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Erschienen in: Der Nervenarzt 7/2016

21.10.2015 | Juristische Aspekte in der Psychiatrie | Originalien

Zwangsmaßnahmen in der forensischen Psychiatrie

Aktuelle Behandlungspraxis im Maßregelvollzug aus medizinethischer Perspektive

verfasst von: A.-K. Jakovljević, M.A., C. Wiesemann

Erschienen in: Der Nervenarzt | Ausgabe 7/2016

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Zusammenfassung

Hintergrund

Das Bundesverfassungsgericht hat 2011 die gesetzlichen Grundlagen für die Zwangsbehandlung psychisch kranker Patienten im Maßregelvollzug für verfassungswidrig erklärt. Über die Konsequenzen für die Behandlungspraxis in forensischen Kliniken ist bisher wenig bekannt. Die vorliegende Studie untersucht die Durchführungshäufigkeit von Zwangsmaßnahmen und insbesondere von medikamentösen Zwangsbehandlungen im Maßregelvollzug vor und nach dem Jahre 2011 sowie die ethische Bewertung dieser Maßnahmen aus der Perspektive behandelnder Ärzte.

Methode

In einer Befragung von Chefärzten forensischer Kliniken im Jahre 2013 wurden Daten über die aktuelle Behandlungssituation in Maßregelvollzugskliniken in Deutschland erhoben und aus ethischer Perspektive analysiert. Diese Daten wurden mit Behandlungsdaten einer großen Maßregelvollzugseinrichtung aus dem Zeitraum 2007 bis 2013 verglichen.

Ergebnisse

Auch nach April 2011 kamen in forensisch-psychiatrischen Kliniken weiter Zwangsmaßnahmen zur Anwendung. In der Praxis besteht große Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen von Zwangsmaßnahmen. Von allen im Jahre 2012 in Maßregelvollzugseinrichtungen behandelten Patienten waren durchschnittlich 13 % mindestens einmal von einer Isolierung, etwa 3 % mindestens einmal von einer Fixierung und 2,2 % mindestens einmal von einer medikamentösen Zwangsbehandlung betroffen.

Schlussfolgerungen

Aus medizinethischer Perspektive ist eine Auseinandersetzung mit der Anwendungspraxis von Zwangsmaßnahmen dringend erforderlich. Leitlinien und Behandlungsstandards müssen für die spezielle Behandlungssituation der gerichtlich angeordneten Unterbringung im Maßregelvollzug entwickelt werden.
Fußnoten
1
Vgl. dazu z. B. die Diskussion über die Konsequenzen einer nicht hinreichenden gesetzlichen Grundlage für eine medikamentöse Zwangsbehandlung nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 17.07.2012 [3, 16].
 
2
Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung wird die männliche Form verwendet, es sind jedoch normalerweise Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint.
 
3
Die Angaben der Chefärzte hinsichtlich der Patientenzahlen und Häufigkeit der angewendeten Zwangsmaßnahmen beruhen teils auf Schätzungen, teils auf realen Zahlen aus der jeweiligen Klinikdokumentation. In vielen Kliniken wurden zum Zeitpunkt der Befragung diese Daten nicht quantitativ erfasst. Die Anzahl der hier erfassten Patienten beinhaltet die insgesamt im Jahre 2012 behandelten Patienten (Aufnahmen, stationäre Wiederaufnahmen und Entlassungen).
 
4
Die indizierte psychopharmakologische Behandlung bezieht sich auf das psychiatrische Störungsbild, das bei dem Patienten im Rahmen der Behandlung diagnostiziert wurde. In der Befragung wurde nicht hinsichtlich verschiedener Therapieziele (psychiatrisches Störungsbild, Reduktion der Gefährlichkeit) differenziert.
 
5
Strafvollzugsstatistik 2013/2014, S 3, Tab. 1.1: Im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte. Diese Zahlen beruhen lt. Statistischem Bundesamt auf Angaben der Leiter der jeweiligen Einrichtungen [14].
 
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Metadaten
Titel
Zwangsmaßnahmen in der forensischen Psychiatrie
Aktuelle Behandlungspraxis im Maßregelvollzug aus medizinethischer Perspektive
verfasst von
A.-K. Jakovljević, M.A.
C. Wiesemann
Publikationsdatum
21.10.2015
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Der Nervenarzt / Ausgabe 7/2016
Print ISSN: 0028-2804
Elektronische ISSN: 1433-0407
DOI
https://doi.org/10.1007/s00115-015-4437-z

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