Adipositas: Die Weichen werden schon früh gestellt

Adipositas kann wie viele komplexe Erkrankungen ihren Ursprung in der Kindheit haben. Bei Kindern und Jugendlichen bietet sich ein günstiges Zeitfenster für eine wirkungsvolle Therapie, wie Prof. Dr. Antje Körne aus Leipzig bei einem Workshop betonte. Adipositas wird bei Kindern und Jugendlichen – wie im Erwachsenenalter auch – über den Body-Mass-Index (BMI) definiert. Sie liegt vor, wenn der BMI die 97. Perzentile überschreitet. In den letzten 20 Jahren ist zu beobachten, dass die 97. Perzentile deutlich nach oben abgewichen ist, das heißt, nicht nur die Prävalenz der Adipositas hat bei Kindern zugenommen, sondern auch ihr Ausmaß. „Und es deutet sich auch noch etwas anderes an: Das Ganze passiert im frühen Kindesalter, zwischen drei und sechs Jahren“, erklärte Prof. Dr. Antje Körner von der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Leipzig. Daten aus dem Wachstumsnetzwerk CrescNet belegen, dass die frühe Kindheit ein vulnerables Alter für die Manifestation einer Adipositas ist, zu diesem Zeitpunkt wird am meisten Gewicht zugenommen. „Ist die Adipositas bei Kindern und Jugendlichen erst einmal manifestiert, dann bleibt sie in der Regel bestehen“, sagte Körner. Das häufig als Babyspeck bezeichnete Übergewicht wächst sich nicht wie oft behauptet aus. Wenn im Alter von drei Jahren eine Adipositas besteht, liegt das Risiko bei 90%, dass diese später persistiert. Dieser Zustand hat Konsequenzen und ist nicht nur ein kosmetisches Problem: In einer US-amerikanischen Studie waren 10% der Kinder in der Quartile mit dem höchsten BMI im Alter von 40 Jahren bereits verstorben [Franks PW et al. N Engl J Med 2010;362:485–93]. Grund sind die sich teilweise schon sehr früh entwickelnden Komorbiditäten. Erste Veränderungen im kardiovaskulären System – etwa eine verminderte Endothelfunktion oder erhöhte Blutdruckwerte bei einem Drittel der adipösen Kinder – sind ab dem Alter von sechs Jahren zu beobachten. Häufig sind auch Leberverfettungen zu finden, die mit einer sich entwickelnden Zuckerstoffwechselstörung assoziiert sind. Schon früh kommt es auch zu einer Hyperinsulinämie. Eine weitere Beobachtung in Studien: Bei adipösen Kindern sind Wachstumsakzelerationen nicht selten, ab der Pubertät gleicht sich die Körperhöhe jedoch wieder an die von schlanken Kindern an. Alle Patientinnen und Patienten plus ihre Familien sollten einer Therapie zugeführt werden – und das so zeitig und intensiv wie möglich. Es sollten Lebensstiländerungen und eine Gesundheitsedukation vorgenommen werden. Es wird empfohlen, dass die Maßnahmen nicht nur auf eine Körpergewichtsreduktion abzielen, sondern auch andere Begleitumstände wie psychologische Faktoren mit berücksichtigt werden. Günstiges Zeitfenster nutzen Die drei großen Behandlungsansätze einer Adipositas sind: Änderungen des Lebensstils, bariatrische Chirurgie und Pharmakotherapie. Für Interventionen beim Lebensstil, wie Diät und sportliche Aktivität, kommt ein Cochrane-Review zu dem Schluss, dass verhaltensändernde Maßnahmen bei Kindern aller Altersgruppen zu einer geringfügigen Verringerung des Körpergewichts führen, wobei nur wenige unerwünschte Ereignisse gemeldet wurden (Ells LJ et al. Int J Obes 2018;42:1823–33). Laut Körner müssen die Interventionen intensiv sein und die Beratungen laut Studien mehr als 26 bis 52 Stunden umfassen über einen Zeitraum von zwei bis zwölf Monaten. Jedoch ist die Adhärenz der Kinder und Jugendlichen gering, der Effekt ebenso und Rückfälle sind an der Tagesordnung. Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Jugendlichen stehen die Chancen sehr gut, mit bariatrischen Eingriffen dauerhaft Gewicht zu verlieren. „Auch bei Jugendlichen ist diese Therapieoption hoch wirksam“, sagte Körner. Noch dazu fallen mit demselben Ausmaß an Gewichtsverlust bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Remissionsraten von Diabetes und Hypertonie deutlich höher aus als bei Erwachsenen. „In diesem Alter haben wir anscheinend ein ,window of opportunity‘, das wir viel besser nutzen sollten,“ so Körner. Klar ist aber auch, dass die Adipositaschirurgie nicht nur effektiv, sondern auch invasiv, irreversibel und mit Nebenwirkungen verbunden ist. Bleibt die Pharmakotherapie: Für Kinder mit Typ-2-Diabetes standen bis vor kurzem lediglich Insulin und Metformin zur Verfügung, wobei Metformin bei der Hälfte der Kinder und Jugendlichen wenig bis gar nicht wirksam ist. Im Jahr 2019 wurde der GLP-1-Rezeptoragonist Liraglutid zur Therapie von Typ-2-Diabetes ab einem Alter von zehn Jahren eingeführt und 2021 zur Therapie der Adipositas ab zwölf Jahren zugelassen. Von den Krankenkassen werden die Kosten von Inkretinmimetika für die Therapie der Adipositas bislang nicht übernommen, was Körner bemängelte. Selbst bei einer gestörten Glukosetoleranz werde Liraglutid nicht erstattet. Auch in diesen Fällen müsse abgewartet werden, bis sich ein Diabetes manifestiert habe. Ein weiterer Nachteil von Inkretin-basierten Medikamenten: Sie müssen zur Adipositastherapie lebenslang gespritzt werden. In einem weiteren GLP-1-Agonisten, nämlich Semaglutid, sieht Körner eine zukünftige Therapieoption: In einer Studie wurde damit eine Reduktion des durchschnittlichen BMI um 16% erzielt (Weghuber D et al. N Engl J Med 2022; 387:2245-57). „Das ist mehr als wir bei Kindern und Jugendlichen mit anderen Therapieoptionen jemals erreichen konnten“, sagte Körner. Rund 45% der fettleibigen Probandinnen und Probanden brachten ihr Gewicht unter den Adipositas-Grenzwert. Es wird vermutet, dass der Effekt von Semaglutid bei Jugendlichen größer ist als bei Erwachsenen. Nutzt man das sich im Kindesalter bietende „window of opportunity“ und kommt es zur Heilung einer vorliegenden Adipositas, gehen auch Komorbiditäten wie Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck zurück. Laut Körner sollten der günstige Zeitraum zur Behandlung besser genutzt und neue Behandlungsstrategien in der Pädiatrie zeitnah entwickelt werden. „Es darf nicht zehn, zwanzig Jahre dauern, bis der Fortschritt aus der Erwachsenenmedizin auch bei Kindern anlangt“. Neue Optionen in Prävention und Intervention müssten vorangetrieben werden. Nach einem Vortrag von: Prof. Antje Körner. Herausforderung Adipositastherapie im Kindesalter. Workshop der Paul-Martini-Stiftung „Arzneimitteltherapie der Adipositas: Aktuelles und Ausblick“. Berlin, 30. April 2023

Springer Medizin

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