möglichkeit, mit dem Elternteil ins Gespräch zu kommen.
In Bezug auf das Familienscreening wurde angestrebt, angelehnt an vergleichbare klinische Interviews durch eine wertschätzende Einleitung möglichen Ängsten der Eltern vor einer Diskriminierung frühzeitig zu begegnen. Der Vorteil beider Screenings besteht darin, dass Behandelnde der Psychiatrie auf ökonomische Weise eine erste Einschätzung zum Behandlungs- und Unterstützungsbedarf der Familien ihrer Patient:innen erhalten.
Als Limitation ist zu nennen, dass die hier beschriebenen Screenings sich noch im Prozess der Validierung befinden, und aus diesem Grund eine abschließende Beurteilung bezüglich der Gütekriterien und der praktischen Nützlichkeit erst nach deren Abschluss vorgenommen werden kann. So steht auch der Vergleich mit bereits etablierten Screeningverfahren sowie mit Verfahren zur Erfassung von Misshandlung und Vernachlässigung noch aus. In der weiteren Validierung in größeren Stichproben sind auch mögliche Subskalen genauer zu überprüfen. Weiterhin beruhen die berechneten Cut offs auf kleinen Stichproben und sind somit noch als vorläufig zu betrachten. Hier muss einschränkend auch die niedrigere Sensitivität zum auffälligen Bereich im Kinderscreening beachtet werden. Dieser steht eine hohe Sensitivität für den grenzwertigen Bereich (Ampelstufe „gelb“) entgegen, sodass Fälle mit Handlungsbedarf trotzdem früh identifiziert werden. Dennoch sollten die Cut-off-Scores in größeren Stichproben überprüft werden. Außerdem muss der Aspekt der sozialen Erwünschtheit kritisch diskutiert werden. Es hat sich in verschiedenen Untersuchungen gezeigt, dass hochbelastete Eltern nicht alle Vorfälle von Misshandlung oder Vernachlässigung gegenüber ihren Kindern offenlegen (z. B. Albermann, Wiegand-Grefe und Winter
2019). Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen, z. B. aus Angst vor weiteren Konsequenzen und evtl. auch aus fehlender Bewusstheit gegenüber dem eigenen, elterlichen Verhalten. Ob trotzdem eine ausreichende Sensitivität, v. a. im Familienscreening, erreicht werden kann, muss im weiteren Verlauf mithilfe externer Kriterien überprüft werden. Hierbei muss auch weiter untersucht werden, ob möglicherweise weitere familiäre Risikofaktoren wie z. B. Stresserleben der Eltern, Konflikte in der Paarbeziehung oder Wechsel von Bezugspersonen bedeutsam für die Vorhersage eines Unterstützungsbedarfs sind.
Im weiteren Verlauf ist geplant, die Screenings nach abschließender Validierung systematisch in der psychiatrischen Versorgung erkrankter Erwachsener einzusetzen. Dadurch kann eine wichtige Versorgungslücke geschlossen werden, indem bei Behandlungs- und Unterstützungsbedarf möglichst frühzeitig Maßnahmen für betroffene Familien eingeleitet werden. Dafür sind Netzwerkarbeit sowie inter- und transdisziplinäre Kooperationen von enormer Wichtigkeit. Für die Versorgung der Kinder psychisch erkrankter Eltern besteht daher verstärkt die Notwendigkeit eines sektorenübergreifenden Austausches zwischen Fachpersonal der Psychiatrie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Kinder- und Jugendhilfe. Bewährte Netzwerke können genutzt und neue Kooperationen etabliert werden, um Familien möglichst frühzeitig präventive Unterstützung zukommen zu lassen. Diese sektorenübergreifende Kooperation wird als ein wesentliches Ziel neuer Formen in der medizinischen Versorgung gesehen. Dafür sind jedoch auch zusätzliche Ressourcen notwendig, sowohl zur Koordinierung der interdisziplinären Netzwerkarbeit als auch aufseiten des Fachpersonals (Wlodarczyk et al.
2017).
Einhaltung ethischer Richtlinien
Die beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt.
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