Wenn die Symptome Publikum brauchen

Die 13-jährige Patientin zeigt eine bizarr anmutende Gangstörung, Fehlbelastung nach Sprunggelenksdistorsion, zudem Zitteranfälle am rechten Arm und Panikattacken mit Atemnot. Was steckt dahinter? „Oft finden sich schon bei der Anamnese wichtige Hinweise auf eine dissoziative Störung“, erklärte PD Dr. Markus Blankenburg, Stuttgart, auf dem Kongress für Kinder- und Jugendmedizin. Dazu zählen Symptomfluktuationen und -wechsel, das Auftreten verschiedener Symptome sowie eine hohe Funktionseinschränkung bei geringem Leidensdruck. In der Regel waren die – meist weiblichen Patientinnen – zuvor einem belastenden Lebensereignis ausgesetzt. Im beschriebenen Fall war dies der Suizid einer Freundin, zehn Monate vor Symptombeginn. Weitere mögliche Belastungsfaktoren sind z.B. Überforderung, Mobbing, emotionale oder körperliche Vernachlässigung sowie Misshandlung bzw. Missbrauch. Diagnostische Odyssee häufig Charakteristisch ist eine umfangreiche Diagnostik, die weitgehend ohne Befund bleibt. So war bei dem Mädchen ein MRT des Schädels, der Lendenwirbelsäule und der Beine erfolgt, außerdem wurden Sprunggelenk und Knie geröntgt, Hüfte, Knie und Leiste (Leistenhernie rechts) sonographiert sowie eine Messung der Nervenleitgeschwindigkeit durchgeführt. Bei der Untersuchung sind folgende Beobachtungen richtungsweisend: Die Symptome treten immer und ausschließlich vor Publikum auf, werden die Patienten abgelenkt, nehmen sie deutlich ab. „Lasse ich die Jugendlichen während dem Vorhalteversuch rückwärts zählen, verschwinden die Symptome“, berichtete Blankenburg. Bei der 13-Jährigen lautete die Diagnose: dissoziative Gangstörung und chronische Schmerzstörung. Dissoziative Bewegungsstörungen kommen bei der kinderärztlichen Vorstellung am häufigsten vor, gefolgt von dissoziativen Anfällen und Empfindungsstörungen. Insgesamt sind diese Störungen keineswegs selten, die Lebenszeitprävalenz liegt bei 10% in der Adoleszenz. Da sie in der Regel nicht vor dem zehnten Lebensjahr auftreten, empfiehlt Blankenburg, Kinder unter zehn Jahren sehr gründlich zu untersuchen, um eine organische Erkrankung auszuschließen. Sekundäre bzw. komorbide Störungen wie Angststörung oder selbstschädigendes Verhalten sind häufig. Den Teufelskreis durchbrechen Ein wichtiges Anliegen der Therapie ist es, den Patienten den psychosomatischen Zusammenhang zu verdeutlichen. Damit lässt sich folgender Teufelskreis unterbrechen: Die Patienten reagieren auf eine körperliche Anspannung mit Angst, Depression oder emotionaler Taubheit (Dissoziation). Dadurch werden körperliche Symptome fehlbewertet, was zu einem Vermeidungsverhalten (z.B. Schulvermeidung) und – aufgrund vermehrter Zuwendung – zu Entlastung und sekundärem Krankheitsgewinn führt. „Gelingt es, diesen Zusammenhang verständlich zu machen, verschwinden die Symptome bei einem Drittel der Patienten dauerhaft“, erklärte Blankenburg. Für die meisten Patienten ist die Psychoedukation in ambulanter Therapie ausreichend, ggf. ergänzt mit Physio- und Psychotherapie. Sehr schwere oder lang andauernde Symptome erfordern eine stationäre multimodale Therapie. basierend auf: Blankenburg M, "Vom Bauchschmerz bis zur Lähmung – Spektrum pädiatrischer Psychosomatik: Neuropädiatrische Sicht ", Kongress für Kinder- und Jugendmedizin 2019, 13.9.2019, München

Springer Medizin

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