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Erschienen in: Manuelle Medizin 2/2021

Open Access 16.03.2021 | Kohabitationsschmerzen | Leitthema

Schlüsselregion Becken

Krankheitsbilder einer gynäkologischen/geburtshilflichen Praxis

verfasst von: Dr. med. Dorin Ritzmann

Erschienen in: Manuelle Medizin | Ausgabe 2/2021

Zusammenfassung

Hintergrund

Beckenringdysfunktionen sind eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsausfälle weltweit. Neben muskuloskeletalen können viszerale Beschwerden der Beckenorgane auftreten. Der Beitrag erläutert den aktuellen Wissensstand zur funktionellen Anatomie des Beckens, beschreibt einige typische Beschwerdebilder aus gynäkologischer/geburtshilflicher Sicht sowie eine manuelle Methode zur nachhaltigen Beschwerdelinderung.

Fragestellung

Welche viszeralen Beschwerdebilder werden durch eine Beckenringdysfunktion (mit)verursacht? Wie kann eine manuelle Methode aussehen, die nachhaltig zur Verminderung der Beschwerden und Verbesserung der Lebensqualität beiträgt?

Methode

Der heutige Wissensstand der funktionellen Anatomie des Beckens wird mit den entsprechenden Beschwerdebildern bei Beckenringdysfunktionen dargelegt. Der Fokus liegt neben muskuloskeletalen speziell auch auf viszeralen Problemen wie vorzeitige Kontraktionen, Geburtsproblemen, Dysmenorrhö, Obstipation, Harndrang, Dyspareunie und Fertilitätsprobleme.

Ergebnisse

Beschwerdelinderung, Zunahme der Lebensqualität und bessere Funktion der Beckenorgane nach manueller Therapie und Stabilisierung des Beckenrings zeigen sich in einzelnen Fallbeispielen und insgesamt bei der Klientel der Grundversorgerpraxis.

Schlussfolgerung

Das Becken ist eine Schlüsselregion für die manuelle Medizin. Verschiedenste Beschwerdebilder können durch eine manuelle Behandlung deutlich reduziert werden.
Abkürzungen
QoL
„Quality of life“
SIG
Sakroiliakalgelenk
SSW
Schwangerschaftswoche
VAS
Visuelle Analogskala
Infobox 1 Weitere Informationen zum Thema
Das Becken ist unsere Heimat. Über die Beckenregion auf Höhe der Harnblase werden wir durch die Nabelschnur ernährt, die erst gegen Ende der Schwangerschaft in den Bauchraum wandert. Das Becken bleibt lebenslang ein wichtiges Zentrum der gesamten muskulären Koordination und der Skelettsymmetrie. Als Schlüsselregion beherbergt das Becken ein dichtes Netz motorischer, sensibler, sympathischer und parasympathischer Nervenfasern, die bei Fehlstellungen des Beckenrings neben viszeralen Funktionsstörungen von Dickdarm, Harnblase und Genitalien auch einen entscheidenden Einfluss auf Dysfunktionen von Wirbelsäule, Nacken, Schultern, Hüfte und Extremitäten haben können. Die manuelle Behandlung einer Beckenringdysfunktion bei gynäkologischen Problemen hat so oft eine günstige Fernwirkung.

Der knöcherne Beckenring

Das menschliche Becken bildet einen knöchernen Ring, der mittels 3 Gelenken verbunden ist. Die Symphyse verbindet die beiden Schambeinäste und stabilisiert den vorderen Beckenring.
Die Sakroiliakalgelenke (SIG) tragen den Hauptteil des Körpergewichts, nämlich Rumpf, Arme, Hände, Hals und Kopf, in der Schwangerschaft zusätzlich ungeborenes Leben, Fruchtwasser und Plazenta. Die SIG sind bei Frauen ab der Pubertät breiter, dreh- und neigungsstabiler verglichen mit den steileren SIG bei Kindern und Männern [1, 2].
Die beiden SIG zwischen dem Kreuzbein (Sakrum) und den beiden Darmbeinschaufeln (Ossa ilia) sind Federgelenke. Sie bestehen aus Mulden und Noppen, die zahnradartig ineinandergreifen (Abb. 1). Beide SIG sind durch dicke, ligamentäre Hüllen stabilisiert [3, 4].
Beim Aufrichten und Reklinieren der Wirbelsäule bewegen sich beide Darmbeinschaufeln physiologisch nach außen und etwas nach dorsal (Abb. 2). Dies wird durch eine leichte Dorsalbewegung der Sakrumbasis (S1, S2) ermöglicht, während die Sakrumspitze mit dem Steißbein (Os coccygis) sich nach ventral bewegt [5].
Gleichzeitig nähern sich die Ischias-Schambein-Bögen und verengen den Beckenausgang. Diese Annäherung schließt den Rumpf und das kleine Becken ab und stützt die inneren Organe.
Gehen wir in die Hocke und beugen den Rumpf nach vorne, findet der umgekehrte Vorgang statt: Die beiden Ossa ilia nähern sich einander, die Sakrumbasis neigt sich dem kleinen Becken nach vorne zu (nutiert), die Sakrumspitze kippt nach dorsal und öffnet so den Beckenausgang (Abb. 3). Beide Ischiasbögen drehen leicht nach vorne außen [6].

Blockaden und Höhendifferenzen der SIG

Die durch eine unphysiologische Stellung der SIG verursachte Einschränkung der Beweglichkeit ist oft asymmetrisch, schmerzhaft und reduziert die Arbeitsfähigkeit [7, 8]. Rumpfbewegungen können kaum noch oder nur unter Schmerzen ausgeführt werden, speziell Drehen im Liegen, beim Aufstehen und Absitzen, Sichbücken und Sichaufrichten.
Die zahnradartig wirkenden SIG können blockieren (verkanten) oder dislozieren (verwringen). Als SIG-Blockade wird eine verminderte Beweglichkeit im SIG ohne Höhendifferenz der beiden Darmbeinschaufeln verstanden. Eine SIG-Höhendifferenz (SIG-Dislokation?) weist ebenfalls eine verminderte Beweglichkeit des SIG auf bei einer asymmetrischen kraniokaudalen Lage der Darmbeinschaufeln.
SIG-Blockaden und -Höhendifferenzen können zu vielfältigen Beschwerden führen.
Bei SIG-Blockaden stehen Beschwerden im unteren Rücken und Becken im Vordergrund [9, 10]:
  • Steifes Kreuz („Gorillagang“), Kreuzschmerzen („low back pain“)
  • Diffuse Unterbauchschmerzen
  • Schmerzen während der Menstruation (Dysmenorrhö)
  • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie)
  • Drangbeschwerden der Blase
  • Obstipation
  • Verminderte Fruchtbarkeit
  • Vorzeitige Kontraktionen, Wehenschwäche, fehlender Geburtsfortschritt [11, 12]
Bei SIG-Höhendifferenzen wird zusätzlich das gesamte Achsenskelett verzogen:
  • Asymmetrisches Gehen und Sitzen
  • Sekundäre Skoliose (Kinder, Jugendliche), Rückenschmerzen bei Erwachsenen
  • Einseitige Überlastung von Hüftgelenk, Knie, Sprung- oder Fußgelenk
  • Dauerspannung der Symphyse mit Urethralschmerzen, Dauererregung
  • Diffuse, teilweise wandernde Bauchschmerzen
  • Asymmetrische Schulterstellung mit eingeschränkter Beweglichkeit („frozen shoulder“?)
  • Dauerspannung der Wirbel mit paravertebralem Hartspann
  • Nackenverspannung mit Spannungskopfschmerzen bis zu Migräne

Ligamentäre Stabilisierung des Beckenrings

Ein dichtes Netz von Ligamenten hält den Beckenring in Form. Ligamente bestehen aus straffem Bindegewebe, Muskelfasern, Nerven, Gefäßen und Lymphbahnen. Sie reagieren auf nervale Reize, können kontrahieren, aber auch erschlaffen.
Für die Stabilität der SIG sind die sakroiliakalen, die iliolumbalen und lumbosakralen Bandsysteme von Bedeutung. Die Stabilität der Gelenke hängt primär von der Straffheit der Ligamente ab und nur sekundär von der sie umhüllenden Muskulatur.
Für die Stabilität des gesamten Beckenrings sind zusätzlich die sakrospinalen, sakrotuberalen und inguinalen Bandsysteme von Bedeutung. Sie können bei länger dauernden SIG-Dysfunktionen überlastet werden und schmerzhaft reagieren. Damit verbunden sind dann typische Beschwerdebilder (Abb. 4).
Ligamentum sacrospinale
  • Steißbeinschmerzen perikokzygeal
  • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (tiefe Dyspareunie)
Ligamentum sacrotuberale
  • Steißbeinschmerzen perikokzygeal
  • Schmerzen beim Sitzen und Reiten
  • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Scheideneingang)
  • Einseitige, schmerzhafte Schwellung
Ligamentum inguinale
  • Schmerzen seitlich im tiefen Unterbauch (Leiste)
  • Parasymphysäre Schmerzen (Pecten ossis pubis)
  • Schmerzen im Bereich der Spina ischiadica anterior superior.

Muskuläre Stabilisierung des Beckenrings

Ist die ligamentäre Stabilität vermindert und eines der SIG blockiert oder disloziert, übernimmt die Muskulatur die Stabilisierung des Beckenrings. Dies kann zu Dauerschmerzen, entzündlichen Reaktionen der Gelenke, Sehnen- und Bandansätze und einem zunehmenden Muskelhartspann bzw. zu einer Muskelerschlaffung führen [3, 13]. Ruhen nützt meist wenig, die Beschwerden nehmen mit der Zeit eher zu.
Zum einfacheren Verständnis kann die stabilisierende Muskulatur in 3 Gruppen eingeteilt werden: tiefe, kraniale und kaudale Beckenringstabilisatoren.

Tiefe Beckenringstabilisatoren

Tiefe Beckenringstabilisatoren sind M. transversus abdominis, M. multifidus, thorakodorsale Faszie, M. psoas, M. levator ani und M. pubococcygeus. Die dorsalen Muskeln führen bei Anspannung zu diffusen, teilweise wandernden Schmerzen. Dies kann eine korrekte Diagnostik erschweren und zu psychosomatischen Fehldiagnosen beitragen. Die ventralen und kaudalen Muskelgruppen erschlaffen oft und können zu Senkungen der Beckenorgane und einer schlaffen Bauchwand führen.

Kraniale Beckenringstabilisatoren

Kraniale Beckenringstabilisatoren sind M. latissimus dorsi, M. erector trunci und M. quadratus lumborum. Sie führen zu gut abgrenzbaren, lokalen Schmerzen. Sie reagieren typischerweise mit einem Muskelhartspann. Eine chronische Anspannung des M. latissimus dorsi ist oft mit Schmerzen und Steifheit einer Schulter verbunden. Die Anspannung des M. erector trunci ist von außen sicht- und tastbar, die des M. quadratus lumborum führt typischerweise zu einseitigen, atemabhängigen Schmerzen der unteren Thoraxapertur.

Kaudale Beckenringstabilisatoren

Kaudale Beckenringstabilisatoren sind Mm. glutaei, M. piriformis, M. tensor fasziae latae und Mm. adductores femoris. Sie führen ebenfalls zu lokalen, gut abgrenzbaren Schmerzen. Bei chronischem Hartspann kommen oft sekundäre Beschwerden dazu, wie Kox- und Gonarthrosen, Tendinitis, Bursitis und ischialgieforme Schmerzen. Die Femuradduktoren können erschlaffen und zu einer reversiblen Pseudoparese führen.

Beckenringdysfunktionen

Wie häufig sind sie?

Beckenringdysfunktionen werden nicht einheitlich diagnostiziert und benannt. Sie tauchen unter vielen Fachausdrücken auf wie „pelvic joint dysfunction“, „pelvic girdle pain“, „low back pain“ u. a. Am besten untersucht sind Kreuzschmerzen („low back pain“); sie beruhen zu über 95 % auf einer dysfunktionellen Ursache [14, 15]. Sie gelten seit 2010 als weltweit häufigster bis zweithäufigster Grund für Arbeitsunfähigkeit [16, 17]. Neben chronischen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen Kreuzschmerzen oft in soziale Isolation und Armut [18, 19]. Frühzeitige Erkennung und Behandlung sind deshalb von großer Bedeutung [20].
Die Prävalenz wird geschätzt auf etwa
  • 33 % in Ländern mit hohem Geldumsatz, hoher Industrie- und Asphalt-Beton-Dichte,
  • 25 % in Ländern mit steigendem Geldumsatz und
  • 16 % in Ländern mit niedrigem Geldumsatz, wenig Industrie und Asphalt-Beton-Dichte [19].
Frauen sind mit ca. 30 % häufiger von Kreuzschmerzen betroffen als Männer (ca. 25 %). Auch Kinder und Jugendliche können unter Kreuzschmerzen leiden.

Was verursacht den unteren Rückenschmerz?

Die Korrelation von Kreuzschmerz mit ebenen Böden, speziell Asphalt und Beton, hat zu der Hypothese geführt, dass das Fehlen unebener Böden längerfristig zur Schwächung der transversalen Bandapparate (iliosakrale, iliolumbale, lumbosakrale Bänder, transversales Fußgewölbe) führt.
Die Kombination von flachen mit harten Böden führt zusätzlich zu einer Überlastung der Federgelenke (SIG, Sprunggelenke). Dies erklärt das praktische Fehlen von „low back pain“ in Gegenden ohne Asphalt und Beton, wie bei den Chepang in Nepal. Es erklärt auch das Auftreten von Kreuzschmerzen im Hochleistungssport, obwohl die Sporttreibenden über ein perfektes Muskeltraining verfügen.
Kommt eine physiologische, hormonelle Lockerung des Bandapparates bei Frauen in der Pubertät und bei Schwangeren dazu, schlägt sich dies in der höheren Prävalenz in diesen beiden Kollektiven nieder [21]. Erhebungen bei Schwangeren in Nordamerika und Europa gehen von einer Häufigkeit von ca. 60 % „low back pain“ aus. Etwa 5 % der Betroffenen entwickeln chronische, schwere Beschwerden [2224].

Welche Bevölkerungsgruppen sind stark betroffen?

  • Kinder und Jugendliche, da bei ihnen noch weite Teile des Beckenringes knorpelig und damit elastischer sind als bei Erwachsenen
  • Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen, da bei ihnen physiologisch die ligamentäre Elastizität deutlich zunimmt
  • Ausübende des Friseur‑, Maurer‑, Hebammen‑, Zahnarzt- und Dentalhygieneberufs, operativ Tätige u. a. m. mit Drehbewegungen und Vornüberneigen des Rumpfes
  • Menschen im höheren Alter, da die muskuläre Stabilität deutlich abnimmt

Was tun?

Häufigkeit und Schwere von Beckenringdysfunktionen sind für einen großen Teil der Bevölkerung zunehmend belastend. Verschiedenste Fachleute beschäftigen sich mit der Diagnostik und Therapie weltweit. Das Behandlungsspektrum reicht von traditioneller Naturheilkunde über manuelle Techniken bis hin zu spezifischer Schmerzlinderung und Stabilisierungen. Manuelle Techniken in Diagnostik und Therapie sind effizient, kostensparend und ungefährlich. In Kombination mit einer ausführlichen Anamnese und Beratung können sie in kurzer Zeit eine deutliche Beschwerdelinderung bringen.
Zwischen 1997 und 2007 hat die Autorin zusammen mit Herrn Dr. med. Bruno Maggi, Manualmediziner und Allgemeinarzt in Zürich, eine eigene manuelle Behandlungstechnik entwickelt, die sich ArthrokinematikMR nennt. Daraus ist eine Methode entstanden, Beckenringdysfunktionen zu erkennen, zu behandeln und eine physiologische Position der SIG nachhaltig zu sichern.
Um die Wirksamkeit der arthrokinematischen Behandlung und Stabilisierung des Beckenrings zu untersuchen, erhebt die Autorin seit einigen Jahren zwei visuell analoge Scoringsysteme:
  • Beschwerdeskala (VAS) von 0 bis 10, wobei 0 keine Beschwerden, 5 mittelstarke und 10 massive Beschwerden anzeigen
  • Lebensqualitätsscore (QoL) von 0 bis 10, wobei 0 eine miserable Lebensqualität, 5 eine mäßige und 10 eine ausgezeichnete Lebensqualität anzeigen
Im Praxiskollektiv zeigen akut und chronisch Betroffene eine deutliche Abnahme der Beschwerden, begleitet von einer Zunahme der Lebensqualität. Beispielsweise konnten die Beschwerden bei chronisch Betroffenen (n = 128) um durchschnittlich 72 % reduziert werden (Abb. 5).

Beschwerdebilder in einer gynäkologischen/geburtshilflichen Praxis

Beckenringdysfunktionen können bei Schwangeren zu Kreuzschmerzen, diffusen Unterbauchschmerzen, vorzeitigen Kontraktionen und Schmerzen beim Drehen im Liegen führen. Schwangere sollten gezielt nach diesen Beschwerden befragt und der Beckenring sollte manuell kontrolliert werden.
Schwangere mit vorzeitigen, portiowirksamen Kontraktionen
Eine 26-jährige Erstschwangere entwickelt in der 30. SSW akuten Druck im Unterbauch mit einer Ischialgie links. Befunde: SIG-Blockade links, vorzeitige Portioreifung auf 20–25 mm (Vaginalsonographie). Verlauf: In den ersten 10 Tagen muss 4‑mal manuell behandelt werden, dann kann sich die Schwangere mithilfe einer ausführlichen Instruktion stabilisieren. Der weitere Verlauf ist günstig, in der 31. SSW misst die Zervix 27 mm und hält bis zur Geburt in der 40. SSW. Die Ischialgie sistiert komplett, ebenso der Druck im Unterbauch. Ergebnis: Der VAS-Wert sinkt in den ersten 6 Wochen von 8,0/10 auf 0/10 und bleibt dort bis Ende der Schwangerschaft. Die Lebensqualität steigt von 4/10 auf 9/10.
Werden Beckenringdysfunktionen bei Schwangeren rein symptomatisch behandelt, kann es zu entzündlichen Schmerzen über beiden SIG und der Symphyse kommen, sodass eine natürliche Geburt schwierig wird.
Unter der Geburt kann eine Beckenringdysfunktion zu einem stotternden Wehenbeginn und zur Übertragung, zu frühen starken Schmerzen im Symphysen- und Kreuzbereich, zu einem fehlenden Tiefertreten des Kindes, zu Haltungs- und Einstellungsproblemen des Kindes und zur sekundären Wehenschwäche führen. Umgekehrt hat eine manuelle Behebung der Beckenringdysfunktion eine meist sofortige Verbesserung des Geburtsfortschrittes zur Folge.
Spontangeburt statt Vakuumentbindung
Eine hebammengeleitete Hausgeburt bleibt in der Austreibungsperiode über 2 h stehen. Ich werde zur Entbindung gerufen. Bei einem reifen Befund (Kind in I. Schädellage, Kopf knapp über Beckenboden) untersuche ich kurz den Beckenring, der eine Höhendifferenz rechts (rechts höher als links) aufweist. Nach einmaliger manueller Behandlung kann das Kind in 2 Wehen spontan geboren werden. Es benötigt etwas Sauerstoff und erholt sich ausgezeichnet.
Nach der Geburt stabilisiert sich der Beckenring innerhalb von 4 Monaten. Wird in dieser Zeitspanne eine Beckenringdysfunktion übersehen, kommt es bei etwa 5 % aller Mütter zu chronischen Beckenringbeschwerden [22].
Dyspareunie nach Spontangeburt
Eine 40-jährige Patientin leidet an Kreuzschmerzen und sekundärer Dyspareunie (Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) seit der Geburt der Tochter vor 18 Monaten. Schwangerschaft und Geburt verliefen problemlos ohne Verletzungen. Erste drei Wochen nach Geburt mit starken Schmerzen beim Sitzen und Drehen im Becken und im Genitalbereich. Zusätzlich treten Schmerzen im Scheideneingang beim Geschlechtsverkehr auf verbunden mit einem Gefühl, es sei etwas im Weg. Bisherige Behandlungen: Die Verengung der Scheide wird mit Dehnung, lokaler Hormoncrème und Narbencrème besser. Nach lokaler Vorbehandlung ist auch Geschlechtsverkehr wieder möglich. Befunde: Das rechte Os ilium ist um 2 cm nach kranial disloziert. Gynäkologisch zeigen sich ein stark angespanntes, dolentes und ödematöses Lig. sacrospinale und Lig. sacrotuberale links. Verlauf: Nach einer manuellen Behandlung kann die Patientin trotz Kleinkind den Beckenring stabil halten. Die Beschwerden nehmen ab. Die linken Ligamenta werden weicher, schmaler und weniger schmerzhaft, bis sie nach 4 Monaten nur noch leicht angespannt sind. Ergebnis: Der VAS-Wert fällt von 7,5/10 auf 4/10 in den ersten 2 Monaten, reduziert sich weiter auf 0,5/10 innerhalb von 4 Monaten. Die Lebensqualität bleibt bei 6,5/10.
Im allgemeinen Kollektiv zeigen sich je nach Altersgruppe verschiedene Beschwerdebilder. Bei Kindern kann eine Beckenringdysfunktion beispielsweise bei starker Obstipation, Bettnässen und Kopfschmerzen bis Migräne vorliegen, aber auch bei Skolioseentwicklungen oder häufigem Stolpern. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen weisen zusätzlich Schmerzen während der Menstruation (Dysmenorrhö) oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie) auf eine Beckenringdysfunktion hin.
Dysmenorrhö
23-jährige Patientin mit schwerer, sekundärer Dysmenorrhö seit einem Jahr, mit Schmerzmitteln behandelt. Befund: Höhendifferenz Os ilium rechts 1 cm nach kranial. Verlauf: Nach einmaliger manueller Behandlung im Liegen bleibt der Beckenring stabil, die Patientin beginnt nach 2 Wochen mit dem stufenweisen Muskelaufbau. Parallel wird zur Reduktion der Blutungsstärke eine pflanzliche Tinkturenmischung rezeptiert. Ergebnis: Die Beschwerden gehen innerhalb von 8 Wochen von 7,5/10 auf 6/10 (VAS) zurück, nach 4 Monaten auf 4/10 (VAS). Die Lebensqualität nimmt zuerst von 7,5/10 auf 6/10 wegen Verlust der Arbeitsstelle (Coronamaßnahmen) ab, um dann innerhalb von 4 Monaten auf 9/10 zu steigen.
Im Patientenkollektiv über 25 Jahre können sich Beckenringdysfunktionen zusätzlich durch Harndrangbeschwerden, Harninkontinenz, Senkungen von Gebärmutter und Harnblase bzw. durch chronische Schmerzen der Prostata und durch eine Verminderung der Fruchtbarkeit bei Frau und Mann bemerkbar machen.
Harndrang und Harninkontinenz, Obstipation, Kreuzschmerzen
Eine 48-jährige Patientin stellt sich mit Harndrangbeschwerden und Belastungsinkontinenz seit 2 Jahren vor. Zusätzlich leidet sie an häufigen, rechtsseitigen Hüft- und Kreuzschmerzen und an Obstipation. Bisherige Behandlungen: Osteopathie, Massage und Physiotherapie. Befunde: Höhendifferenz des linken Os ilium um 2 cm nach kranial, die Nachkontrolle zeigt eine SIG-Blockade links. Verlauf: Die ersten beiden manuellen Behandlungen zusammen mit einer ausführlichen Instruktion bringen schon viel. Alle drei Beschwerdegruppen (Blase, Darm und Kreuz) nehmen derart ab, dass die Hoffnung auf Heilung die Lebensqualität deutlich steigen lässt. Nach 4 Monaten kommt es nur noch bei Hustenanfällen zur Belastungsinkontinenz, was die Patientin handhaben kann. Ergebnis: Die Beschwerden vermindern sich von 8/10 auf 0,5/10 (VAS) in den ersten 4 Monaten, um innerhalb von 6 Monaten weiter auf 0/10 (VAS) zu fallen. Die Lebensqualität steigt von 8,5/10 auf 10/10.
Stolpern bei Beckenringdysfunktion
Ein 32-jähriger Patient kommt wegen Kinderwunsch und häufigen Stürzen als Dachdecker. Seit 2 Jahren tritt etwa alle 6 Monate eine starke Lumbago („Hexenschuss“) auf, die mit Physiotherapie und Analgesie behandelt wird. Befund: Höhendifferenz des rechten Os ilium.
Verlauf: Es sind 6 Behandlungen in 4 Monaten notwendig, bis der Beckenring sich in der physiologischen Position stabilisiert. Nach 7 Monaten bleibt der Beckenring stabil. Seit diesem Zeitpunkt treten keine Stürze mehr auf. Die Frau wird erstmals schwanger, jedoch nur für wenige Wochen.

ArthrokinematikMR

Diagnostik

Die manuelle Diagnostik gilt als nicht sehr zuverlässig, wenn lediglich ein Test durchgeführt wird. Bei zwei oder mehr Testverfahren steigt die Verlässlichkeit. Wird auf die Asymmetrie der Befunde geachtet, ist die Korrelation mit den Beschwerden ausreichend [25]. Demgegenüber werden bildgebende Verfahren (Röntgen, Magnetresonanztomographie, Computertomographie etc.) zur Diagnostik einer Beckenringdysfunktion primär nicht empfohlen [20].
Die arthrokinematische Methode verwendet Anamnese, Beobachtung und drei manuelle Testverfahren zur Diagnostik einer Beckenringdysfunktion. Die SIG-Höhendifferenz und die SIG-Blockade benötigen unterschiedliche diagnostische Techniken:
  • Die asymmetrische kraniale Lage der Ossa ilia im Sitzen ist das Leitsymptom für eine SIG-Höhendifferenz.
  • Die asymmetrische Beweglichkeit der SIG ist das Leitsymptom für eine SIG-Blockade.
Mit den folgenden drei manuellen Tests können Beckenringdysfunktionen genügend akkurat diagnostiziert werden:
1.
Os-ilium-Höhendifferenztest
 
2.
Vorlaufphänomen
 
3.
Beinlängendifferenztest
 
Dabei ist es wichtig, jeweils 2 Tests zu kombinieren.
Manuelle Techniken sollten immer praxisnah („hands-on“) erlernt werden, so auch die ArthrokinematikMR. Zur Illustration sei hier kurz auf den Os-ilium-Höhendifferenztest eingegangen. Er wird zuerst im Stehen durchgeführt und bei auffälligem Resultat im Sitzen wiederholt.

Vorgehen beim Os-ilium-Höhendifferenztest

Die Zeigefinger auf die Acromia legen. Mit beiden Händen die Scapulae berühren und mit den Daumen unterfahren. Mit beiden Händen die paravertebrale Muskulatur abgrenzen. Die Hände drehen und die Zeigefinger auf die Cristae iliacae legen. Die Zeigefinger bleiben auf der Crista iliaca, während beide Daumen die Spinae iliacae posteriores inferiores unterfahren (Abb. 6). In diesem Beispiel liegt eine Höhendifferenz des linken SIG um ca. 15 mm nach kranial vor.

Therapie

Therapeutisch wird eine minimale gegenläufige Rotation des Os ilium zum Os sacrum durchgeführt. Dies kann im Liegen erfolgen mit einer mehr kraniokaudalen oder im Stehen mit einer mehr ventrodorsalen Wirkung. Beide Therapieoptionen ergänzen sich. Eine Überdehnung der Ligamente durch die Behandlung wird möglichst vermieden.
Die langfristige Stabilisierung des Beckenrings gründet sich auf einer 12- bis 16-wöchigen ligamentären Stabilisierungsphase mit einem zeitlich leicht versetzten, stufenweisen muskulären Aufbau. Ein langfristig stabiles, schmerzfreies Becken benötigt
  • eine manuelle Adjustierung,
  • eine ligamentäre Stabilisierung sowie
  • einen muskulären Aufbau.
Ohne ligamentäre Stabilisierung kommt es häufiger zu Rezidiven, zu entzündlichen Veränderungen und zum Behandlungsabbruch [26, 27]. Dies zeigt auch die praktische Erfahrung der Betroffenen mit einer sich oft überwiegend auf den Muskelaufbau stützenden Therapie. Wird aber der ligamentären Stabilisierung die ihr gebührende Aufmerksamkeit und Zeit geschenkt, sind Schmerzzunahme und Behandlungsabbrüche sehr selten.

Technik im Liegen

Die arthrokinematische Technik im Liegen eignet sich sehr gut in allen Situationen mit Behandlungsliege, großem Tisch, harter Sofa- oder Bettkante. Gearbeitet wird von vorne unter Sicht, was speziell für ängstliche Personen beruhigend ist. Unter der Geburt kann sie sehr einfach in einer Wehenpause angewendet werden.
Die Hand in der Achsel streckt die Wirbelsäule leicht kraniodorsal während des Ausatmens. Gleichzeitig zieht die zweite Hand das SIG kaudal ventral (Abb. 7).

Technik im Stehen

Die arthrokinematische Technik im Stehen eignet sich sehr gut unterwegs, da lediglich eine Wand, ein Baum, eine Tür vorhanden sein sollte. Da im Stehen das SIG mehr ventrodorsal bewegt wird, kann sie mit der liegenden Technik bei komplexen SIG-Verschiebungen kombiniert werden. Auch unter der Geburt ist sie von Bedeutung.
Mit der Handkante wird der Unterrand des SIG gesucht. Während der Ausatmung wird das Os ilium sanft nach außen gedehnt und gleichzeitig die Sakrumkante nach ventrolateral geschoben (Abb. 8).

Ligamentäre Stabilisierung

Die ligamentäre Stabilisierung wird meistens mit der eigenen Muskulatur und einer spezifischen Bewegungsinstruktion erreicht. Sie sollte mit Geduld und Achtsamkeit erfolgen. In speziellen Fällen kann eine äußere Stabilisierung mithilfe eines Beckentuchs notwendig werden, z. B. bei Schwangeren und Wöchnerinnen.
Es lohnt sich, die Ergonomie am Arbeitsplatz und zu Hause wie auch Sport und Freizeit zu besprechen. Speziell sollten folgende Tätigkeiten für etwa 12 Wochen vermieden werden:
  • Asymmetrisches Heben, Ziehen, Tragen
  • Rumpfdrehungen stehend, sitzend, vornübergebeugt und liegend
  • Asymmetrische Kraft- und Dehnübungen

Muskuläre Stabilisierung

Alle Gelenke benötigen straffe Ligamente, um nicht von der Muskulatur verzogen zu werden. Ein Stufenprogramm mit Beginn nach 2 Wochen ligamentärer Stabilität hat sich bewährt. Wir empfehlen zuerst isometrische Übungen, dann symmetrische Kraftübungen und später symmetrische Dehnübungen. Eine physiotherapeutische Begleitung ist empfehlenswert.

Prophylaxe

Starke Ligamente entstehen auf unebenen Böden. Daher lohnt es sich, so oft wie möglich in Wald und Wiese für kurze Zeit unebene Wege begehen. Zusätzlich ist ein tägliches Haltetraining auf einem medizinischen Minitrampolin sehr zu empfehlen.

Fazit für die Praxis

  • Das Becken ist eine Schlüsselregion für die manuelle Behandlung verschiedenster Beschwerden, auch aus dem gynäkologischen und geburtshilflichen Bereich.
  • Beckenringdysfunktionen sind häufig.
  • Eine kombinierte manuelle Diagnostik kann klinisch genügend genau SIG-Blockaden und -Höhendifferenzen erfassen.
  • Eine manuelle Behandlung in Kombination mit einer ausführlichen Instruktion führt sehr oft zu einer deutlichen Beschwerdelinderung und Zunahme der Lebensqualität.
  • Die spezifische arthrokinematische Behandlung des Beckenrings kann in Kursen erlernt werden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

D. Ritzmann ist ein Non-Sponsored Doctor ohne Interessenkonflikte.
Die Auswertung der Score-Systeme geschieht mit dem schriftlichen Einverständnis der Patientinnen und Patienten und dient der Qualitätssicherung.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Abitbol MM (1996) The shapes of the female pelvis. Contributing factors. J Reprod Med 41(4):242–250PubMed Abitbol MM (1996) The shapes of the female pelvis. Contributing factors. J Reprod Med 41(4):242–250PubMed
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Zurück zum Zitat Borell U, Fernström I (1967) The mechanism of labour. Radiol Clin North Am 5(1):73–85PubMed Borell U, Fernström I (1967) The mechanism of labour. Radiol Clin North Am 5(1):73–85PubMed
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Zurück zum Zitat Gastaldo TD (1990) The movement of the sacroiliac joints and their importance to change in the pelvic dimensions during parturition. Birth Berkeley Calif 17(4):234, 236 Gastaldo TD (1990) The movement of the sacroiliac joints and their importance to change in the pelvic dimensions during parturition. Birth Berkeley Calif 17(4):234, 236
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Zurück zum Zitat Galukande M, Muwazi S, Mugisa DB (2005) Aetiology of low back pain in Mulago hospital, Uganda. Afr Health Sci 5(2):164–167PubMedPubMedCentral Galukande M, Muwazi S, Mugisa DB (2005) Aetiology of low back pain in Mulago hospital, Uganda. Afr Health Sci 5(2):164–167PubMedPubMedCentral
Metadaten
Titel
Schlüsselregion Becken
Krankheitsbilder einer gynäkologischen/geburtshilflichen Praxis
verfasst von
Dr. med. Dorin Ritzmann
Publikationsdatum
16.03.2021
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Manuelle Medizin / Ausgabe 2/2021
Print ISSN: 0025-2514
Elektronische ISSN: 1433-0466
DOI
https://doi.org/10.1007/s00337-021-00776-9

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