Erschienen in:
01.09.2014 | Leitthema
Gendermedizin
Geschlechtsspezifische Aspekte in der klinischen Medizin
verfasst von:
Prof. Dr. A. Kautzky-Willer
Erschienen in:
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
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Ausgabe 9/2014
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Zusammenfassung
Gendermedizin berücksichtigt individuell und altersabhängig das biologische und psychosoziale Geschlecht und stellt einen Brückenschlag zur personalisierten Medizin dar. Die Gendermedizin untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Prävention, Wahrnehmung und Präsentation von Krankheiten sowie im Therapieerfolg zwischen beiden Geschlechtern (geschlechtsspezifische Medizin). Dabei sind neben genetischen Unterschieden, Unterschieden bei den Geschlechtschromosomen, Hormonen und im Stoffwechsel auch die Umwelt, Kultur und gesellschaftliche Einflüsse maßgeblich. Außerdem findet lebenslang eine fortlaufende Wechselwirkung zwischen körperlichen und psychosozialen Faktoren statt, die das Wohlbefinden bestimmen. Epigenetische Modifikationen belegen den Effekt von Umweltfaktoren auf körperliche Funktionen mit langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen. Durch fetale Programmierung kann die Gesundheit der Nachkommen schon in utero geschlechtsabhängig geprägt werden. Schmerzempfinden und Stressantworten unterscheiden sich meist deutlich zwischen den Geschlechtern. Insgesamt sind Frauen im Lebenszyklus stärkeren körperlichen Veränderungen unterworfen, die mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen und seelischen Belastungen einhergehen. Frauen entwickeln häufiger Depressionen und funktionelle Einschränkungen. Bei Männern werden „weiblich konnotierte Erkrankungen“ wie Depressionen und Osteoporose weniger oft erkannt. Deutliche Geschlechterunterschiede finden sich in der Medizin bei Veränderungen des Immunsystems und bei chronischen Krankheiten wie Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Hypertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Frauen manifestieren häufiger Autoimmunerkrankungen und Schmerzsyndrome sowie im Alter neurodegenerative Veränderungen. Männer haben eine kürzere Lebenserwartung, weisen aber gleichzeitig anteilmäßig mehr gesunde Lebensjahre auf. Letzteres dürfte zu einem größeren Teil auf psychosoziale und weniger auf biologische Unterschiede zurückzuführen sein, was auch gesundheitspolitische Maßnahmen impliziert. Eine moderne klinische Medizin berücksichtigt individuelle Risikofaktoren auf Basis von geschlechtssensitiven Gesundheitskonzepten mit dem Ziel einer besseren Lebensqualität von Mann und Frau.