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Erschienen in: Der Nervenarzt 9/2018

Open Access 15.06.2018 | Psychotherapie | Leitthema

Chinesische Medizin und Konstruktivismus – ein neuer Weg in der Psychotherapie

verfasst von: Prof. Dr. F. Wallner, Prof. Dr. K. Greiner

Erschienen in: Der Nervenarzt | Ausgabe 9/2018

Zusammenfassung

Hintergrund

Hintergrund der Untersuchung sind grundlegende, methodologische Unterschiede zwischen westlicher Biomedizin und Klassischer Chinesischer Medizin (CCM) einerseits und auffallende Parallelen der Methodologie von Psychotherapie und CCM andererseits.

Ziel der Arbeit

Die Klärung der Frage nach Strukturparallelen zwischen der CCM und der westlichen Psychotherapie soll, auf Basis der vorliegenden Untersuchungen zur Methodologie der CCM, zu einem umfassenderen, methodologischen Selbstverständnis der Psychotherapie beitragen und damit Impulse für neue Ansätze der psychotherapeutischen Praxis liefern.

Material und Methoden

Die wechselseitigen Interpretationen der CCM über den Zustand des Patienten bedienen sich einer Sprache der Metaphern. Die Metaphern „vermitteln“ zwischen den verschiedenen Positionen der universalen Interdependenz und dem Menschen, der die Sprache verstehen kann. Die Entschlüsselung dieser Metaphern lässt sich auf Basis einer konstruktiv-realistischen Methodologie, genauer auf Basis des epistemologischen Verfahrens der „Verfremdung“ vollziehen.

Ergebnisse und Diskussion

Die Prozessdynamik des mentalen Heilens im Kontext der CCM funktioniert gemäß hermeneutischen Prinzipien. Jene Operationen, die der CCM-Therapeut durchführt, sind nicht organmedizinischer Natur, sondern rein semantischer Art und sie zielen auf die sinnstiftende Integration bedeutungsproblematischen Ausdrucksverhaltens in metaphernlogische Strukturen, um beim leidenden Individuum ein kohärentes Selbstserständnis anzuregen, was mit heilsamen Effekten verbunden ist. Zentral dabei ist, dass die Trennung zwischen Körper und Seele im Hinblick auf die Behandlung in diesem System nicht gedacht werden kann, was eine ganz andere, umfassende Behandlung seelischer Probleme erlaubt, als sie die Schulmedizin aufgrund ihrer Voraussetzungen anbieten kann.
Die Klassische Chinese Medizin (CCM) kann, aufgrund ihrer von der westlichen Biomedizin methodologisch sehr verschiedenen Zugangsweise, wegweisende Impulse für die Praxis der Psychotherapie liefern; schließlich interessiert sich die Psychotherapie ebenso für komplexe Systemzusammenhänge, re-/konstruiert Beziehungsmuster und gestaltet Kohärenzen. Zentral dabei ist jedoch, dass die Einsichten zur Methodologie der CCM keineswegs als Widerlegung der Biomedizin zu verstehen sind, sondern vielmehr als Hintergrund, vor dem sich der Handlungsspielraum von Heilungsprozessen im Bereich der Psychotherapie erweitern lässt.
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) – oder besser ihr Original: die Klassische Chinesische Medizin (CCM) – ist nur mit Verständnis zu verwenden, wenn wir uns über ihre Ontologie, ihre Methodologie und Eigentümlichkeiten ihrer Denkstruktur gründlich informiert haben. Der zentrale grundlegende Unterschied zwischen der europäischen und der chinesischen Denkweise besteht darin, dass im klassischen chinesischen Denken alles auf das Bewusstsein konzentriert ist. Also die Frage, die für den Europäer in der langen Tradition der europäischen Philosophie und europäischen Wissenschaft die wichtigste war – die Frage nach der Wirklichkeit als der vom Subjekt unabhängigen Welt, spielt in der klassischen chinesischen Denkweise keine Rolle. Das müssen wir uns klar machen durch Einübung, dass die Frage „warum“ eine ganz andere Struktur als in der europäischen Denkweise hat. Der Europäer fragt mit dieser Frage über das Subjekt hinaus. Dagegen erscheint diese Vorgangsweise im Kontext des klassischen chinesischen Denkens sinnlos. Man kommt der ursprünglichen chinesischen Denkweise näher, wenn man die Frage „warum“ durch die Frage „wozu“ ersetzt (es ist klar, dass diese Frage für die europäische Wissenschaft unzulässig ist). Wenn wir uns auf die Frage „wozu“ konzentrieren, so eröffnet sich uns ein erster Blick auf die Struktur der chinesischen Wissenschaft und damit auch auf die Struktur der CCM.

Wirklichkeit jenseits von Dinglichkeit

In einem ersten Annäherungsversuch könnten wir sagen, die chinesische Medizin hat einen konstruktivistischen Charakter, oder anders formuliert: der konstruktivistische Aspekt ist stärker als der deskriptive. Aber diese Formulierung ist noch einigermaßen unklar und missverständlich und muss darum konkretisiert werden. Um zum Verständnis eines solchen Konstruktivismus zu gelangen, müssen wir uns die Ontologie des klassischen chinesischen Denkens vergegenwärtigen (Tab. 1).
Tab. 1
Grundlegende Unterschiede im europäischen und chinesischen Denken
Art des Unterschieds
Europäisches Denken
Chinesisches Denken
Ontologie
Unveränderliche Basis der sich verändernden Dinge (Platon: Sein)
Erscheinungen sind unbeständig, entstehend und verschwindend
Methodologie
Induktion und Deduktion
Leitendes Prinzip: Qu Xiang Bi Lei
Denkweise
Lineare Argumentation durch Ursache und Wirkung
Zirkuläre Argumentation: Ein Argument wird durch alle anderen erklärt
Theoretische Struktur
Trennung von Theorie und Praxis
Einheit von Theorie und Praxis
Erfahrung
Passive Aufnahme von Information
Information durch Interaktion
Im Unterschied zur europäischen Denkweise ist das Verständnis von Wirklichkeit im klassischen China nicht an Dinglichkeit gebunden, sondern an Relationen. Außerdem grenzt die chinesische Denkweise nicht zwischen Subjekt und Objekt ab, sondern betrachtet die ganze Welt als mit dem Subjekt verbunden, oder anders ausgedrückt: sollte es etwas geben, das nicht mit dem Subjekt verbunden ist, so ist das für das Subjekt und die damit beschäftigte Wissenschaft unerheblich [15]. Deshalb wurde zurecht die Bezeichnung „Ökosystemwissenschaft“ [9] für die chinesische Medizin eingeführt, um ihre Abgrenzung zur europäischen Medizin, zur Schulmedizin, zu markieren. Die europäische Medizin können wir dagegen als Biomedizin bezeichnen. Um diese Unterscheidung zu konkretisieren und zu sehen, wie bedeutsam sie ist, müssen wir uns der Methodologie der CCM zuwenden (Tab. 1).
Metaphern „vermitteln“ zwischen den verschiedenen Positionen
Anstelle der Kausalität, der zentralen Denkstruktur Europas, tritt Interdependenz. Zur methodologischen Handhabung der Interdependenz, in welche – wie gesagt – die ganze Welt, das Universum eingeschlossen ist, wäre die Kausalität denkbar ungeeignet (sie widerspräche auch der impliziten Anthropologie der CCM). Sondern, an die Stelle der kausalen Verknüpfung muss ein Verfahren gestellt werden, das in gewissem Sinne deskriptiv ist, aber auch den Zusammenhang der einzelnen ontologischen Data herstellt. Hier liefert uns die CCM ein Verfahren, über das man auch aus der Blickweise der modernen europäischen Wissenschaft sagen kann, es ist genial. Das Verfahren ist zirkulär – was für ein Widerspruch zur westlichen Logik! – und die einzelnen Glieder dieser Kette interpretieren sich gegenseitig. Wie kann das geschehen?
Die wechselseitigen Interpretationen müssen sich natürlich der Sprache bedienen. Aber es ist keine Sprache mit abstrahierenden Begriffen, sondern eine Sprache der Metapher. Die Metaphern „vermitteln“ zwischen den verschiedenen Positionen der universalen Interdependenz und dem Menschen, der die Sprache verstehen kann [7]. Doch, wie sind die Metaphern korrekt zu entschlüsseln? Für diese Aufgabe erfanden wir eine Methodologie, welche wir „Verfremdung“ nennen [13]. Sie wurde zunächst unabhängig von unseren Forschungen an der CCM in wissenschaftstheoretischen Kontexten entwickelt und konkretisiert. Sie eignet sich aber auch ausgezeichnet für eine fruchtbare Anwendung der CCM bei der Behandlung psychischer Deformationen.

CCM als Nicht-Newtonische-Wissenschaft

Aus dieser kurzen Skizze von Ontologie und Methodologie der CCM wird bereits ersichtlich, dass die Trennung zwischen Körper und Seele im Hinblick auf die Behandlung in diesem System nicht gedacht werden kann. Die CCM kann unter der Anwendung der Ontologie der fünf Elemente (besser fünf Phasen) – Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser – sowohl körperliche Vorgänge wie auch Bewusstseinsvorgänge einsichtig machen. Dies erlaubt eine ganz andere, umfassende Behandlung seelischer Probleme als sie die Schulmedizin aufgrund ihrer Voraussetzungen anbieten kann [1, 12].
Aus den bisherigen Ausführungen wird wohl klar, dass die Vorstellungen, die über die TCM in der Öffentlichkeit herrschen, die sie in die Nähe der Esoterik bringen, ganz falsch sind. Der Grund für diese falsche Auffassung liegt nicht nur in der extremen Verschiedenheit bzw. Unvereinbarkeit der beiden wissenschaftlichen Konzepte, sondern auch an der Tradition, in welcher die sog. TCM eingeführt wurde. Die TCM stellt eine einseitige und willkürliche Auswahl aus dem Fundus der CCM dar.
TCM ist eine willkürliche Auswahl aus dem Fundus der CCM
Sie ist im Auftrag von Mao Tse-tung mit Richtung auf den Erfolg in der westlichen Welt konzipiert worden. Eine Art von Kulturrelativismus, welcher philosophisch ganz unhaltbar ist, beeinflusst die Rezeption der chinesischen Medizin beträchtlich. Sie wurde mehrfach als unvereinbar mit der Schulmedizin angesehen. Dies trifft nicht zu. Die CCM entwickelt vor dem Horizont ihres Wissenschaftsverständnisses ein Konzept der Medizin, das durchaus als Alternative zur Schulmedizin aufgefasst werden kann, aber keineswegs als Widerlegung der Schulmedizin anzusehen ist (diese fälschliche Einschätzung beruht auf den impliziten Voraussetzungen unseres westlichen Wissenschaftsverständnisses im Sinne einer Wissenschaft nach Newton).

Krankheit als Versagen der Balance

Aus den soeben skizzierten methodologischen Eigenheiten des chinesischen Denkens ergeben sich einige interessante Möglichkeiten psychotherapeutischer Arbeit. Es wird Krankheit als ein Versagen der Balance verstanden (wobei, wie wir schon erwähnten, zwischen psychischen und somatischen Krankheiten nicht unterschieden wird bzw. aus methodologischen Gründen nicht unterschieden werden kann). Eine seelische Krankheit ist demnach ein Verlust der Balance. Die Behandlung muss das Muster der Disharmonie erkennen und sich daran orientieren. Es ist eine Einordnung in ein abstraktes Krankheitsbild nicht möglich. Dies kann man sehr schön am Beispiel von Magengeschwüren demonstrieren. Die Diagnose von Magengeschwüren durch die Schulmedizin stellt nach Chinesischer Medizin drei verschiedene Krankheitsbilder dar [5]. Danach darf bei seelischen Krankheiten nicht nach Ursachen gesucht werden. Das wäre im Sinne der Chinesischen Medizin ein schwerer methodologischer Fehler, sondern nach Weisen des Verlusts des Gleichgewichts. Unter dem Gesichtspunkt der fünf Phasen kann man ein Netzwerk über die Relationen, in welchem ein Individuum steht, z. B. ein „psychisch Kranker“, legen. Darin wird ausgehend von den Zang-Organen (Leber, Herz, Milz, Lunge und Nieren), welche Speicherorgane sind und die Funktion des Transformierens der sog. reinen Substanzen (Chi, Blut und Jing) ausführen, bis zu den Tugenden gegangen; daran anknüpfend zu den Emotionen sowie zu der Rolle, welche der Patient in der Familie spielt, und von da zu den Sprechinstrumenten sowie der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit.

Vermittlung von Realität durch Metaphern

Sprache und Welt sind miteinander verwoben und in den Metaphern vereint. Es gibt keine Realität hinter dem Phänomen, stattdessen erscheint sie in der Sprache. Phänomene werden auf Muster untersucht und zirkulär beschrieben. An die Stelle der Angleichung an die soziale oder biologische Norm tritt eine Zwei-Wege-Regulation. Diese lässt sich sehr schön an einfachen somatischen Problemen demonstrieren. So löst der Akupunkturpunkt Tianshu (ST 25) sowohl Verstopfungen, aber er verschafft auch Linderungen bei Durchfall [6]. Wir erkennen hier einen grundlegenden Unterschied zur Schulmedizin: Akupunktur (und auch CCM als Ganzes) zielt nicht darauf ab einen singulären, kausalen Vorgang zu beeinflussen, sondern drauf, einen Funktionszusammenhang wiederherzustellen. Hier erkennen wir einen prinzipiellen Vorteil der CCM gegenüber der Biomedizin: Es gibt keine Objektwelt/Realität, vor der sich die lebensweltlichen Wahrheiten zu verantworten haben. Das erlaubt die Herstellung eines Sollzustandes anstatt der Hypostasierung des Istzustands.
Hier ist auf ein wesentliches Missverständnis der Chinesischen Medizin in der westlichen Welt hinzuweisen. Es ist nicht falsch zu sagen, dass die Chinesische Medizin eine Naturmedizin ist, allerdings nicht im Sinne des europäischen Naturbegriffs. Natur wird in der Chinesischen Medizin nicht als normative Instanz gebraucht, sondern alles was möglich ist, ist auch Teil der Natur. Möglichkeit gehört zur Realität. „Natur“ ist deshalb im klassisch chinesischen Sinn nicht das, was vor dem Zugriff des Menschen da ist. Eine zentrale Denkstruktur der Chinesischen Medizin ist die Auflösung der Substanz in Beziehungen. Hier das Wort Beziehung zu verwenden, ist vermutlich angemessener als das Wort Relationen. Es sind Relationen, in denen menschliche Aktivitäten inhärent sind, und das ist mit Beziehung auszudrücken. Diese Beziehungen können wir an Shen, Jing und Chi sehr schön demonstrieren. Diese Beziehungen sind auch die zentralen Beziehungen.
Shen (sehr vereinfacht gesprochen) ist eine Metapher, die sich auf den Geist eines Menschen bezieht; nicht als Substanz, sondern wiederum als ein Funktionskreis von Beziehungen. Chi ist die kreative Potenz und Jing ist die Essenz des Lebens. Die Ersetzung von Substanz durch Beziehungen geschieht durch Zirkularität in Aktion: Shen reguliert Jing und Chi, gleichzeitig aber generieren Jing und Chi nicht nur sich selbst, sondern auch Shen [8].
Gefühle und Emotionen werden als Bedingungen vieler Krankheiten verstanden
Der Ursprung von Shen im Körper ist das metaphorische Herz. Die Interkonnektivität von Geist und Körper macht eine Trennung zwischen beiden unmöglich. Im klassischen China werden Gefühle und Emotionen als Bedingungen vieler Krankheiten verstanden. Dies kann man aus den „Prioritäten des guten Arztes“, wie sie in den klassischen Schriften angeführt werden, erkennen [11]. Erstens, behandle den Geist. Zweitens, wisse, wie man den physischen Körper ernährt. Drittens, kenne den richtigen Einsatz der Kräuter. Viertens, arbeite mit großen und kleinen Nadeln. Fünftens, wisse, wie man den Zustand von Chi und Blut im Körper diagnostiziert [10].

Wie funktioniert mentales Heilen im Kontext der CCM? Eine psychotherapiewissenschaftliche Antwort

Zwischen der Klassischen Chinesischen Medizin (CCM) und der westlichen Psychotherapie bestehen auffallende Strukturparallelen, wie z. B. das holistische Erkenntnisinteresse mit Fokus auf Kontextbetrachtung, die Orientierung an den Prinzipien Interdependenz und Relationales sowie der Primat des rekursiv-zirkulären Denkens. Damit ist auch schon jene wesentliche Eigenschaft genannt, welche die beiden Wissenschaften teilen, nämlich eine nichtnaturwissenschaftliche Grundgesinnung.
Obschon sie in eine Vielzahl von Schulen oder Modalitäten methodologisch ausdifferenziert ist, lässt sich für die Psychotherapie insgesamt behaupten, dass sie sich dem unifizierenden Geist des Naturalismus erfolgreich widersetzt hat. Im Unterschied zur naturwissenschaftlich geprägten Schulmedizin mit ihrer Fixierung auf Symptombetrachtung und Symptombehandlung, die sich an das Prinzip der Kausalität und die damit zusammenhängende nomothetische Basisorientierung streng bindet, um über den exakten Weg der quantifizierenden Analyse zu generalisierenden Aussagen zu gelangen, interessiert sich die Psychotherapie für komplexe Systemzusammenhänge, re-/konstruiert Beziehungsmuster und gestaltet Kohärenzen. Gemäß der idiographischen Ausrichtung liegt der psychotherapeutische Untersuchungsfokus auf der Entwicklung sinnverstehenden Wissens über die Struktur der Patientenindividualität. Dabei sind sich Psychotherapeuten nicht nur der Unüberwindbarkeit ihres personalen Involviertseins in den sinnverstehenden Erkenntnisprozess voll bewusst; sie nützen diese unauflösliche Verstrickung darüber hinaus auch methodisch über das Instrument der Selbstreflexion [2]. Hier verdeutlicht sich ein Subjektbewusstsein, wie es bereits weiter oben im Kontext des CCM-Denkens diskutiert wurde.

Kontextualisieren als elementares Funktionsprinzip

So gesehen handelt es sich bei den psychotherapeutischen Modalitäten um Forschungs- und Interventionsprogramme, die sich wissenschaftstheoretisch als polymorphe Praxen des sinnstiftenden Erkenntnisgenerierens in heilungsfördernder Intention interpretieren lassen. In dieser Lesart von Psychotherapie wird das typische Profil einer hermeneutischen Wissenschaft sichtbar, die auf dem elementaren Funktionsprinzip des Kontextualisierens basiert, wonach es Etwas mit Etwas in Zusammenhang zu bringen gilt, um Etwas als Etwas verstehbar zu machen. Im Rahmen ihrer vielgestaltigen Interpretationspraxen bemühen sich Psychotherapeuten darum, die leidvollen Erfahrungsmomente der Fragwürdigkeit, Schwerverständlichkeit oder Unverständlichkeit im persönlichen Erlebenszusammenhang ihrer Klienten über Prozesse des sinnschaffenden und bedeutungsgestaltenden Einbindens in je modalitätsspezifische Theorien, Konzepte und Modelle des Psychischen verstehbar und damit handhabbar zu machen, was von heilungsfördernden Effekten begleitet wird [3].
Im Prinzip lässt sich diese psychotherapiewissenschaftstheoretische Perspektive, die unter dem Titel „Logopoietische Hermeneutik/Textwissenschaft“ [3, 4] ausgearbeitet vorliegt und vor allem die psychodynamisch-analytischen Module des Psychotherapierens epistemologisch konzeptualisiert, auch auf die Praxis des mentalen Heilens im Kontext der CCM anwenden. Strukturanalytisch betrachtet ist in der mentalen CCM-Therapie nämlich dieselbe Funktionslogik am Werk. Das ist eine Behauptung, die es nun anhand der Heraushebung einiger zentraler Denkelemente und Grundbegriffe der CCM zu plausibilisieren gilt.

Therapie jenseits der Trennung von Körper und Seele

Ein wesentliches Charakteristikum der mentalen CCM-Therapie ist die körperlich-organische Darstellung geistig-seelischer Aktivitäten und Zustände. In diesem Sinne wird z. B. …
nie vom Zorn die Rede sein, sondern von bestimmten somatischen Zuständen, die wir als Zorn deuten können. Das heißt, die chinesische Denkweise verlässt die Einheit von Körper und Seele nicht, sondern ihr ist diese Einheit immer gegenwärtig. Die chinesische Denkweise unterscheidet hier nicht [14].
Erst vor dem Denkhintergrund dieser vorausgesetzten Einheit bzw. Nichtunterscheidbarkeit wird die sinnbildliche Gebrauchsweise von Sprache verständlicher. An anschaulichen Wendungen, wie etwa „wenn die Niere das Entsetzen packt“ oder „wie ein Messer im Rücken“, sowie an bildhaft-poetischen Ausdrücken, wie „Schleim im Herzen“, „innerer Leberwind“, „Leberfeuer“, „Schwere des Mondes“ oder „der suchende Mönch“ [12], kristallisiert sich die metaphorische Struktur der therapeutischen CCM-Sprache deutlich heraus. Aber auch die relationalen Zuordnungen von Körperorganen (Leber, Herz, Milz, Lunge, Nieren) zu bestimmten „Phasen“ bzw. „Elementen“ (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser; [1]) werden in heilungswissenschaftlichen Kontexten nur auf der Basis einer zugrunde liegenden Metaphernlogik sinnvoll verwend- und verwertbar.
Für eine metaphernzentrierte Sichtweise sprechen nicht zuletzt die großen Irritationen, die sich stets auf das Neue auftun, wenn nach dem Wesen der „Meridiane“ gefragt wird. Genaugenommen lässt sich darauf keine klare Antwort finden. Andererseits aber existieren unzählige „Belege, die zeigen, dass wirklich etwas dran ist. Das ist nicht Suggestion oder Aberglaube. Nur was sind Meridiane? Wir wissen es nicht, müssten wir heute sagen. Zunächst muss man die Bedingungen des Meridiansystems anschauen. Ein Irrweg, der naheliegend war und der vor ungefähr 20 Jahren aufgekommen ist, inzwischen aber wieder aufgegeben wurde, war der, Meridiane mit dem Nervensystem zu vergleichen. Denn das ist völlig sinnlos“ [14].

Therapie als Akt der Vereigentlichung

Es spricht vieles dafür, die mentale CCM-Therapie als ein metaphernbasiertes hermeneutisches Forschungs- und Praxissystem ernst zu nehmen und ihre nichtnaturwissenschaftliche Konstituiertheit zu akzeptieren. Denn …
Behandeln heißt hier nicht Ursachen für eine Krankheit angeben, sondern Behandlung heißt, mit dem Patienten einen Weg zu gehen, ihn zur Selbstheilung anzuleiten – und das kann man in verschiedenen Weisen tun [14].
Obschon es für eine solche Wegwanderung keinen einheitlichen Routenplan gibt, handelt es sich freilich nur dann um eine professionelle Intervention, solange man sich innerhalb der theoretisch abgesteckten Feldgrenzen der CCM bewegt. Das Insgesamt der therapiekonzeptuellen Konstrukte, die sich in den chinesischen Denktraditionen ideengeschichtlich herausgebildet haben, kann dabei als Sinnmatrix der CCM bezeichnet werden, mit der der gigantische metaphernsprachlich aufgespannte Bedeutungsrahmen gegeben ist, welcher die methodische Grundlage für die therapeutische CCM-Praxis darstellt. Die große Kunst des CCM-Therapeuten besteht nun darin, dass er das irritierende, bedeutungsfragliche Ausdrucksverhalten des Patienten, in dem sich jene Selbstunverständlichkeit artikuliert, an der der Patient mental leidet, bedeutungsgenerierend bzw. sinnstiftend in diese Sinnmatrix eingliedert, einbindet, integriert. Im Zuge dieses kontextuellen Integrationsgeschehens ergeben sich metaphernsprachlich vermittelte Bedeutungsofferten bzw. Sinngestaltungsangebote, die dem Patienten nun zur Verfügung stehen und durch deren Aneignung er die leidvoll erlebte Selbstunverständlichkeit überwinden kann. In diesem Akt der Vereigentlichung ist der therapeutische, heilungsfördernde Wert der mentalen CCM-Intervention zu verorten (Abb. 1).
Die Prozessdynamik des mentalen Heilens im Kontext der CCM hat nicht das Geringste zu tun mit kausalanalytischen Erklärungen in naturwissenschaftlicher Manier, sondern funktioniert gemäß hermeneutischen Prinzipien. Jene Operationen, die der CCM-Therapeut durchführt, sind nicht organmedizinischer Natur, sondern rein semantischer Art und sie zielen auf die sinnstiftende Integration bedeutungsproblematischen Ausdrucksverhaltens in metaphernlogische Strukturen, um beim leidenden Individuum ein kohärentes Selbstverständnis anzuregen, was mit heilsamen Effekten verbunden ist.

Fazit für die Praxis

Aus den skizzierten methodologischen Eigenheiten des chinesischen Denkens ergeben sich einige interessante Möglichkeiten der psychotherapeutischen Arbeit.
  • Krankheit wird als ein Versagen der Balance verstanden (wobei zwischen psychischen und somatischen Krankheiten nicht unterschieden wird bzw. aus methodologischen Gründen nicht unterschieden werden kann). Eine seelische Krankheit ist demnach ein Verlust der Balance.
  • Die Behandlung muss das Muster der Disharmonie erkennen und sich daran orientieren. Eine Einordnung in ein abstraktes Krankheitsbild ist nicht möglich. Demnach darf bei seelischen Krankheiten nicht nach Ursachen gesucht werden, das wäre im Sinne der Chinesischen Medizin ein schwerer methodologischer Fehler, sondern nach Weisen des Verlusts des Gleichgewichts.
  • Behandeln heißt hier nicht, Ursachen für eine Krankheit anzugeben, sondern Behandlung heißt, mit dem Patienten einen Weg zu gehen, ihn zur Selbstheilung anzuleiten – und das kann man in verschiedenen Weisen tun.

Danksagung

Die Autoren danken Herrn Dr. Jan Brousek für die redaktionelle Bearbeitung des Textes.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

F. Wallner und K. Greiner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Metadaten
Titel
Chinesische Medizin und Konstruktivismus – ein neuer Weg in der Psychotherapie
verfasst von
Prof. Dr. F. Wallner
Prof. Dr. K. Greiner
Publikationsdatum
15.06.2018
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Psychotherapie
Erschienen in
Der Nervenarzt / Ausgabe 9/2018
Print ISSN: 0028-2804
Elektronische ISSN: 1433-0407
DOI
https://doi.org/10.1007/s00115-018-0541-1

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