Anatomie des Leistenkanals
Um Krankheitsbilder im Bereich der Leiste richtig einzuordnen, gilt es, zunächst die Anatomie der Leiste zu verstehen. Bei den im Bindegewebe liegenden Ursachen geht es vor allem um Veränderungen im Bereich des Leistenkanals. Dieser wird nach kaudal durch das Leistenband, nach ventral durch die Aponeurose des M. obliquus externus und nach kranial durch den M. transversus und den M. obliquus internus gebildet. Die Hinterwand besteht aus der Faszie des M. transversus und stellt den mechanisch schwächsten Teil des Leistenkanals dar. Beim Mann zieht, bedingt durch den Descensus testis im zweiten embryonalen Trimenon, der
Samenstrang
durch den Leistenkanal. Dieser besteht aus dem Vas deferens, der A. testicularis, dem venösen Plexus pampiniformis und einem autonomen Nervengeflecht (Plexus testicularis). Bei der Frau ist es das Lig. teres uteri, das durch den Leistenkanal verläuft.
Nerven, die im Leistenkanal verlaufen, sind der N. ilioinguinalis und der R. genitalis des N. genitofemoralis, wobei die Verläufe vielfach eine anatomische Lagevariabilität haben [
12,
13]. Diese Nerven sind ausschließlich für die oberflächliche Hautsensitivität in der Leistenregion zuständig.
Anatomisch wird der innere Leistenring (Anulus inguinalis profundus), der lateral den inneren Eingang in den Leistenkanal bildet, vom äußeren Leistenring (Anulus inguinalis superficialis) unterschieden, der medial den Ausgang des Leistenkanals darstellt. Von einer indirekten Leistenhernie
spricht man, wenn eine Vorwölbung des Peritoneums (Bruchsack) durch den inneren Leistenring hindurchtritt. Eine direkte Leistenhernie
liegt vor, wenn sich der Bruchsack durch die Hinterwand des Leistenkanals hindurchdrückt.
Begriffsbestimmung
Schwieriger wird die Diagnosestellung, wenn trotz aller Diagnostik und konservativen Maßnahmen der Schmerz in Ruhe verschwindet, sich aber unter Wiederaufnahme der Belastung zurückmeldet und keine echte Hernie nachweisbar ist. Hier gelangt man in eine „Grauzone“, die in den letzten Jahren zunehmend an Interesse gewonnen hat. Die Nomenklatur
ist erstaunlich vielseitig: Man spricht von der „Sportlerleiste“, der „Sportlerhernie“, der „weichen Leiste“, der „Hernia incipiens“, der „Symphysitis“, der „Pubalgie“, dem „pubic inguinal pain syndrome“ (PIPS), der „pubic bone stress injury“, dem „Disbalance-Syndrom“, der „Gilmores groin“ oder der „inguinal disruption injury“.
Die Vielzahl der Begriffe lässt das Problem bereits erkennen. Kaum ein Beschwerdekomplex wird zwischen Sportmedizinern, Orthopäden und Chirurgen so kontrovers diskutiert wie dieser. Viele Autoren haben sich an einer pathophysiologischen Erklärung und entsprechenden Definition versucht, von denen sich aber keine durchsetzen konnte. Einigkeit besteht heute nur darüber, dass es sich nicht um eine klassische Hernie handelt.
Der Begriff
„Gilmores groin“
wurde 1980 von O.J. Gilmore geprägt. Er beschreibt eine Schwächung oder Ausdünnung des M. obliquus externus und seiner Faszie bzw. Dilatation des äußeren Leistenrings in Verbindung mit einer Separation der „conjoint tendon“ vom Leistenband und Schlaffheit der Transversalisfaszie [
14,
15,
16].
Das „imbalance syndrome“
oder auch „disbalance syndrome“ erklärt die Beschwerdesymptomatik durch den Muskelzug des M. rectus abdominis auf der einen Seite und dem M. adductus longus auf der Gegenseite der Symphyse. Durch einseitige Belastung kann sich hier ein Ungleichgewicht entwickeln. Die physiologische Biomechanik wird dadurch gestört, und es kommt zu Einrissen an den Sehnenansätzen. Dies kann wiederum einen Leistenschmerz auslösen.
Meyers spricht von einem
„pubic joint“
und schreibt dem Leistenband und Schambein eine gelenkartige Funktion zu. Durch ein Ungleichgewicht der adduzierenden und abduzierenden Kräfte werden Schmerzen hervorgerufen, die durch Scherkräfte an muskulofaszialen Ansätzen am Os pubis entstehen [
17].
Die „Osteitis pubis“, im spanischen Sprachraum auch „Pubalgia athletica“ genannt, entsteht durch repetitiven Stress des muskulotendinösen Komplexes am Schambeinansatz. Auch eine vermehrte Spannung durch Muskelzug am Os pubis, wie bei der Sportlerleiste durch Retraktion des M. rectus abdominis, kann dafür ursächlich sein.
David Lloyd aus England sieht als Ursache der Leistenschmerzen vor allem eine erhöhte Spannung am Leistenbandansatz am Os pubis. Um diese Spannung zu beseitigen, hat er ein nach ihm benanntes Verfahren entwickelt, das „Lloyd-Release“. Hierbei wird laparoskopisch das Leistenband an seinem Ansatz durchtrennt und anschließend eine laparoskopische Netzverstärkung durchgeführt.
Die bisherigen Definitionsversuche bleiben unbefriedigend und sehen den Beschwerdekomplex der Sportlerleiste eher als eine
Ausschlussdiagnose
. So beschreiben Farber et al. die Sportlerhernie als einen „nicht anders zu erklärenden chronischen Leistenschmerz“ [
18,
19].
Eine ungewöhnliche Erklärung für den Leistenschmerz hat Harmon [
20] formuliert: „Phänomen von chronisch aktivitäts-bezogenen Leistenschmerzen, welche unempfänglich für konservative Therapie aber eine signifikante Verbesserung durch eine operative Therapie erfahren“. Demnach führt erst eine erfolgreiche Operation zur richtigen Diagnose.
Im Gegensatz dazu sehen wir in der Sportlerleiste keine Ausschlussdiagnose, sondern eine klare abgrenzbare Pathologie, die durch typische Beschwerden, reproduzierbare klinische und sonographische Untersuchungsergebnisse untermauert und den intraoperativen Befund belegt ist.
Dieser
pathophysiologische Ansatz
deckt sich mit den Ergebnissen von Swan und Wolcott, die in einer Übersichtsarbeit vor allem eine Schwäche in der Hinterwand des Leistenkanals als Ursache für die chronischen, aktivitätsbezogenen Leistenschmerzen beschreiben [
20,
21].
Dies steht im Widerspruch zur Auffassung anderer Autoren, die in der Entstehung der Sportlerleiste ursächlich eine „groin disruption“ (Einriss) sehen und damit eine Verletzung der „conjoint tendon“, der sichelförmigen gemeinsamen Sehne von M. transversus und M. obliquus internus am Schambeinrand. Demnach sollten bei der operativen Exploration in diesem Bereich narbige Veränderungen mit fehlendem Sehnenspiegel nachweisbar sein. Im eigenen Patientenkollektiv konnte bei keinem der von uns operierten Patienten diese verletzungsbedingte Pathologie beobachtet werden. Histologische Untersuchungen der medialen Leistenkanalhinterwand von Amato et al. [
22] konnten vielmehr in Gewebebiopsien vom Faszienrand direkter Hernien eine signifikante degenerative Veränderung mit fibrohyaliner Degeneration nachweisen. Auffällig waren dabei auch Veränderungen der nervalen Strukturen mit Ödem, degenerativer Fibrose und Atrophie [
20,
22].
Unterstützend für die Definition der Sportlerleiste als Schwäche der Leistenkanalhinterwand mit konsekutiver Nervkompression sind auch die eigenen Ergebnisse der histologischen Aufarbeitung der resezierten Nervanteile des R. genitalis. Hierbei konnte immer eine
perineurale Fibrose
nachgewiesen werden [
23].
Therapie der Sportlerleiste
Bei der Versorgung von Sportlerleisten wird das ideale Therapiekonzept weiterhin kontrovers diskutiert. Es fehlen prospektiv randomisierte Studien, welche die verschiedenen therapeutischen Ansätze und Verfahren vergleichen. Der
Evidenz
liegen nur Kasuistiken und Kohortstudien (Level III–IV) sowie Expertenmeinungen (Level V) zugrunde. Ein Positionspapier der Britischen Hernia Society besteht ebenfalls nur aus der Sammlung von Expertenmeinungen [
24].
Die Therapie richtet sich vor allem nach der „vermuteten“ zugrunde liegenden Ursache. Sie reicht von Schonung und anschließenden konservativen Trainingsprogrammen bis hin zu teils aufwendigen Operationen.
Konservative Therapie
Vor allem traumatische Ursachen des Leistenschmerzes, Zerrungen Risse, Entzündungen und Reizungen sind der konservativen Therapie zugänglich. Hierbei wird durch Schonung der auslösende Reiz vermieden. Zusätzlich können durch
antiinflammatorische Medikation
und/oder lokale Injektion von Kortikosteroiden, Traumeel und Dextrose die Beschwerden gebessert werden [
25]. Ergebnisse zur Eigenblutbehandlung/plättchenreichem Plasma (PRP) liegen noch nicht in größerer Fallzahl vor. Intensive
physiotherapeutische Programme
mit Stretching und Friktionsbehandlungen sowie Massagen haben einen wichtigen Stellenwert im Rahmen der sportlichen Rehabilitation. Zusätzlich werden Koordinations- und Stabilisationsübungen zum Ausgleich muskulärer Dysbalancen sowie osteopathische Maßnahmen durchgeführt [
26],
27]. Über die Dauer eines konservativen Therapieversuches gibt es unterschiedliche Meinungen, wobei der zeitliche Druck vor allem bei professionellen Sportlern durch Mannschaft und Verein nicht zu unterschätzen ist [
26,
5,
28,
29].
Operative Therapie
Prinzipiell werden 3 unterschiedliche operative Verfahren diskutiert, welche die verschiedenen pathophysiologischen Ansätze widerspiegeln, die aber auch häufig kombiniert werden:
-
Geht man von einer Nervenkompression aus, so sollte eine lokale Neurolyse oder Neurektomie erfolgen.
-
Für die „Imbalance“ der beteiligten Muskulatur werden neben Refixationen des lateralen Rektusmuskelrandes auch sog. Releasing-Verfahren vorgeschlagen, partielle Tenotomien von M. rectus und/oder Adduktorenmuskulatur bis hin zur laparoskopischen Durchtrennung des Lig. inguinale.
-
Außerdem wird die Stabilisierung der umschriebenen Schwäche/Vorwölbung der Leistenkanalhinterwand mit oder ohne Netzverstärkung empfohlen.
Trotz unterschiedlicher Ansichten über die pathophysiologische Ursache von Leistenschmerzen beinhaltet die operative Therapie in den meisten Fällen eine Stabilisierung der Leistenkanalhinterwand. Diese wird in Abhängigkeit vom operativen Zugangsweg ggf. mit einer Neurolyse/Neurektomie und oder einem zusätzlichen Releasing-Verfahren
kombiniert.
Im Jahr 2002 wurde auf dem 111. Internationalen Fußballkongress in Madrid erstmals ein neues offenes Nahtverfahren zur Versorgung von Sportlerleisten vorgestellt, die
Minimal-Repair-Techniknach
Muschaweck. Hierbei wird selektiv der Hinterwanddefekt unter Schonung der intakten Anteile mittels einer Fasziendopplung repariert. Durch Einbeziehung des lateralen Rektusrandes in die Nahtreihe wird dieser lateralisiert und die bei einer Sportlerleiste erhöhte Spannung am Schambeinansatz reduziert. Dieses Operationsverfahren, das in Lokalanästhesie im tageschirurgischen Setting durchgeführt werden kann, vermeidet den Einsatz großflächiger, nichtresorbierbarer Kunststoffprothesen und ermöglicht den Erhalt des Muskelgleitlagers. Wichtig ist hierbei die Möglichkeit, eine Schädigung des komprimierten R. genitalis zu erkennen und ggf. eine Neurolyse oder Neurektomie zeitgleich durchzuführen. Diese Beurteilung ist bei einem laparoskopischen Vorgehen nicht möglich und birgt das Risiko der Schmerzpersistenz durch Belassung des geschädigten Nerven. In einer prospektiven Kohortenstudie mit 129 Patienten, davon 67 % professionelle Sportler, konnte die Effektivität der Minimal-Repair-Technik nachgewiesen werden. So konnten die operierten Sportler im Durchschnitt nach 7 Tagen das Training wieder aufnehmen [„interquartile range“ (IQR) 4 bis 14 Tage]. Nach 14 Tagen waren 80 % der Sportler beschwerdefrei und konnten an ihre alte Form anknüpfen [
23].