Einleitung
Zum Indikationsbegriff
Zum Autonomiebegriff
Subjektivität in der ärztlichen Therapieentscheidung
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Nicht nur die Einschätzung eines möglichen Therapieeffektes kann unter evidenzbasierten als auch unter individuellen Gesichtspunkten erfolgen; auch die Einschätzung der klinischen Prognose kann aus nosologischen als auch aus individuellen Erwägungen (Komorbidität, Krankheitsdynamik, Compliance, Ressourcen, Umfeld…) heraus geschehen und dadurch zu diskrepanten Bewertungen führen (vgl. [25]).
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Der erhoffte „Nutzen“ einer Therapiemaßnahme hängt z. B. vom definierten Therapieziel ab (Lebenserwartung? Lebensqualität?). Unter den Schadensbegriff können neben der denkbaren physischen Schädigung in uneinheitlicher Weise auch der organisatorische Aufwand oder die Kosten subsumiert werden. Das Nutzen-Schadens-Verhältnis ist demnach ebenfalls ein nur mehr oder weniger gut objektivierbares, von Verständigung abhängiges, wertgeladenes Konstrukt.
Der Wunsch des Patienten als relevanter Faktor in der ärztlichen Therapieentscheidung?
Patientenwunsch nach ärztlich nicht indizierter Behandlungsmaßnahme
Patientenwunsch im Widerspruch zu ärztlichen Zielvorstellungen
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Patienten mit inkurablen fortgeschrittenen Tumorerkrankungen wünschen sich nicht nur Lebensqualität, sondern auch Lebenszeit [8]. In verschiedenen empirischen Untersuchungen gab etwa ein Drittel der befragten Patienten „Lebenszeit“ als hauptsächliches Therapieziel an (vor allem Männer und jüngere Patienten; [26]), ein Drittel priorisierte „Lebensqualität“ und ein Drittel zeigte sich unentschieden [23]. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass der Wille zu leben bei terminal kranken Patienten fluktuiert [6]. Ob sich diese polare Haltung von Krebspatienten ausreichend in den derzeitigen, zumeist getrennten Versorgungsstrukturen einer auf Lebenszeit ausgerichteten Onkologie und einer auf Lebensqualität ausgerichteten Palliativmedizin widerspiegelt, muss zumindest hinterfragt werden.
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Patienten mit fortgeschrittenen, inkurablen Krebserkrankungen wünschen sich Chemotherapie auch bis nahe an das Lebensende [14], und legen bezüglich der Sinnhaftigkeit dieser Therapiemaßnahme in Bezug auf Nutzen-Risikoabwägung oder die mindeste Wahrscheinlichkeit, die gefordert wird, um sich einer belastenden Chemotherapie zu unterziehen, andere Maßstäbe an als Behandler oder gesunde Vergleichspersonen. In der Untersuchung von Slevin [20] waren die befragten Patienten bereit, sich einer belastenden Chemotherapie zu unterziehen, wenn die Wahrscheinlichkeit der Heilung lediglich 1 % beträgt. Zu betonen ist dabei, dass die evidenzbasierte Entscheidungsgrundlage, die der Arzt dem Patienten durch sein fachliches Wissen voraus hat, nicht angezweifelt wird: Der diskrepanten Einschätzung liegt keine Realitätsverkennung seitens des Patienten zugrunde, sondern eine eigenständige Bewertung (unter Annahme derselben Entscheidungsgrundlagen), was medizinisch sinnvoll bzw. indiziert ist und was nicht. Wenn Patienten mit fortgeschrittenen, inkurablen Krebserkrankungen Chemotherapie erhalten, so streben sie dabei einen maximalen Lebenszeitgewinn an, unter Akzeptanz hoher Toxizität (60,0 % aller befragten Patienten), nicht primär eine Besserung ihrer Symptome (nur 13,8 % aller befragten Patienten; [7]).
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Die Mehrzahl aller Krebspatienten (58 %) auf einer onkologischen Normalstation (9 von 60 Patienten in kurativ intendierter Behandlung) wünschte sich in der Untersuchung von Ackroyd [1], im Falle eines Herzkreislaufstillstandes kardiopulmonal reanimiert zu werden. 64 % dieser Patienten wünschten, dass der Arzt das Vorgehen bei Reanimationspflichtigkeit mit ihnen bespricht, und ein Fünftel dieser Patienten vertrat die Auffassung, dass die letzte Entscheidung darüber, ob reanimiert werden solle oder nicht, nicht beim Arzt liegen solle. Diese Wünsche wurden unabhängig vom jeweiligen Erkrankungsstadium geäußert.
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Andererseits wünscht ein kleiner Teil von Patienten ein rascheres Versterben: Bei der von Kelly [12] mithilfe des „Hasten Death Scores“ ermittelten Kategorisierung von Patienten traf dies auf 14 % aller Patienten mit fortgeschrittenen, inkurablen Krebserkrankungen zu.
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Die Mehrzahl aller inkurabel und fortgeschritten erkrankten Krebspatienten wünscht, zuhause zu versterben (58 %, [21]).
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Krebspatienten wünschen sich zumeist eine gemeinsame Therapieentscheidung („shared approach“; gewünscht von 63 % [3]). In der Untersuchung von Winkler [26] konnte unter anderem gezeigt werden, dass die Patienten vorwiegend dann in eine Therapiebegrenzungsentscheidung einbezogen werden, wenn die Therapieziele – Lebensqualität statt Lebenszeit – zwischen Arzt und Patient in Einklang waren.
Patientenwunsch vor dem Hintergrund der Futility-Debatte
Klinische Situation | Potentieller Konflikt | |
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1 | Ein Patient fordert Chemotherapie trotz ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses ein | Divergente Bewertung von Nutzen-Risiko-Verhältnis zwischen Arzt und Patient |
2 | Ein schwerstkranker Patient besteht auf Entlassung, obwohl Symptomkontrolle schlecht, Versorgung nicht vorhanden und Angehörige überfordert sind | Divergente Bewertung von Therapiezielen; Mitberücksichtigung von Angehörigen als therapeutische Zielpersonen in der Palliativmedizin |
3 | Eine Patientin mit metastasierter, hormonproduzierender Krebserkrankung und dennoch langfristiger Überlebensprognose lehnt einfachste Hilfestellungen, Diagnostik und eine unkomplizierte Behandlung ab und riskiert schwere Symptome und einen zähen, qualvollen Sterbeprozess | Divergierende Bewertung in Bezug auf den (hohen) Schaden für die Patientin in Hinblick auf die (reduzierte) Lebenszeit und Lebensqualität, in Abwägung zum (minimalen) Behandlungsaufwand; Fürsorgepflicht des Arztes versus Patientenautonomie |
4 | Ein weit fortgeschritten erkrankter Krebspatient fordert grundsätzlich Intensivmaßnahmen ein | Wunsch als positiv (fehl)verstandene Autonomie trotz fehlender medizinischer Indikation |
5 | Eine Patientin mit leicht dysplastischem Zervikalabstrich fordert aufgrund ihrer Krebsangst ein operatives Vorgehen | Angst als Co-Faktor bei der bewertenden Indikationsstellung; „psychologische Indikation“ |
Patientenwunsch: Fallbeispiel
Ein 38-jähriger Patient leidet unter einem lokal und systemisch weit fortgeschrittenen Osteosarkom; die klinischen Probleme umfassen persistierende Schmerzen trotz bestmöglicher multimodaler Schmerztherapie, Immobilität bei Myelonkompression, ausgeprägten Problemen der Wundversorgung mit dauerhaften Blutungen, Liquorfistel und liegender Liquordrainage. In der interdisziplinären Tumorkonferenz wurde keine Indikation zu einer weiteren Chemotherapie aufgrund des wahrscheinlich äußerst geringen Nutzens und der hingehen hohen Wahrscheinlichkeit des Schadens, einschließlich letaler (septischer) Risiken gestellt. „Bei ausgeprägtem Therapiewunsch“ könne gegebenenfalls Gemcitabine erwogen werden. Der Patient greift den Gemcitabine-Gedanken auf und wünscht eine ausführliche Beratung, die durch den behandelnden Onkologen und den Palliativmediziner stattfindet. Hier wird erneut auf die erheblichen Risiken für das Allgemeinbefinden und das mögliche vorzeitige Versterben und die geringe Wahrscheinlichkeit eines Nutzens angeführt, so dass keine ärztliche Indikation zu dieser Chemotherapie bestehe. Dennoch wünscht bzw. fordert der Patient die Durchführung dieser Chemotherapie. In den folgenden Tagen wirkt der Patient verzweifelt und leidend; er grübelt viel, sieht in seiner Situation keinen Sinn mehr weiterzuleben und äußert, er habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Er führt jeden Tag aufs Neue seinen hohen Leidensdruck (Wunde, Blutung, Schmerz, Immobilität, …) als Argument für die Chemotherapie an. Er äußert, die geringe Erfolgsaussicht reiche ihm als Rechtfertigung für die Chemotherapie, zumal er sowieso „nichts mehr zu verlieren“ habe. Gedanken und Gesprächsinhalte drehen sich nahezu ausschließlich nur noch um diese medikamentöse Behandlung; das Vorenthalten dieser Behandlung gewinnt im weiteren Verlauf einen eigenständigen Belastungswert: „Wenn ich Sie wirklich dringlich bitten würde, würden Sie mir dann die Chemotherapie dennoch vorenthalten?“
Fragen zum Indikationsbegriff bei konflikthaftem Patientenwunsch
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Warum zählt meine Bewertung bei der Indikationsstellung weniger als die des Arztes?
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Wenn das, was das „Mehr“ der ärztlichen Indikationsstellung im Vergleich zum einfachen Angebot zur Auswahl verschiedener Therapieoptionen ein „dialogischer“ Prozess ist, warum sollte dann nicht auch mein individueller Wunsch, den ich als Patient äußere, in dieses „Mehr“ zumindest als ein weiterer Faktor einfließen?
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Reicht das Argument der ärztlichen Fürsorgepflicht aus, um meine individuelle Autonomie lediglich als negatives Recht zu definieren (nämlich in Hinblick auf die Freiheit, angebotene Maßnahmen abzulehnen)?
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Braucht es eine ganz andere Konzeption als das bisherige „Zweisäulenmodell“ aus Indikation und Zustimmung?
Therapeutische Handlungsoptionen bei konflikthaftem Patientenwunsch
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Der Einbezug psychischer Symptome als eigenständige Behandlungsziele gehört (wie auch der Einbezug sozialer und spiritueller Bedürfnisse) grundsätzlich zum Selbstverständnis der Palliativmedizin.
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Die Linderung des Leidensdrucks hat – wie auch in den „Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ – in der letzten Lebensphase eine solch hohe Priorität, dass unter bestimmten Umständen in der klinischen Praxis eine Lebenszeitverkürzung durch eine symptomkontrollierende Maßnahme selbst (wie z. B. hochdosierte Opioidgaben) nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden kann (wiewohl ein solcher Effekt in keinem Falle angestrebt wäre und in der klinischen Praxis, z. B. bei der Opioidgabe bei Dyspnoe, so gut wie nicht beobachtet wird) (vgl. [4]). Selbst bei Maßnahmen wie der palliativen Sedierung wird psychisches Leid als rechtfertigende Indikation diskutiert (vgl. [11]).
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Auch in anderem medizinischen Kontext spielen psychische oder psychosoziale Faktoren bei der ärztlichen Indikationsstellung eine entscheidende Rolle: Im Fallbeispiel 5 führte die erhebliche Krebsangst dazu, dass vom üblichen medizinischen Standard abgewichen wurde und eine Konisation durchgeführt wurde, anstatt abzuwarten. In der Palliativmedizin wünschen sich Patienten, für die Sterbephase nach Hause entlassen zu werden, um dort versterben zu können, und bitten das therapeutische Team um die Organisation dieser Entlassung, obwohl in manchen Situationen das Gefühl besteht, dass dies kontraproduktiv, für die Familie belastend wird und in einer krisenbehafteten stationären Wiederaufnahme enden wird (Fallbeispiel 2). Weitere Analogien können zu Entscheidungssituationen mit entsprechendem authentischen psychischen oder psychosozialen Leidensdruck in der plastisch-ästhetischen Chirurgie, bei Schwangerschaftsabbrüchen oder in der Reproduktionsmedizin gefasst werden, wie auch die Verleihung des Medizinnobelpreises 2010 an Robert G. Edwards für seine Verdienste im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation zeigt (welche sich vorrangig aus dem psychischen Leidensdruck eines ungewollt kinderlosen Paares rechtfertigt). Auch für klinische Situationen in der Notfallmedizin werden psychische Faktoren als Co-Faktoren ärztlicher Therapieentscheidungen diskutiert. In dem Beitrag von Truog [22] werden gar die psychischen Belastungen von Angehörigen (d. h. den zukünftig Hinterbliebenen) als Argument für eine nach medizinisch-statistischer Erörterung nicht mehr indizierte kardiopulmonale Reanimation diskutiert.