Ergebnisse
Verglichen mit den Gesunden zeigten sich für die Patientengruppe mit Depression erwartungsgemäß höhere Werte für Depressivität (MPat = 15,47, SDPat ± 4,52; MKG = 3,40, SDKG ± 2,44; t (28) = −9,10, p < 0,001) und Ängstlichkeit (MPat = 11,87, SDPat ± 3,29; MKG = 1,73, SDKG ± 1,71; t(21,04) = −10,58, p < 0,001). Außerdem hatten die Patient_innen geringere Ausprägungen der körperlichen (MPat = 54,91, SDPat ± 8,33; MKG = 62,16, SDKG ± 3,33; t(18,37) = 3,13, p = 0,004) und psychischen Gesundheit (MPat = 13,66, SDPat ± 5,29; MKG = 35,68, SDKG ± 2,87; t(28) = 14,16, p < 0,001). Die Sprechdauer der Patient_innen im ausgewählten Gesprächsausschnitt war nicht signifikant länger als der Sprechanteil der Kontrollprobanden (Dauer: MedPat = 85,55 s, SDPat ± 55,75, MinPat = 18,42 s, MaxPat = 171,36 s; MedKG = 55,43 s, SDKG ± 37,91, MinKG = 14,54 s, MaxKG = 159,14 s, U (15,15) = 80,00, p = 0,19; Silbenanzahl: MedPat = 321,00, SDPat ± 303,60, MinPat = 99, MaxPat = 990; MedKG = 301,00, SDKG ± 217,96, MinKG = 84, MaxKG = 895, U (15,15) = 93,00, p = 0,44). Die Verteilungen der nichtparametrischen Skalen sind im Zusatzmaterial online: Abbildung S1 zu sehen. Die Häufigkeit einsilbiger Antworten (vorwiegend „Nein“) variierte zwischen den Gruppen (MPat = 11,36, SDPat ± 4,97, MKG = 7,43, SDKG ± 3,65; t(23,87) = −2,38, p = 0,03).
Die Ergebnisse der Multi-Level-Analysen sind in Tab.
1 zusammengefasst. Es zeigte sich ein signifikanter Gruppenunterschied in Bezug auf die Pausenlänge. Patient_innen machten signifikant längere Pausen (standardisierte Regressionskoeffizient [
β] = 0,11,
p = 0,02,
r = 0,16). In Bezug auf die Fragebogenmaße fanden sich Zusammenhänge zwischen der Pausenlänge und der psychischen Gesundheit (
β = −0,13,
p < 0,01,
r = −0,18)sowie auch im Besonderen zur Ängstlichkeit (
β = 0,12,
p < 0,01,
r = 0,17). Kürzere Pausen scheinen demnach mit psychischer Gesundheit zusammenzuhängen. Die Sprechgeschwindigkeit konnte signifikant negativ durch Depressivität (
β = −0,18,
p = 0,04,
r = −0,23) und Ängstlichkeit (
β = −0,20,
p < 0,01,
r = −0,25) vorhergesagt werden. Es konnten keine signifikanten Zusammenhänge in Bezug auf die F
0, die Spannweite der F
0 und die körperliche Gesundheit gefunden werden. Die einsilbigen Antworten hatten eine geringere Spannweite der F
0 (Mittelwert einsilbige Antworten: 30,25 Hz, Mittelwert sonstige Antworten: 45,68 Hz,
t(422,63) = 6,00,
p < 0,01). Die „Intraclass-correlation“(ICC)-Werte zeigen, dass innerhalb der frequenzbasierten Maße (F
0, Spannweite der F
0) im Vergleich zur Pausenlänge eine höhere intraindividuelle Variabilität zu sehen ist. Diese scheint in den verschiedenen Sprechanteilen ein eher konstantes Merkmal innerhalb einer Person zu sein. Frauen weisen erwartungskonform generell höhere Grundfrequenzen und eine höhere Spannweiten der Grundfrequenz auf. In Bezug auf die Sprechgeschwindigkeit und Pausenlänge gibt es keine Geschlechtsunterschiede.
Tab. 1
Ergebnisse der Multi-Level-Regressionen zum Zusammenhang zwischen paraverbalen Merkmalen und Gruppenzugehörigkeit sowie psychischen Variablen (Depressivität, Ängstlichkeit) und körperlicher Gesundheit
– | N_obs, N_p | 1218, 29 | 1218, 29 | 1187, 28 | 1829, 29 |
Gruppe | β/p | −0,05/0,47 | −0,12/0,08 | −0,09/0,27 | 0,11/0,02 |
Geschlecht | β/p | 0,78/<0,01 | 0,21/<0,01 | −0,04/0,61 | 0,02/0,64 |
L1 Varianz | 746,9 | 1635,6 | 2,56 | 2,04 |
L2 Varianz | 283,6 | 194,7 | 0,50 | 0,08 |
ICC | 0,28 | 0,11 | 0,16 | 0,04 |
R2 | 0,69 | 0,16 | 0,12 | 0,05 |
Körperliche Gesundheit (SF-36) | β/p | 0,13/0,10 | 0,12/0,13 | 0,07/0,48 | 0,01/0,85 |
Geschlecht | β/p | 0,79/<0,01 | 0,22/<0,01 | −0,03/0,71 | 0,02/0,71 |
L1 Varianz | 746,9 | 1635,5 | 2,56 | 2,04 |
L2 Varianz | 257,9 | 202,9 | 0,51 | 0,10 |
ICC | 0,26 | 0,11 | 0,17 | 0,05 |
R2 | 0,69 | 0,17 | 0,13 | 0,05 |
Psychische Gesundheit (SF-36) | β/p | 0,05/0,48 | 0,10/0,13 | 0,12/0,13 | −0,13/<0,01 |
Geschlecht | β/p | 0,78/<0,01 | 0,21/<0,01 | −0,04/0,59 | 0,02/0,60 |
L1 Varianz | 746,9 | 1635,7 | 2,56 | 2,04 |
L2 Varianz | 284,0 | 201,3 | 0,47 | 0,07 |
ICC | 0,28 | 0,11 | 0,15 | 0,03 |
R2 | 0,69 | 0,16 | 0,12 | 0,05 |
Depression (PHQ-9) | β/p | −0,04/0,59 | −0,12/0,09 | −0,18/0,04 | 0,09/0,07 |
Geschlecht | β/p | 0,78/<0,01 | 0,21/<0,01 | −0,05/0,53 | 0,02/0,63 |
L1 Varianz | 746,9 | 1635,6 | 2,56 | 2,04 |
L2 Varianz | 286,7 | 196,4 | 0,43 | 0,09 |
ICC | 0,28 | 0,11 | 0,14 | 0,04 |
R2 | 0,69 | 0,17 | 0,12 | 0,05 |
Ängstlichkeit (GAD-7) | β/p | −0,01/0,91 | −0,10/0,14 | −0,20/<0,01 | 0,12/<0,01 |
Geschlecht | β/p | 0,78/<0,01 | 0,21/<0,01 | −0,04/0,59 | 0,02/0,68 |
L1 Varianz | 746,9 | 1635,6 | 2,56 | 2,04 |
L2 Varianz | 289,9 | 203,5 | 0,38 | 0,07 |
ICC | 0,28 | 0,11 | 0,13 | 0,03 |
R2 | 0,69 | 0,16 | 0,12 | 0,05 |
Diskussion
Interpretation der Ergebnisse
Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass die Sprechgeschwindigkeit und teils die Pausenlänge auch in standardisierten Erhebungen mit Spontansprache Indikatoren für Ängstlichkeit und Depressivität sein können, da hier die wesentlichen Unterschiede zwischen depressiven Patient_innen und Gesunden deutlich wurden. Der Zusammenhang zwischen der Pausenlänge und Depressivität war nicht signifikant, weist aber explorativ auf eine mögliche Assoziation hin (β = 0,09, p = 0,07, r = 0,14). Im Hinblick auf die Depressivität zeigte sich, dass Patient_innen eine geringere Sprechgeschwindigkeit hatten. Auch die subjektive Ängstlichkeit konnte mit diesen Parametern in Verbindung gebracht werden. Eine stärkere Depressionsausprägung scheint mit einer monotoneren Sprechweise einherzugehen. Dieser Zusammenhang zeigte sich jedoch ausschließlich explorativ zum einen im Gruppenunterschied bezüglich der Spannweite der F0 (β = −0,12, p = 0,08, r = −0,17) und zum anderen in der Regressionsanalyse der kontinuierlichen Depressivitätsvariable (β = −0,12, p = 0,09, r = −0,17).
Bei Betrachtung der Depressionsausprägung wurde ersichtlich, dass die Verteilung in der klinischen Stichprobe sehr heterogen war. Möglicherweise waren einige der Patient_innen in ihrer Behandlung fortgeschritten, da die Patientengruppe in der Primärstudie lediglich danach ausgewählt wurde, ob zum Untersuchungszeitpunkt eine depressive Episode bestand. Hinzu kommt, dass die Fragebogenergebnisse bei 3 gesunden Probanden (20 % der Vergleichsgruppe) auf eine milde depressive Symptomatik hinwiesen. Die Überschneidung in der Verteilung von depressiven Patient_innen und gesunden Probanden könnte trotz der signifikanten Gruppenunterschiede in der Depressivität die geringen Effekte hinsichtlich der Gruppenunterschiede verursacht haben.
Das klinische Bild der Depression ist sehr heterogen, dementsprechend könnte es sinnvoll sein, paraverbale Merkmale in Bezug auf verschiedene Merkmale der Depression zu untersuchen. Dabei könnten die Zahl der depressiven Episoden, die Prominenz der Kardinalssymptome (Patient_innen mit vorwiegend trauriger Stimmung vs. Patient_innen mit Antriebslosigkeit und Gefühlsleere), die Schwere der Erkrankung sowie die medikamentöse Einstellung wichtige Einflussgrößen sein. Außerdem zeigen neuere Studien, dass nicht alle nonverbalen Merkmale (z. B. auch nicht alle Bewegungsparameter) für die Diagnostik der Depression gleich geeignet sind (Altmann et al.
2020b). Studienübergreifend besteht ein Zusammenhang zwischen Traurigkeit und einer geringen F
0 sowie einer geringen Spannweite der F
0 (Paeschke und Sendlmeier
2000). Da dieser Zusammenhang in Bezug auf die Depressivität nicht gezeigt werden konnte, kann angenommen werden, dass bei der vorliegenden Stichprobe nicht die niedergeschlagene Stimmung, sondern die Antriebslosigkeit im Vordergrund stand. Konform damit wurden signifikante Effekte in Bezug auf die Sprechgeschwindigkeit und explorative Befunde nachgewiesen; diese deuten auf einen Einfluss der Pausenlänge hin.
Bezogen auf die Spannweite der F
0 könnte die vermehrte Beantwortung der Symptom- und Erkrankungsfragen im Interview mit „Nein“, die empirisch zu einer Einschränkung der natürlichen Spannweite der F
0 geführt hat, ursächlich für die rein explorativen Befunde sein. Jedoch scheint gerade die Spannweite der F
0 ein wichtiger Indikator für Depressivität zu sein, da dieser Zusammenhang auch in bisheriger Forschung mehrheitlich gezeigt wurde (Cannizzaro et al.
2004; Mundt et al.
2007).
Höhere Depressivität in der Gesamtstichprobe war signifikant mit einer geringeren Sprechgeschwindigkeit assoziiert (
r = −0,23). Der Effekt ist als ein kleiner Effekt zu interpretieren. Mundt et al. (
2007) haben einen stärkeren Zusammenhang zwischen Depressionsstärke und Sprechgeschwindigkeit gefunden (
r = −0,53). Verschiedene Untersuchungsabläufe und -charakteristika können die voneinander abweichenden Effektstärken erklären (Mundt et al.
2007): Erhebung über 4 Wochen mit Sicherung einer Baseline für die F
0 (
n = 105). Die vorgestellten Ergebnisse lassen vermuten, dass die Pausen zwischen den Wörtern der Grund für die langsamere Sprechgeschwindigkeit sein können, was in vorliegender Forschung bereits beschrieben ist (Cannizzaro et al.
2004). Für zukünftige Forschung lässt sich ableiten, dass die Charakteristika, die zu einer veränderten Sprechgeschwindigkeit führen (e.g. Pausenlänge, Dauer des Sprechens der Vokale) wichtige Variablen sein können. Es ist nicht auszuschließen, dass sich ähnliche paraverbale Charakteristika auch bei anderen Störungen finden lassen. Ähnliche Befunde wurden für die untersuchte Ängstlichkeit erhoben. Da die Korrelation zwischen Depressivität und Ängstlichkeit in unserer Stichprobe sehr hoch ist, war es aufgrund des geringen Stichprobenumfangs nicht möglich, die Effekte differenzierter zu betrachten (e.g. durch die gleichzeitige Aufnahme der Parameter in das Regressionsmodell). Dies wäre ein Ansatzpunkt für zukünftige Forschung. Unter Hinzunahme einer größeren Stichprobe sowie mehrerer Indikatoren für psychische Gesundheit (e.g. Depressivität, Ängstlichkeit, Misstrauen gegenüber Menschen etc.) könnten Zusammenhänge zu den paraverbalen Merkmalen gegeneinander in umfassenden Regressionsmodellen geprüft werden. Aktuell scheinen die Ergebnisse bezüglich Sprechgeschwindigkeit und Pausenlänge darauf hinzudeuten, dass diese beiden Parameter gute Indikatoren für eine generelle psychische Gesundheit sind. Da die bisherigen Untersuchungen zeigten, dass die Zusammenhänge von Depressivität und der Sprechgeschwindigkeit über verschiedene Wörter hinweg bestehen (Cummins et al.
2015), wird nicht davon ausgegangen, dass unterschiedliche Wortkonnotationen der Grund der gefundenen Unterschiede sind.
Da in der vorliegenden Arbeit nur der sprachliche Beitrag des Probanden betrachtet wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Interaktionsmuster des Diagnostikers die Ergebnisse möglicherweise beeinflusst hat. Die aktuelle Forschung zeigt, dass Synchronie von paraverbalen Merkmalen im Therapieverlauf entsteht und es einen wechselseitigen Einfluss gibt. Die Angleichung von paraverbalen Merkmalen im psychotherapeutischen Gespräch bei sozialen Ängsten scheint interessanterweise eher einen negativen Einfluss auf den Behandlungserfolg zu haben (Schoenherr et al.
2021). Weitere Untersuchungsmöglichkeiten sind die Inaugenscheinnahme der Wirkung der paraverbalen Synchronie zwischen Proband und Interviewer oder die subjektive Wahrnehmung paraverbaler Unterschiede.
Stärken und Limitationen der Studie
Stärken der Studie sind die standardisierte Gesprächsgrundlage und trotzdem mögliche Antwort in Spontansprache, die eine Generalisierung auf natürliche Kontexte ermöglicht. Dabei ist anzumerken, dass die analysierten Sprechanteile nicht standardisiert wurden, was die Interpretation der Befunde aktuell erschwert. Weiterhin wurde die Analyse der paraverbalen Merkmale softwarebasiert durchgeführt und bei der weiteren Untersuchung die Multi-Level-Struktur der Daten beachtet.
Die Untersuchung weist aufgrund des kleinen Stichprobenumfangs Limitationen bezüglich der Generalisierbarkeit der Ergebnisse und bezüglich der Power auf. Da es sich um eine Sekundäranalyse handelt, konnte die Wirkung wichtiger Einflussfaktoren, die im Rahmen der Pilotstudie nicht erhoben wurden, wie etwa nichtklassifizierter Komorbiditäten oder Dauer der bereits erfolgten Therapie, nicht ausgeschlossen werden. Weiterhin hätte die Qualität der Aufnahmen durch Ansteckmikrophone und einen Leitfaden ohne geschlossene Fragen verbessert werden können. Offene Fragen hätten in der Gesprächssituation ein vermehrtes einsilbiges Antworten wie „Nein“ vermieden.
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