Erschienen in:
29.11.2017 | Übersichten
„Verstehen“ in der Psychiatrie – Teil 2
Vom Unverständlichen zur Verständigungsdisposition
verfasst von:
Prof. Dr. J. Valdés-Stauber
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Ausgabe 9/2018
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Zusammenfassung
Hintergrund
In einem vorausgegangenem Aufsatz wurden drei Dimensionen im Gebrauch von „verstehen“ bzw. „das Verstehen“ in der Psychiatrie ausgearbeitet und die zwei ersten (Verstehen als logische Operation und als Sinnerfassung) untersucht. Nun soll ausgehend von der Begriffsanalyse des Unverständlichen eine Wende vom wissenschaftstheoretischen Verstehen zur medizinanthropologischen Verständigung vollzogen werden.
Methode
Es wird eine Systematisierung der Modi des Verstehens und des Unverständlichen anhand eines jeweils zweidimensionalen Modells, basierend auf der Kombination einer erkenntnistheoretischen und einer ontologischen Dimension, vorgenommen. Das Unverständliche würdigend, wird die anthropologische Annahme von „Verstehen“ als eine Haltung bzw. Disposition zur Verständigung und Annahme des Patienten in seiner Andersartigkeit ausgearbeitet.
Ergebnisse
Wird klinisches Material nicht verstanden, können Missverständnis, Nicht-Verständnis (als provisorisches Unverständnis) und Nicht-Verstehbarkeit (verstehen, dass es nichts zu verstehen im Sinne von Entschlüsseln gibt) differenziert werden. Nicht-Verstehbarkeit kann sich von einem Deuten bedienen. Das unidirektionale Verstehen als explanatorische Zuordnung bzw. als psychologisches Erklären, um die Bedeutung von Aussagen und Verhalten des Patienten nach deren Sinn zu erfassen, wird aus medizinanthropologischer Perspektive um einen sich einlassenden bidirektionalen Ansatz der Verständigung in der Zweiten-Person-Perspektive ergänzt.
Diskussion
Die Zweite-Person-Perspektive hebt die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung als besondere existentielle Begegnung hervor, insbesondere in Grenzsituationen. Das Verstehen als Verständigung geschieht nicht in der lückenlosen rationalen Aneignung des Patienten durch Aufdeckung, Enträtselung, Zuordnung, Kategorisierung, Aufklärung oder gar Sinnbestimmung, sondern im Erkennen und Anerkennen der Idiosynkrasie des Anderen und in der einfühlenden bzw. empathischen Herstellung eines Resonanzraumes für das Andersartige im Gegenüber als Patient.