Erschienen in:
27.10.2017 | Leitthema
„Spatial turn“
Chance, Herausforderung und Methodenimpuls für die geographische Gesundheitsforschung
verfasst von:
Prof. Dr. Thomas Kistemann, Prof. Dr. Jürgen Schweikart
Erschienen in:
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
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Ausgabe 12/2017
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Zusammenfassung
Die (Wieder‑)Entdeckung des Räumlichen in vielen Wissenschaften wird seit einiger Zeit unter der Bezeichnung „spatial turn“ geführt. Neue Möglichkeiten für die räumliche Analyse und die Modellierung räumlicher, gesundheitsrelevanter Prozesse entstehen durch die enormen Fortschritte in den Bereichen Geographische Informationswissenschaften (GIS), Global Positioning System (GPS), Fernerkundung und computergestützte Kartographie, aber auch bei geostatistischen Verfahren wie räumlichen Verteilungs- und Trendanalysen, Multi-level-Analysen, „spatial data-mining“ oder agentenbasierter Modellierung. Diese Methoden finden zunehmend Anwendung in Epidemiologie, „public health“ und Versorgungsforschung.
In den Kultur- und Sozialwissenschaften wird als „spatial turn“ ein Paradigmenwechsel bezeichnet, der den geographischen Raum auch als sozial und kulturell wirksame Größe wahrnimmt. Diese Raumauffassung versteht Raum nicht nur als leeren Container, sondern auch als Ergebnis sozialer Prozesse. Der euklidische Raum wird ergänzt durch sozial und kulturell überformte Raumwahrnehmungen und -konstruktionen. Der „spatial turn“ als Paradigmenwechsel beschränkt sich nicht darauf, dass der Raum selbst zum Gegenstand avancierter Untersuchungsmethoden wird. Es geht vielmehr darum, sich Forschungsgegenständen mit räumlichen Kategorien zu nähern.
Die geographische Gesundheitsforschung steht mit dem „spatial turn“ vor einer großen Chance, aber auch vor einer doppelten Herausforderung: einerseits geht es darum, die neuen methodischen Möglichkeiten zu erkennen, zu vermitteln und sinnvoll einzusetzen. Andererseits ist sie auch in ihrem Selbstverständnis als Teil der „medical humanities“ gefordert, den „spatial turn“ in seiner sozial- und kulturwissenschaftlichen Dimension zu vollziehen, über klischeehafte Rezeption hinauszugehen und der paradigmatischen Bedeutung des „spatial turn“ gerecht zu werden.