Zusammenfassung
Das Forschungsfeld rund um polizeiliche Praxis ist multiperspektivisch von Kritiken durchzogen. In unserem Fall der kriminalpräventiven Polizeiarbeit kritisieren gesellschaftliche Gruppen Polizeiarbeit als rassistisch (vgl. Cremer 2013). Kritische Jurist*innen und Sozialwissenschaftler*innen werfen der Polizeiorganisation vor, über das Gewaltmonopol Machtmissbrauch zu betreiben. Kritische Polizist*innen beklagen die Bedingungen, unter denen sie ihren Dienst verrichten, wozu auch gehört, in einem ‚kritischen Fokus‘ zu stehen (vgl. Behr 2012).
Diese auf verschiedenen Ebenen rangierenden Kritiken bedürfen der systematischen Auseinandersetzung im Forschungsprozess, die nicht allein auf Perspektiven einer Kritischen Theorie reduziert werden können. Ebenso wenig reicht es aus, Forschungsstrategien und Ergebnisse auf einen selbstreflexiven Fluchtpunkt – wie er beispielsweise in qualitativen Studien zu finden ist – hin zu fokussieren. Beide Perspektiven bieten Potenziale für eine Kritische Polizeiforschung, sie eröffnen jedoch gleichzeitig Desiderata für die Forschungspraxis. In unserem Beitrag loten wir zunächst aus, wie die Perspektiven für Forschungen ‚rund um die Polizei‘ fruchtbar gemacht werden und welche Grenzen hierbei immanent sind. Aus dieser Auseinandersetzung formulieren wir ein Plädoyer für einen mehrdimensionalen Kritikbegriff, den wir anhand unserer Analysen zu polizeilicher Alltagspraxis entfalten, denn ethnografische Forschung über, von, zu und mit der Polizei bietet unterschiedliche Dimensionen – methodische, normative, gegenstandsbezogene – die je eigene Anforderungen stellen und Auseinandersetzungen forcieren.
Kritik bedeutet nicht,
Thesen zu verkünden oder etwas zu verurteilen,
sondern das Geschehen erst einmal wahrzunehmen.
(Alexander Kluge)
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Notes
- 1.
Zur weiteren Differenzierung des Kritikbegriffs siehe Bohmann et al. (2010).
- 2.
Zu Merkmalen und Formen des action research siehe Binder und Hess (2013).
- 3.
Zur ausführlichen Analyse der polizeilichen Arbeit in diesem Projektzusammenhang siehe Porsché und Kiefer (2017).
- 4.
Eine ausführliche Analyse dieses Konzepts findet sich in Negnal et al. (2017).
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Negnal, D., Howe, C., Porsché, Y. (2019). Polizei und Kritik. Ein Beitrag der Ethnografie. In: Howe, C., Ostermeier, L. (eds) Polizei und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22382-3_8
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