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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 1/2018

12.12.2017 | Originalarbeit

Lebensverlauf, Zufall und individuelle Kriminalprognose

Gefahren beim Erstellen einer Biografie

verfasst von: Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 1/2018

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Zusammenfassung

Retrospektiv den Lebensverlauf eines anderen Menschen zu beschreiben, ist ein Akt der Geschichtsschreibung, mit all ihren Problemen. Zu unterscheiden ist zwischen den historischen Geschehnissen und ihrer zeitlichen Abfolge, also der im besten Fall einigermaßen vollständigen und durch Indizien, Spuren, Dokumente gesicherten Chronik (res gestae) einerseits. Ihr gegenüber steht die ordnende, Zusammenhänge herstellende Repräsentation dieser Geschehnisse in einem von Menschen geschaffenen, um Nachvollzug oder Rekonstruktion bemühten Narrativ, die Geschichtsschreibung (historia rerum gestarum). Narrativ heißt zu Deutsch: eine Geschichte. Forensische Psychiater und Psychologen sind in einem erheblichen Umfang mit dem Verfassen von Biografien befasst, bei denen es sinnvoll wäre, sich der Irrtumsmöglichkeiten und auch der Möglichkeiten zu fahrlässigem Handeln bewusst zu sein. Das Verfassen der Biografie über einen anderen erfolgt in einem Machtzusammenhang; die erstellte Lebensgeschichte hat möglicherweise schwerwiegende Folgen für den Biografierten. Sie steht unter Wahrheitspflicht, auch wenn nur Annäherungen an die Wahrheit möglich sind, v. a. durch größtmögliche Sorgfalt und Unvoreingenommenheit. Zu den Hauptgefahren zählen die vorschnelle Formatierung und Reduktion der Biografie auf erlernte kriminologische oder psychologische Schemata. Abgelehnt wird jedoch das Angebot, die Reduktion der Informationen auf die Spitze zu treiben und für die Prognostik künftigen Legalverhaltens nur noch die systematisch reduzierten Informationen der standardisierten Instrumente zu verwenden.
Fußnoten
1
Sex Offender Risk Appraisal Guide.
 
2
Max Frisch (1998) Tagebuch 1946–49. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Zweiter Band. Suhrkamp, Frankfurt/1998, S. 374. Etwa gleichsinnig Brecht B (1971) Geschichten vom Herrn Keuner. Suhrkamp, Frankfurt: „Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“
 
3
Es ist dies der eigentliche Sinn immer erneuter psychiatrischer Begutachtungen.
 
4
Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System.
 
5
„Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.“ Wir Menschen verfügen über die Fähigkeit, „unabhängig von [den] Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen …, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“ (Kant 1781; Kritik der reinen Vernunft, A534/B562).
 
Literatur
Zurück zum Zitat Baberowski J (2014) Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, 3. Aufl. CH Beck, München Baberowski J (2014) Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, 3. Aufl. CH Beck, München
Zurück zum Zitat Baberowski J (2018) Was lehrt die Lebens-Geschichte – und was lehrt sie nicht? Forens Psychiatr Psychol Kriminol (Bd. 12, in diesem Heft) Baberowski J (2018) Was lehrt die Lebens-Geschichte – und was lehrt sie nicht? Forens Psychiatr Psychol Kriminol (Bd. 12, in diesem Heft)
Zurück zum Zitat Brecht B (1971) Geschichten vom Herrn Keuner. Suhrkamp, Frankfurt am Main Brecht B (1971) Geschichten vom Herrn Keuner. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Zurück zum Zitat Dahle K‑P (2013) Sachverständige Auswahl und Integration von Basisrateninstrumenten und Prognoseinstrumenten der „dritten Generation“. In: Rettenberger M, von Franqué F (Hrsg) Handbuch kriminalprognostischer Verfahren. Hogrefe, Göttingen, S 337–346 Dahle K‑P (2013) Sachverständige Auswahl und Integration von Basisrateninstrumenten und Prognoseinstrumenten der „dritten Generation“. In: Rettenberger M, von Franqué F (Hrsg) Handbuch kriminalprognostischer Verfahren. Hogrefe, Göttingen, S 337–346
Zurück zum Zitat Dahle KP (2007) Methodische Grundlagen der Kriminalprognose. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:101–110CrossRef Dahle KP (2007) Methodische Grundlagen der Kriminalprognose. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:101–110CrossRef
Zurück zum Zitat Doderer HV (1951) Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. CH Beck, München Doderer HV (1951) Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. CH Beck, München
Zurück zum Zitat Dürrenmatt F (1958) Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Diogenes, Zürich Dürrenmatt F (1958) Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Diogenes, Zürich
Zurück zum Zitat Ford R (2017) Zwischen ihnen. Hanser, Berlin Ford R (2017) Zwischen ihnen. Hanser, Berlin
Zurück zum Zitat Frisch M (1998) Tagebuch 1946–49. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 2. Suhrkamp, Frankfurt am Main Frisch M (1998) Tagebuch 1946–49. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 2. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Zurück zum Zitat Hampe M (2006) Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko. WJS, Berlin Hampe M (2006) Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko. WJS, Berlin
Zurück zum Zitat Hampe M (2014) Die Lehren der Philosophie – Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin Hampe M (2014) Die Lehren der Philosophie – Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin
Zurück zum Zitat Janzarik W (1965) Psychologie und Psychopathologie der Zukunftsbezogenheit. Arch Gesamte Psychol 117:33–53 Janzarik W (1965) Psychologie und Psychopathologie der Zukunftsbezogenheit. Arch Gesamte Psychol 117:33–53
Zurück zum Zitat Kant I (1781) Kritik der reinen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main (A534/B562) Kant I (1781) Kritik der reinen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main (A534/B562)
Zurück zum Zitat Kröber H‑L (2015) Die Wahrheit der Person und die Wahrheit der Tat. Der schweigende Angeklagte aus der Sicht des Psychiaters. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 9:98–105CrossRef Kröber H‑L (2015) Die Wahrheit der Person und die Wahrheit der Tat. Der schweigende Angeklagte aus der Sicht des Psychiaters. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 9:98–105CrossRef
Zurück zum Zitat Kröber H‑L (2017) Wie kann man Fremdseelisches verstehen? Methodische Aspekte der psychiatrischen Wahrnehmung und Beschreibung. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 11:175–184CrossRef Kröber H‑L (2017) Wie kann man Fremdseelisches verstehen? Methodische Aspekte der psychiatrischen Wahrnehmung und Beschreibung. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 11:175–184CrossRef
Zurück zum Zitat von Matt P (1989) ... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. Suhrkamp, Frankfurt, S 71 von Matt P (1989) ... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. Suhrkamp, Frankfurt, S 71
Zurück zum Zitat Mittelstraß J (1984) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 2. Bibliographisches Institut Wissenschaftsverlag, Mannheim, S 455 Mittelstraß J (1984) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 2. Bibliographisches Institut Wissenschaftsverlag, Mannheim, S 455
Zurück zum Zitat Poe EA (2008) Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym von Nantucket. Diogenes, Zürich Poe EA (2008) Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym von Nantucket. Diogenes, Zürich
Zurück zum Zitat Ricoeur P (2007) Die Wirklichkeit der historischen Vergangenheit. In: Ricoeur P (Hrsg) Die erzählte Zeit, 2. Aufl. Zeit und Erzählung, Bd. III. Wilhelm Fink, München, S 222–252 Ricoeur P (2007) Die Wirklichkeit der historischen Vergangenheit. In: Ricoeur P (Hrsg) Die erzählte Zeit, 2. Aufl. Zeit und Erzählung, Bd. III. Wilhelm Fink, München, S 222–252
Zurück zum Zitat Santayana G (1905) Reason in common sense. The life of reason, Bd. 1. Scribner, New York (Kapitel 12) Santayana G (1905) Reason in common sense. The life of reason, Bd. 1. Scribner, New York (Kapitel 12)
Zurück zum Zitat Straub J (1998) Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Straub J (Hrsg) Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 81–169 Straub J (1998) Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Straub J (Hrsg) Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 81–169
Zurück zum Zitat White H (1973) Metahistory. Suhrkamp, Frankfurt am Main White H (1973) Metahistory. Suhrkamp, Frankfurt am Main
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Metadaten
Titel
Lebensverlauf, Zufall und individuelle Kriminalprognose
Gefahren beim Erstellen einer Biografie
verfasst von
Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber
Publikationsdatum
12.12.2017
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 1/2018
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-017-0457-9

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