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Erschienen in: Der Anaesthesist 11/2016

03.11.2016 | Kardiopulmonale Reanimation | Leitthema

Im Visier des Staatsanwalts

Juristische Fallstricke in der Notfallmedizin

verfasst von: RA Dr. jur. P. Schelling

Erschienen in: Die Anaesthesiologie | Ausgabe 11/2016

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Zusammenfassung

(1) Der Arzt, der einen aus seiner Ex-ante-Sicht frei verantwortlich begangenen Suizidversuch geschehen lässt, ist weder wegen eines Tötungsdelikts noch wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar, wenn der Freitod nach den plausiblen Angaben eines Vorsorgebevollmächtigten dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht. (2) Reanimationsrichtlinien spielen bei der Beurteilung, ob und wann eine Reanimation eingestellt werden darf, auch in der forensischen Praxis eine zentrale Rolle. Deshalb sind deren Befolgung und Umsetzung dringend anzuraten; Abweichungen sind möglich, wenn sie fachlich begründet sind. (3) Der aktuell erklärte, auf Ablehnung einer Fremdbluttransfusion gerichtete Wille eines Zeugen Jehovas ist für den Arzt verbindlich. Fehlt dem Patienten im entscheidenden Zeitpunkt der Indikationsstellung zur Bluttransfusion die Einsichtsfähigkeit und liegt ein „Dokument zur ärztlichen Versorgung“ vor, so ist diese Verfügung Richtschnur ärztlichen Handelns. Liegt eine solche Vorverfügung nicht vor, ist der mutmaßliche Wille zu ermitteln. Ist dies nicht möglich, muss auf das objektive Wohl des Patienten abgestellt und die Bluttransfusion durchgeführt werden (in dubio pro vita).
Fußnoten
1
Sofern nicht „geschäftsmäßig“ i. S. d. § 217 StGB gehandelt wird.
 
2
Nach dem Gesetzesentwurf (BT-DS18/5373) werden „geschäftsmäßige Angebote“ pönalisiert, die „Suizidhilfe als normale Behandlungsoption erscheinen lassen und Menschen dazu verleiten können, sich das Leben zu nehmen“.
 
3
§ 839 Abs. 1, S. 2 BGB i. V. m. Art. 34, S. 1 GG bestimmt, dass bei einer fahrlässigen Amtspflichtverletzung eines Beamten grundsätzlich der Staat oder die Körperschaft als Dienstherr die zivilrechtliche Verantwortung trifft (vgl. auch BGH, Urteil v. 09.01.2003, Az. III ZR 218/01).
 
4
Vgl. Ulsenheimer a. a. O., Rdn. 18b m. H. a. OLG Hamm, NJW 2000, 1801 f.; vgl. auch BGH, Urteil v. 15.04.2014, VI ZR 382/12 (GesR 2014, S. 404 ff.) und BGH. Urteil v. 24.02.2015, VI ZR 106/13 (MedR 2015, S. 724 ff.).
 
5
Zeugen Jehovas berufen sich hierbei auf die Apostelgeschichte 15:28, 29, wo es heißt: „Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht.“ Fremdbluttransfusionen lehnen neben Zeugen Jehovas auch Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften ab, wie z. B. Mitglieder der Evangelischen Glaubensbrüder.
 
6
Ständige Rechtsprechung seit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 31.05.1894.
 
7
Vgl. auch Ulsenheimer in: Anaesthesist 2010, S. 312 f.
 
8
Hierzu im Folgenden.
 
9
Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Aufl. 2015, Rn. 386.
 
10
OLG München, MedR 2003, 174 (176); Ulsenheimer, a. a. O., Rdn. 387.
 
11
OLG München, MedR 2003, 174 (176); Ulsenheimer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 2002, 375 (381); Bender, MedR 1999, 260 (261); Beckmann, MedR 2009, S. 582 (583).
 
12
Weissauer/Hirsch, Anästhesiologie und Intensivmedizin, 1979, S. 273; deshalb soll vor jedem bei einem Zeugen Jehovas geplanten Eingriff geklärt werden, ob und ggf. welche fremdblutsparenden Methoden dieser Patient akzeptiert, etwa die Benutzung eines Cell-Saver; vgl. Kania et al., in Chirurgie und Recht 1993, S. 146.
 
13
BGHSt. 11, 111 (114); vgl. auch BGHSt. 32, 267.
 
14
Vgl. OLG München, MedR 2003, 174; Bender, MedR 1999, 260 (263).
 
15
Bender, MedR 1999, 260 (262).
 
16
OLG München, MedR 2003, 177.
 
17
Zum Meinungsstand: Ulsenheimer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 2002, 375 (381).
 
18
Unter anderem Bender, MedR 1999, 260 (262).
 
19
Unter anderem Ulsenheimer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 2002, 375 (381).
 
20
Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts.
 
21
Höfling, NJW 2009, 2849.
 
22
Liegt nach Ansicht des behandelnden Arztes keine Indikation für eine bestimmte Maßnahme vor, erübrigen sich alle weiteren Überlegungen zur Einwilligung, Konsensusbildung und Reichweite der Vorausverfügung; vgl. Beckmann, MedR 2009, 582.
 
23
Die Anzahl dieser Fälle dürfte überschaubar bleiben; vgl. Bender, MedR 2009, 582 (583).
 
24
Vgl. Beckmann, MedR 2009, 582 (583).
 
25
Vgl. §§ 1908i I, S. 1, 1846 BGB.
 
26
Vgl. § 1901b, II BGB.
 
27
Dieser Fall ist in §§ 1901a ff. BGB nicht ausdrücklich geregelt; vgl. auch Beckmann, MedR 2009, 582 (583).
 
28
Borasio/Heßler/Wiesing, Deutsches Ärzteblatt 2009, 1952 (1956).
 
29
Vgl. Beckmann, MedR 2009, 582, (584).
 
30
Vgl. Beckmann, MedR 2009, 582 (585).
 
31
Bender, MedR 1999, 260 (264 f.); Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Aufl. 2015, Rn. 396.
 
32
Ulsenheimer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 2002, 375 (381); Bender, MedR 1999, 260 (265).
 
33
Seit 01.09.2009; vorher Vormundschaftsgericht.
 
34
Jetzt Familiengericht.
 
35
OLG Celle, NJW 1995, 792 (793).
 
36
Ulsenheimer, a.a.O, Rdn. 394.
 
37
Ulsenheimer, a.a.O, Rdn. 394.
 
Metadaten
Titel
Im Visier des Staatsanwalts
Juristische Fallstricke in der Notfallmedizin
verfasst von
RA Dr. jur. P. Schelling
Publikationsdatum
03.11.2016
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Anaesthesiologie / Ausgabe 11/2016
Print ISSN: 2731-6858
Elektronische ISSN: 2731-6866
DOI
https://doi.org/10.1007/s00101-016-0233-9

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