Folgt man der Feststellung, dass einerseits normative Entwicklungsziele und Aufgaben, andererseits nonnormative Herausforderungen und der spezifische Kontext des Strafvollzugs die Aufgabenkonstellation ausmachen, denen sich Strafgefangene in diesem besonderen Entwicklungskontext stellen müssen, schließt sich die Frage nach den personalen und sozialen Faktoren und Ressourcen an, die die individuelle Auswahl von Entwicklungszielen und deren Zielverfolgung fördern oder behindern. Im Zentrum stehen hier Prozesse der individuellen Selbstregulation, deren Veränderlichkeit im Haftverlauf und diesbezügliche interpersonelle Unterschiede.
Im Falle der bereits angesprochenen „persistent offenders“, die für einen Großteil der gravierenderen Straftaten verantwortlich sind (Moffitt
1993,
2006; Bliesener
2012,
2014b), ist beispielsweise die im interindividuellen Vergleich hohe und stabile Bereitschaft, bestimmte Ziele zu verfolgen und hierfür bestimmte und auch unerlaubte Mittel einzusetzen, eine naheliegende Erklärungsoption für ihre „Persistenz“ (sofern nicht die dauerhaft
fehlende Selbstregulation die Ursache für die kontinuierliche Antisozialität ist). Eine differenzielle Perspektive würde, auch wenn sie über diese sehr globale Zweiwegetypologie hinaus differenziert, hier zwar die Möglichkeit einer nomothetischen (Kriminal‑)Prognose eröffnen („Die Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns ist für Person(typ) A mit den Merkmalen X höher als für Person(typ) B ohne diese Merkmale“), bietet aber zunächst noch keine Erklärung für das gezeigte Verhalten (Ward
2020) und kann auch die z. T. große Variabilität der Entwicklungsverläufe innerhalb der je spezifizierten Gruppe nicht aufklären. Die Frage nach den Ursachen und Hintergründen interindividueller Unterschiede als Erklärung („Warum hat
er das getan (und jener nicht)?“) führt insofern zur ontogenetischen Perspektive: Welche Entwicklungsbedingungen haben dazu geführt, dass diese Person genau diese Ziele und Handlungsoptionen gesehen und verfolgt hat? Dieses Anliegen deckt sich mit dem idiografischen methodischen Ansatz der (Kriminal‑)Prognose, deren Kern aus der Begründung einer spezifischen, auf den Einzelfall zugeschnittenen individuellen Kriminaltheorie („Delinquenzhypothese“) auf der Grundlage hermeneutischer Rekonstruktionen der biografischen Entwicklung (Dahle
1998,
2005b,
2010, Dahle und Lehmann
2018) besteht.
Die Chancen einer Zusammenführung der differenziellen und idiografischen Perspektiven mit einem entwicklungspsychologischen Ansatz erscheinen auch deswegen vielversprechend, weil die spezifischen Entwicklungsbesonderheiten einer straffälligen, zumal inhaftierten Klientel in den vorliegenden Kriminalitätstheorien bislang primär unter dem defizitorientierten Blickwinkel widriger Sozialisationseinflüsse und Entwicklungsbedingungen betrachtet wurden (z. B. im Modell kumulativer Risikofaktoren; u. a. Lösel und Bliesener
2003), seltener auch unter dem Aspekt kompensatorischer Schutzfaktoren (Bliesener
2003,
2014b,
2017; Lösel und Bliesener
1998). Dies steht in der oben angedeuteten Tradition einer defizit- und risikofokussierten Herangehensweise, die letztlich nach personalen Risikomerkmalen sucht, von deren (therapieinduzierten) Veränderung man sich im Sinne des RNR-Modells (Bonta und Andrews
2017) und der „What-works“-Debatte effizienter Straftäterbehandlung (z. B. Weisburd et al.
2016) eine Reduktion von Rückfallrisiken verspricht. Die eigentlichen Entwicklungsprozesse hierbei waren bislang hingegen selten Gegenstand.
Die Notwendigkeit, eine biografisch-ontogenetische Perspektive mit der interindividuellen Variabilität von Entwicklungsverläufen von Straftätern zu verbinden, legt es jedoch nahe, den Blick weniger auf individuelle Eigenschaften bzw. Persönlichkeitsmerkmale als vielmehr auf entwicklungsregulative Prozesse zu richten. Hierbei stehen handlungssteuernde Aspekte der Person im Vordergrund. Diese umfassen auf personaler Ebene v. a. Intentionen und Motivation, aber auch deren Komponenten und Bedingungen wie etwa subjektive Theorien, Ziele und Erwartungen, dann aber auch subpersonale Ressourcen wie insbesondere Bewältigungsfähigkeiten sowie affektive und emotionsregulative Prozesse.
Die Person als Akteur der eigenen Entwicklung: die aktionale Entwicklungsperspektive
Mit der Perspektivenausweitung der Entwicklungspsychologie auf das Erwachsenenalter (Brandtstädter und Lindenberger
2007) ging, wie oben angesprochen, die bei Havighurst bereits angelegte, aber wenig ausgearbeitete Öffnung von Entwicklungstheorien für eine „aktionale Perspektive“ (Brandtstädter
2001,
2006; Brandtstädter und Greve
2006; Brandtstädter und Lerner
1999; Leipold
2020) einher, die die Spielräume der Selbstgestaltung sichtbar machen, die ab dem frühen Jugendalter zunehmend entwicklungsrelevant werden. Entwicklung wird danach als partielle Selbstgestaltung gesehen, allerdings im Rahmen der je gegebenen Spielräume bzw. des „Möglichkeitskorridors“. Dieser wird nicht nur durch soziale und kulturelle Vorgaben begrenzt, sondern auch durch die jeweils individuellen Plastizitätsgrenzen. Man kann sich zu einem gegebenen Zeitpunkt der Biografie nicht beliebig – und gewiss nicht beliebig schnell – verändern. Nicht zuletzt gilt dies unter den besonderen institutionellen Rahmenbedingungen des Strafvollzugs, der vielfältige und auch widersprüchliche Anforderungen an zu leistende Anpassungsprozesse stellt und den Möglichkeitskorridor damit nicht unerheblich definiert.
Richtet man vor diesem Hintergrund den Blick auf den Prozess der Selbstregulation und aktionalen Selbstentwicklung, stellt sich zunächst die Frage, inwieweit Personen generell und Inhaftierte im Besonderen motiviert und befähigt werden können, durch das Setzen und bewusste Verfolgen von Zielen die eigene Entwicklung systematisch zu beeinflussen (Greve und Thomsen
2019a, b; Leipold
2020) und sich auf Basis der eigenen Lernerfahrungen im Sinne einer sozial verantwortlichen Selbstverwirklichung zu entwickeln. Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen solcher Formen von Zielentwicklung stellen dabei Regulationsprozesse im Sinne von Bewältigungs- und Emotionsregulationsstrategien dar.
Die Unterscheidung zwischen „personalen“, d. h. durch die Person jedenfalls prinzipiell bewusst steuerbaren Aktivitäten (z. B. der Wahl eines Ausbildungsweges oder die Entscheidung, sich im Vollzug für eine Sozialtherapie zu bewerben), und „subpersonalen“ Prozessen, d. h. Prozessen, die innerhalb der Person stattfinden (z. B. die Wahrnehmung einer sozialen Äußerung als „Provokation“ und die emotionale Reaktion darauf), ist gerade aus einer aktionalen Perspektive folgenreich. „Handlung“ ist als personales Konzept (Personen handeln; Neuronen handeln nicht) von subpersonalen Prozessen der Zielregulation konzeptuell zu unterscheiden. Beispielsweise erfolgen Präferenzanpassungen, wie etwa die mit dem Alter nachlassende Attraktivität von Gewalt, ohne dass diese Veränderung je Gegenstand einer bewussten Entscheidung gewesen ist. Gleichzeitig sind aber zahlreiche subpersonale Prozesse (etwa der Informationsverarbeitung oder der Emotionsregulation) notwendige (konstitutive) Bedingung für Handlungen. Die Förderung der aktionalen Selbstgestaltung setzt daher gerade im Strafvollzug – bei einer in der Selbstregulation typischerweise defizitären Klientel (Day und Wiesner
2019) – die Beachtung beider Ebenen der Selbstregulation voraus. Es ist daher lohnenswert, insbesondere die subpersonalen Prozesse näher zu betrachten, zumal sie in den vorliegenden Ansätzen zur Entwicklung von Straftätern (im Vollzug) bislang weniger beachtet worden sind.
Prozesse der Zielentwicklung
Auf dieser Betrachtungsebene sind im Hinblick auf das Vollzugsziel der Resozialisierung insbesondere solche Handlungsintentionen und Motivstrukturen von Interesse, die der sozialen Integration und Rückfallvermeidung dienen. Tatsächlich sind Motivstrukturen Kernbestandteil zahlreicher kriminologischer und kriminalpsychologischer Erklärungsansätze (zusammenfassend Suhling und Greve
2010). Zu nennen wären etwa „Rational Choice“-Theorien, die delinquentes Verhalten als Ergebnis einer in gewisser Hinsicht rationalen Nützlichkeitsabwägung zwischen den Vorteilen einer illegalen Handlung und dem Entdeckungsrisiko und den damit verbundenen Kosten zu erklären suchen (zur Kritik: Karstedt und Greve
1996). Sie finden sich aber auch in komplexeren Modellen, die, wie z. B. die „situational action theory“ (SAT; Wikström
2014) oder dem Modell der „psychology of criminal conduct“ (PCC; Bonta und Andrews
2017), eine situationsunabhängige Entscheidungsneigung für delinquente Handlungsalternativen in einen breiteren Kontext sozialer und sozialisierter Faktoren einzubetten suchen.
Die Attraktivität bestimmter Ziele und die subjektive und objektive Verfügbarkeit und Wählbarkeit bestimmter Mittel wird dabei nicht nur vom aktuellen Kontext („Gelegenheiten“), sondern wesentlich vom subjektiven und objektiven Möglichkeitsraum bestimmt, der die Handlungsauswahl der in einem spezifischen (sub-)kulturellen Kontext handelnden Personen kanalisiert. Dabei wird nicht nur die Attraktivität bestimmter Zielzustände (materielle Sicherheit, Autonomie usf.) kulturell vermittelt. Beispielsweise ist, wie angesprochen, der zentrale Punkt der Anomietheorie nach Merton (
1938) die Überlegung, dass die Ressourcen, mit denen diese Ziele erreicht werden können, ungleich verteilt sind. Bestimmten Personengruppen bleibt demnach die Erreichung der allgemein als anzustreben definierten Ziele auf legalem Wege versperrt, weswegen illegale Mittel an Bedeutung gewinnen.
In wichtiger Hinsicht geht es also darum, Straftäter zunehmend in die Lage zu versetzen, ihre bisherigen negativen und positiven Erfahrungen in ihr Selbstbild zu integrieren, aus Fehlern zu lernen und sich vor dem Hintergrund dieser gesammelten Lernerfahrungen künftig auch selbstbestimmt sozial konforme Ziele zu setzen und zu verfolgen. Das Erleben von Konsistenz zwischen Selbstkonzept und Handeln trägt dazu bei, dass die Person zunehmend zu einem aktiven und bewussten Mitgestalter ihrer eigenen Entwicklung wird, mit Lebenszufriedenheit sowie Leistungsfähigkeit und Leidensfähigkeit (Kuhl und Hofmann
2019), der Fähigkeit, realistische Vorsätze in die Wirklichkeit umzusetzen und widrige Umstände unter Verzicht auf dysfunktionale Abwehrmechanismen oder Neutralisierungsstrategien auszuhalten und daran zu wachsen.
Aber selbst wenn allgemeingültige und/oder legitime spezifische Ziele von der Person definiert und festgelegt wurden und geeignete Mittel zur Zielerreichung prinzipiell verfügbar sein sollten, heißt dies nicht unbedingt, dass die Absichten damit ungehindert in entsprechende Handlungen umgesetzt werden. Hierzu bedarf es, gerade wenn dafür Verhaltensweisen erforderlich sind, die jenseits der üblichen Verhaltensroutinen liegen, auch der Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung (Grieger et al.
2012). Eine kompetente Selbstregulation liegt dann vor, wenn das Verhalten entweder durch die eigenen Intentionen gesteuert werden kann oder mindestens ihnen entsprechend verläuft, wobei grundsätzlich eine eher automatisierte („intuitive“) Verhaltenssteuerung von einer eher bewussten „aktionalen“ Steuerung zu differenzieren ist (Chaiken und Trope
1999). Darüber hinaus sind auch in den stärker reflexiv (bewusst gesteuerten) Handlungen im engeren Sinne verschiedene Steuerungsschritte zu unterscheiden. Allerdings sind hier die in der Motivationspsychologie bereits seit Längerem etablierten volitionalen Komponenten der Realisierung von Intentionen („Warum hat er das
getan – und nicht gelassen?“) in kriminologischen Handlungstheorien bislang wenig ausgearbeitet worden. Auch dieser Aspekt der Kriminalitätserklärung verdiente mehr Aufmerksamkeit; jedoch liegen hierzu bislang aus einer Entwicklungsperspektive nur wenig Vorarbeiten vor (zu einer Ausnahme: Heckhausen et al.
2010,
2019), vielleicht auch deswegen, weil die relevanten Prozesse (etwa der Aufmerksamkeitssteuerung) ihrerseits überwiegend automatisch sind (zusammenfassend Suhling und Greve
2010).
Wenn die aktionale Perspektive der Entwicklungspsychologie für die Entwicklung im Vollzugskontext genutzt werden soll, ist es daher im ersten Schritt vielleicht aussichtsreicher, die subpersonalen Prozesse der Intentionsentwicklung, insbesondere die Zielauswahl und -anpassung stärker in den Blick zu nehmen, zumal hierzu mehrere Ansätze der Entwicklungspsychologie vorliegen. Diese Ansätze werden in der vollzuglichen Intervention bislang kaum genutzt. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die aktionale Perspektive generell und insbesondere in Bezug auf Selbstregulation prinzipielle Grenzen hat. Über den oben bereits angesprochenen Punkt hinaus, dass unserer Selbstgestaltung äußere (physische, soziale, im Vollzugskontext insbesondere auch institutionelle) und innere Grenzen gesetzt sind (wir können nicht alles aus uns machen, gewiss nicht jederzeit – und manches realistisch gar nicht), ist v. a. die Entwicklung der intraindividuellen Handlungsbedingungen nicht in handlungstheoretischer Form zu rekonstruieren, wenn ein infiniter Regress vermieden werden soll. So können die Entstehung und Veränderung von Handlungszielen nicht selbst Handlungsziele sein; spätestens die Erklärung dieses Handlungszieles kann deshalb nicht mehr auf ein Handlungsziel verweisen. Also muss die Zielentwicklung durch andere (Entwicklungs‑)Regulationsprozesse erklärt werden, die eben nicht mehr in einem aktionalen Format konzipiert sein dürfen (Brandtstädter
2001,
2006,
2007).
Zielentwicklung: Prozesse und Bedingungen der Entwicklungsregulation
Typische Ansätze entwicklungspsychologischer Regulationstheorien sind insbesondere das SOK(Selektion, Optimierung und Kompensation)-Modell (Baltes und Baltes
1990; Freund
2008; Freund et al.
1999), die Kontrolltheorie der Lebensspanne (Heckhausen et al.
2010,
2019) sowie das Zweiprozessmodell der Entwicklungsregulation (Brandtstädter
2006,
2007,
2015; Brandtstädter und Rothermund
2002). Ihr gemeinsamer Fokus ist die Untersuchung der Prozesse, die einerseits die Verfolgung von (Entwicklungs‑)Zielen ermöglichen und andererseits den Umgang mit Hindernissen, Grenzen oder Widerständen regeln (zusammenfassend: Greve und Leipold
2018). Bei allen Unterschieden in den Details ihrer Akzentuierung (Boerner und Jopp
2007; Haase et al.
2013) geht die gemeinsame Argumentationslinie von einem aktionalen Entwicklungsverständnis aus: Sowohl das SOK-Modell als auch die Kontrolltheorie der Lebensspanne betrachten Entwicklungsregulation dabei in wesentlicher Hinsicht als strategisches Geschehen, obwohl die bewusste Absichtlichkeit der Reaktionen nicht immer behauptet wird. Durch systematische Selektion der (noch) erreichbaren Ziele, durch hartnäckige Optimierung der eigenen für ihre Erreichung verfügbaren Strategien und durch Kompensation der gleichwohl fehlenden Mittel (Baltes und Baltes
1990; Freund
2008) können, so die Annahme, fehlende Möglichkeiten oder Zielblockaden häufig auch unter widrigen Lebenskonstellationen aufgefangen werden. Diese Modelle erläutern die oben als „aktional“ gekennzeichnete Perspektive.
Für den Umgang mit den Grenzen der Steuer- und Kontrollierbarkeit hat die Kontrolltheorie der Lebensspanne vorgeschlagen, dass sich insbesondere in der Konfrontation mit als unüberwindbar erlebten Hindernissen die Person selbst verändern müsse (Heckhausen et al.
2010,
2019); beispielsweise dadurch, dass erreichbare Ziele gewählt werden. Übersetzt in den hier relevanten Kontext, impliziert dies, dass sich beispielsweise einige im Langzeitvollzug gealterte Gefangene sehr wahrscheinlich von zentralen früheren Lebenszielen lösen und in realistische Ziele transformieren müssten, wenn sie eine realistische extramurale Perspektive gewinnen wollen. Allerdings lassen sich, wie angesprochen, die Wahl und die Veränderung von Zielen und Absichten nicht intentional rekonstruieren: Wir können offenbar auch Ziele, die wir selbst zwar als hinderlich, belastend und unerreichbar erleben, nicht ohne Weiteres absichtlich degradieren oder aufgeben und ersetzen. So basieren beispielsweise Trauerreaktionen bei unabwendbaren Verlusten ja gerade darauf, dass dies nicht unmittelbar gelingt. Offenbar müssen Prozesse, die mit aktuell oder grundsätzlich nichtkontrollierbaren Schwierigkeiten umzugehen helfen, anders erklärt werden. Überdies wird in den primär einer aktionalen Perspektive verhafteten Modellen nicht systematisch geklärt, wie selektierende, optimierende und kompensierende Prozesse ihrerseits erklärt werden können.
Das Zweiprozessmodell der Entwicklungsregulation (Brandtstädter
2015; Brandtstädter und Rothermund
2002) hat hier – neben einem „assimilativen“ Modus, der sich in vielem mit den SOK-Strategien bzw. „primärer“ Kontrolle überschneidet – einen adaptiven („akkommodativen“) Modus postuliert, in dem Ziele, Wünsche, normative Orientierungen und Präferenzen den wahrgenommenen Gegebenheiten so angepasst werden, dass Unerreichbares abgewertet oder durch Erreichbares ersetzt wird (zusammenfassend Greve und Leipold
2018). Während assimilative Regulationen (der hartnäckigen Zielverfolgung und Mittelanpassung) typischerweise „personal“ (intentional, z. B. strategisch) gesteuert sind, sind akkommodative Regulationsprozesse (die nachlassende Wichtigkeit unerreichbarer Ziele) typischerweise subpersonal. Aktuell ist die Frage, wie diese akkommodativen Prozesse ihrerseits gesteuert werden, auch in diesem Modell nicht detailliert geklärt (Brandtstädter und Rothermund
2002 für eine diesbezügliche Heuristik), aber sie arbeiten offenbar in der Mehrzahl der Fälle zuverlässig: Für zurückliegende Trauerepisoden gilt in aller Regel, dass zwar rückblickend die Erinnerung daran bleibt, wie sehr man getrauert hat, diese Trauer aber aktuell nicht mehr schmerzt. Offenbar hat sich, gewissermaßen hinter der Bühne des Bewusstseins, die interne Organisation von Wünschen und Bewertungen verändert, entwickelt, angepasst. Hinzu kommt, dass der akkommodative Modus erkennbar kein einzelner Prozess ist, sondern eine breite Kategorie unterschiedlicher Prozesse umfasst (Brandtstädter
2007; Thomsen
2016). Oft wird eine Kombination von Prozessen zusammengenommen dazu führen, dass der Person das blockierte Ziel nicht mehr so wichtig erscheint wie früher. Dazu gehört typischerweise das Loslassen des alten Ziels, vielfach auch das Umorientieren, vielleicht aber auch nur die Änderung der Perspektive auf das bisherige Ziel (etwa indem der Maßstab für „erfolgreich“ auf andere Vergleichsgruppen bezogen wird) oder die Aufwertung einer Alternative, die nun attraktiver erscheint. Manchmal genügt es, die Perspektive zu weiten („Das, was mir widerfahren ist, ist bedrückend und schmerzlich – aber vielen anderen Menschen ist viel Schlimmeres widerfahren!“). Dabei ist noch ungeklärt, wie sich die „Auswahl“ zwischen diesen verschiedenen Prozessen abspielt (Greve und Thomsen
2019b). Festhalten lässt sich indessen allemal, dass beispielsweise Prozesse der Veränderung von Vergleichsmaßstäben bei Strafgefangenen eine Rolle zu spielen scheinen (mit Auswirkungen auf die Anwendbarkeit testpsychologischer Inventare: Steller
1983).
Eine Reihe von Befunden (Überblick: Brandtstädter und Rothermund
2002; Heckhausen et al.
2010, Haase et al.
2013) zeigt, dass es erhebliche interindividuelle Unterschiede in der Bereitschaft oder Fähigkeit gibt, akkommodative Anpassungsreaktionen zu zeigen. Dies verweist darauf, dass die individuelle „Akkommodativität“ von Entwicklungsverläufen und -bedingungen abhängt (Meyer und Greve
2012). Eben hier setzen Überlegungen an, wie die individuelle Bereitschaft zur Zielanpassung gefördert werden könnte, um dadurch auch die Prozesse der Selbstregulation zu verbessern (Greve und Thomsen
2019b). Im Zweiprozessmodell der Entwicklungsregulation werden Annahmen zu drei Aspekten gemacht, die interindividuelle Unterschiede in der „Akkommodativität“ erklären können. Zunächst kann ein facettenreiches, heterogenes Selbstkonzept als Voraussetzung dafür angesehen werden, alternative Ziele überhaupt wahrzunehmen und attraktiv zu finden. Allerdings reicht das alleinige Generieren von alternativen Ziele nicht aus, denn schließlich muss das Individuum auch in der Lage sein, das alte Ziel durch ein neues zu ersetzen (Wrosch et al.
2003) und entlastende Kognitionen verfügbar haben, die dabei unterstützen, mit der getroffenen Entscheidung zufrieden zu sein (Brandtstädter und Rothermund
2002). Auf den hiesigen Kontext bezogen wurde schon erwähnt, dass in der Lesart der Theorien der kognitiven Transformation der Ausstieg aus einer intensiven kriminellen Karriere ja v. a. eine kohärente und individuell zufriedenstellende Transformation des Selbstkonzeptes von einer Identität als krimineller Mensch in ein neues Selbstbild impliziert (Bliesener und Lösel
2002). Erste Befunde (aus früheren Entwicklungsphasen) deuten darauf hin, dass beispielsweise heterogene Erfahrungskontexte die notwendige kognitive Flexibilität erhöhen könnten (Greve und Thomsen
2013, Thomsen und Greve
2013). Ob auch belastende oder kritische Lebensereignisse die Entwicklung akkommodativer Prozesse vorantreiben können, z. B. im Sinne posttraumatischen Wachstums (Calhoun und Tedeschi
2006), ist bislang kaum untersucht worden (Meyer und Greve
2012). Wenn die adaptive Dynamik von Ziel- und Intentionswahlen eine wichtige Voraussetzung für besser gelingende Selbst- und Entwicklungsregulation im Erwachsenenalter sein sollte, läge hier ein wichtiger, bislang kaum genutzter Ansatzpunkt für gezielte Interventionsansätze im Strafvollzug, der die Perspektive der (aktionalen) Selbstgestaltung und der adaptiven Zielwahl dafür systematisch ernst nimmt.
Hierfür ist jedoch auch die Beachtung solcher Regulationsprozesse erforderlich, die nicht nur die Umsetzung von Zielen, sondern auch ihre Bewertung und Veränderung beeinflussen; dies umfasst neben den angesprochenen volitionalen Dynamiken insbesondere auch emotionale Prozesse.
Emotionen und ihre verhaltenssteuernde Funktion
Emotionsregulative Prozesse beeinflussen sowohl die Zielverfolgung als auch die Zielanpassung und offerieren auch einen möglichen Zugang zur Erklärung der Steuerung akkommodativer Prozesse. Auch wenn dies theoretisch bislang noch nicht weiter ausgeführt wurde, bietet, wie im Folgenden ausgeführt wird, insbesondere die Persönlichkeits-System-Interaktionen(PSI)-Theorie von Kuhl (
2001), einen Strukturrahmen, der es erlaubt, Prozesse der Zielbindung und Emotionsregulation miteinander zu verzahnen.
Erhebliche Anteile unseres Alltags verbringen wir demnach im Modus einer mehr oder weniger automatisierten Verhaltenssteuerung („Autopilot“). Zur Aufgabenerfüllung greifen wir hierzu, sofern keine expliziten Handlungsintentionen vorliegen, auf etablierte Verhaltensroutinen zurück (Reizsteuerung) oder aber auf Verhaltensweisen, die andere von uns erwarten oder zu den wir uns gezwungen fühlen (Fremdsteuerung) (Kuhl
2001). Je nachdem, wie salient mögliche Intentionen, wie hoch die Motivation zur Zielverfolgung und wie eingefahren die Verhaltensroutinen sind, kann sich dies nicht nur darin bemerkbar machen, dass das man selbst mit dem Auto oder Fahrrad „plötzlich“ von Ort A nach B gefahren ist, ohne dass man die Einzelheiten der Fahrt vergegenwärtigen kann, sondern ggf. auch daran, dass z. B. ein Inhaftierter (auch ohne übermäßigen Affekt) schon wieder in eine körperliche Auseinandersetzung involviert wurde, ohne sich das Zustandekommen dieser Situation wirklich erklären zu können oder sie „intendiert“ zu haben. Das Geschehen bleibt dann subjektiv unerklärlich, kann zwar kognitiv rekonstruiert und auch evaluativ eingeschätzt werden, wird aber nicht als Ergebnis aktiver Lebensgestaltung, bewusster Intention oder Zielverfolgung erlebt.
Setzt sich die betreffende Person in der Folge aber dann, intrinsisch motiviert, ein für sie vielleicht herausfordernde Entwicklungsziel (z. B. in den nächsten 6 Monaten nicht mehr in eine risikoreiche Auseinandersetzungen zu geraten, sondern im Konfliktfall auszuweichen oder zumindest nicht aktiv anzugreifen), wird dieses Ziel nur dann im Gedächtnis salient und damit bewusst verfolgbar bleiben, wenn die damit einhergehenden negativen Affekte bzw. Frustrationen (Verlust an Ansehen vor den Mitgefangenen; Angst, selbst zum Opfer zu werden; Angst, es nicht zu schaffen) zunächst einmal ausgehalten und nicht durch Suppression abgewehrt werden müssen. Dabei geht mit dem aktivierten negativen Affekt eine Wahrnehmungseinengung einher, die den Blick vom Gesamtzusammenhang (intendiertes Entwicklungsziel und Verhaltensumsetzung) auf singuläre Probleme und Einzelheiten lenkt, sodass die übergeordnete Änderungsmotivation verloren gehen kann und dysfunktionale Regulationsstrategien wie Rumination die Oberhand gewinnen können. Sobald die Intention im Gedächtnis fest repräsentiert ist, ist es daher erforderlich, möglichst rasch in eine positive affektive Stimmung zu kommen, welche die Willensanbahnung und Umsetzung der Intention in Handlungen begünstigt. Hingegen würde ein bleibender negativer Affekt die Handlungsumsetzung behindern. Die Fähigkeit, nach Bedarf und Erfordernis negative Affekte auszuhalten, sich aber möglichst schnell zu regenerieren und gezielt in eine positive Stimmung zu versetzen, die zur weiteren Motivation und Handlungsausführung beiträgt, ist daher ein wesentliches Element erfolgreicher Selbst- bzw. Emotionsregulation (Kuhl
2001).
Dies führt vor Augen, dass bei der Umsetzung von Absichten in Handlungen und dem Lernen aus Fehlern sowie der Verhaltensänderung Emotionen und emotionsregulative Prozesse eine zentrale Rolle spielen. Vor allem die Regulation negativer und positiver Affekte, d. h. auch das Ausmaß der Erregung und die Anspannung bzw. Regenerationsgeschwindigkeit, sind für erfolgreiche Selbstregulation und Selbstwachstum zentral. Hinzu kommt die Flexibilität der Aufmerksamkeitslenkung auf den Kontext bzw. das Selbst. Ein zu starker oder zu lange anhaltender negativer Affekt behindert die angemessene Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs. d. h. des eigenen biografischen Werdegangs und des eigenen Lebensnarrativs, was selbstbestimmtes Handeln und Ich-Integrität (im Sinne von Erikson
1966 [1959]) erschwert oder unmöglich macht. Damit ermöglicht ein Fokus auf die emotionsregulativen Prozesse nicht nur den Brückenschlag zu entwicklungspsychologischen Theorien, sondern auch zu den affektiven Neurowissenschaften, welche davon ausgehen, dass der „emotionale Stil“ eines Menschen (Davidson und Begley
2012) Aussagen darüber erlaubt, wie häufig, intensiv und anhaltend positive und negative Affekte erlebt werden und wie stark das Individuum dadurch in der Verhaltenssteuerung behindert wird.
Beispielsweise sind im Hinblick auf den spezifischen Entwicklungskontext Strafvollzug die „moralischen“ Emotionen Scham und Schuld und deren Regulation von besonderer Bedeutung. Scham und Schuld bilden im Zusammenspiel mit Empathie und kognitiven moralischen Überzeugungen das Gerüst des menschlichen Gewissens und sind damit insbesondere, aber eben nicht ausschließlich, für das Entwicklungsziel der Resozialisierung relevant; sowohl, was die Zielentwicklung als auch die Zielverfolgung betrifft. Setzt sich beispielsweise ein Inhaftierter das Ziel, künftig straffrei zu bleiben, wird dies u. a. auch negative Affekte, wie z. B. Angst vor dem Scheitern oder Verunsicherung im Hinblick auf das bisherige Selbstbild, mit sich bringen, die reguliert werden müssen. Eine Emotionsregulation in eine motivationspsychologisch günstigere, positive Ausgangslage wird jedoch dadurch erschwert, dass im Verlauf der Haft und Behandlung u. a. Scham- und Schuldgefühle, d. h. zusätzliche negative Affekte, in besonderer Weise durch den Kontext induziert und salient werden (Ewald
2018; Hosser et al.
2005,
2008). Diese können sich direkt auf das eigene kriminelle Handeln oder das bisherige Scheitern an der Straffreiheit beziehen oder sie entstehen z. B. auch aus der Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen Verhaltens für nahestehende Personen, die von den Sanktionsfolgen mitbetroffen sind. Das Erleben von positiver Affektivität, z. B. durch authentischen Stolz auf eine selbst erzielte Leistung, ist im Kontext des Gefängnisses und subkultureller Bestrebungen hingegen vermutlich eher selten, was die Zielumsetzung behindert, sofern nicht sehr gute emotionsregulative Kompetenzen vorhanden sind. So werden v. a. länger andauernde und/oder starke Schamgefühle in Zusammenhang mit Vermeidungsverhalten, sozialem Rückzug, Aggressivität, narzisstischem Verhalten und Delinquenz gebracht. Dabei wird vermutet, dass intensive Schamgefühle zu einem Selbstwertverlust führen und das Selbstkonzept durch eine verengte Betrachtungsperspektive eindimensionaler wird, was Abwehr- und Verteidigungsverhalten stimuliert sowie kompensierende Allmachtsfantasien, die ihrerseits zu unrealistischer Zielsetzung, mangelnder Motivation bei der Zielverfolgung, und Narzissmus führen können (Ciompi
2014). Infolgedessen steigt das Risiko negativer, ablehnender und sanktionierender Reaktionen des Umfeldes, welches wiederum zu erhöhter Aggressivität und häufigerem antisozialem Verhalten beitragen kann (Bliesener
1997). Emotionale und emotionsregulative Prozesse sind somit für die Zielbindung und Zielverfolgung zentral, wobei sie immer im Zusammenspiel mit dem aktuellen sozialen Kontext zu betrachten sind.
Entwicklung in Kontexten: Entwicklungssysteme
Auch wenn für bestimmte Lebensabschnitte charakteristische Entwicklungsaufgaben identifiziert werden können und es sicher aus praktischer Sicht oft sinnvoll ist, die Entwicklung einzelner Funktionsbereiche gesondert in den Blick zu nehmen (z. B. die Entwicklungsaufgaben im jungen Erwachsenenalter), sind die komplexe Vernetztheit und die wechselseitigen Abhängigkeiten dieser vielen verschiedenen Einzelaspekte auf verschiedenen Einflussebenen offensichtlich ein bestimmendes Merkmal von Entwicklung. Menschen sind komplexe, hierarchisch vielfach verschachtelte Systeme von interagierenden (Sub‑)Systemen, die in ihrerseits verschachtelte Kontexte eingebettet sind. Eben diese Überlegung liegt dem Ansatz der „Entwicklungssysteme“ zugrunde (z. B. Ford und Lerner
1992; Thelen und Smith
1998), der eben diese „systemische“ Interdependenz von Entwicklungsprozessen betont (zusammenfassend Greve und Thomsen
2019a; in Bezug auf deviante Lebensläufe: Day und Wiesner
2019).
Im Anschluss an die klassischen Überlegungen von Bronfenbrenner (
1981,
2005; zu einer erweiterten Version: Lerner
2002) umfasst diese systemische Perspektive den unmittelbaren (aktuelle soziale Bedingungen im Strafvollzug), den sozialen (z. B. Normen und Beziehungen in der Familie) sowie den allgemeinen Entwicklungskontext (gesellschaftliche Randbedingungen, z. B. Arbeitsmarktsituation, soziale Akzeptanz von Minderheiten etc.). Aus Sicht des je handelnden Individuums sind diese kontextuellen Bedingungen für die Ziel- und Mittelauswahl zunächst als
wahrgenommener Kontext bedeutsam (z. B.: Mittel, die mir aus meiner Sicht nicht gewährt werden, obwohl ich sie als erforderlich für eigene oder vorgegebene Ziele wahrnehme, müssen durch andere, ggf. auch unerlaubte ersetzt werden). Jedoch werden diese subjektiven Wahrnehmungen ihrerseits wesentlich auch durch Kontextbedingungen beeinflusst (z. B. begrenzt oder auch angeregt). Insbesondere kann der soziale Kontext (durch Personen ebenso wie Normen) Entwicklungsverläufe systematisch beeinflussen; neben den bereits erwähnten Auftretenswahrscheinlichkeiten für kritische Lebensereignisse betrifft dies auch für die Zielerreichung erforderlichen Mittel (Ressourcen Kompetenzen) sowie u. U. auch die Veränderung der (Prozesse der) Selbstregulation (etwa durch Maßnahmen der Straftäterbehandlung; Hosser und Boxberg
2014).