Erschienen in:
01.02.2020 | Leitthema
Neurologen und Neurowissenschaftler in der NS‑Zeit: Versuch einer Bewertung
verfasst von:
Prof. Dr. Axel Karenberg, Heiner Fangerau, Michael Martin
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2020
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Zusammenfassung
Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) sollte 75 Jahre nach Ende der NS-Diktatur erforscht werden, bei welchen früheren Vorsitzenden, Ehrenvorsitzenden und Ehrenmitgliedern formale und/oder inhaltliche Bezüge zum Nationalsozialismus nachzuweisen sind. Bei der Neuformierung der DGN im Jahr 1950 waren 6 von 7 „Gründervätern“ frühere Mitglieder der NSDAP, was dem traditionellen Narrativ vom „Neuanfang“ widerspricht. Auch die ersten 4 (Pette, Schaltenbrand, Vogel, Döring) und insgesamt 10 von 13 bis 1976 amtierenden Präsidenten (Zülch, Bay, Hirschmann, Jung, Bauer, Behrend) sowie der Ehrenvorsitzende Bodechtel hatten der NSDAP, SA oder SS angehört. Unter den bis 1985 ernannten deutschen bzw. österreichischen Ehrenmitgliedern weisen rund zwei Drittel Verbindungen zum NS-System oder zur NS-Ideologie auf (z. B. Becker, Birkmayer, Jacob, Reichardt, Seitelberger, Tönnis, von Weizsäcker). Die individuelle Haltung von Neurologen zur Eugenik reichte von Zustimmung bis Ablehnung, an Erbgesundheits(ober)gerichten tätig waren wenige. Keiner der hier betrachteten Ärzte war unmittelbar an Tötungshandlungen beteiligt, einzelne wussten von der „Begleitforschung“ im Rahmen der „Euthanasie“, andere nutzten vor und nach 1945 die so generierten Forschungsressourcen. Als einziger Professor für Neurologie unternahm Georg Schaltenbrand ethisch inakzeptable Menschenversuche. Praktisch alle Neurologen konnten nach Kriegsende und mitunter langdauernden Entnazifizierungsverfahren ihre Karriere fortsetzen, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit stellte die Ausnahme dar. Kategorisierungen wie „Kollaborateure“, „Profiteure“ und „Ambivalente“ sind durch eine differenziertere Betrachtungsweise zu ersetzen. Hinsichtlich der fachinternen Vergangenheitspolitik empfiehlt sich ein Vorgehen, das nach Erinnerungskategorien unterscheidet und die Benennung von Preisen nach belasteten Persönlichkeiten vermeidet.