Z Sex Forsch 2009; 22(3): 268-276
DOI: 10.1055/s-0029-1224596
Debatte

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Wie frei ist der Mensch mit einer Paraphilie?[1]

Überlegungen im sexualforensischen KontextPeer Briken
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Publication Date:
15 September 2009 (online)

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob und wenn ja unter welchen Umständen die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung und Selbstkontrolle seiner sexuellen Verhaltensweisen eingeschränkt ist. Dabei soll es vor allem darum gehen, ob – und wenn ja, wie – besondere sexuelle Neigungen diese Fähigkeit beeinflussen. Darüber hinaus soll es um die Frage gehen, unter welchen Voraussetzungen solche – die Selbstbestimmung und Selbstkontrolle einschränkenden – sexuellen Neigungen Störungs- oder gar Krankheitscharakter bekommen und welche Rolle sie im sexualforensischen Kontext spielen.

Was bedeutet Selbstbestimmung? Eine Handlung, die rein durch situative Faktoren bestimmt wird oder zufällig erfolgt und nicht begründet wird oder begründbar ist, wird in diesem Zusammenhang nicht als selbstbestimmt bezeichnet. Das muss nicht bedeuten, dass situative Faktoren nicht unter Umständen erhebliche Bedeutung auch für selbstbestimmte Handlungen haben können – wenn situative Faktoren aber ausschließlich für das Verhalten verantwortlich sind, wird dieses hier als nicht vom Selbst bestimmt aufgefasst. Die Möglichkeit, in einem sexualforensischen Kontext Begründungen zu geben oder (bewusste und unbewusste Gründe) herauszufinden, hängt stark von den individuellen Fähigkeiten (z. B. Intelligenz, Reflexionsvermögen) der begründenden Person ab, aber auch von Fähig­keiten eines Untersuchers (z. B. vor dem Hintergrund einer bestimmten Schule ausgebildeter forensischer Psychiater) und den verwendeten Untersuchungsmethoden (z. B. klinisches Interview, physiologische Messmethoden).

Die im Laufe der Evolution entstandene menschliche Fähigkeit zur Antizipation ermöglicht eine Zunahme der Freiheitsgrade des Verhaltens. Dazu sind zwei grundlegende kognitive Fähigkeiten notwendig:

Selbstreflexion, d. h. das Verstehen und das Wissen von vergangenen Motiven2 sowie die Möglichkeit zu einer zukünftigen Veränderung und Selbstkontrolle, d. h. die Fähigkeit zur Bildung von Zielen, die auf die Beeinflussung und Umsetzung der eigenen zukünftigen Verhaltensdispositionen gerichtet sind.

Je stärker eine ausgeführte Handlung mit dem eigenen Charakter, den Präferenzen und Überzeugungen im Einklang steht, desto eher wird sie in dieser Arbeit als selbstbestimmt aufgefasst. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn mehrere Präferenzen gleichzeitig bestehen (Dilemma) oder einander widersprechend zu einem inneren Kampf führen (Konflikt). Weiter verfolgt werden die Fragen, unter welchen Umständen:

die Fähigkeit zur Selbstbestimmung über sexuelle Motive3 und die Fähigkeit eine sexuelle Handlung zu kontrollieren,

beeinträchtig sein können. Dafür ist zu klären, wie viel motivischer (Bildung von Alternativen) und zeitlicher Handlungsspielraum (Möglichkeiten des zeitlichen Aufschubs) für eine Entscheidung in einem spezifischen ­Moment und Kontext zur Verfügung steht.

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags anlässlich der 3. Wiener Frühjahrstagung für Forensische Psychiatrie zum Thema „Der freie Wille und die Schuldfähigkeit“ am 15.5.2009. Ich bedanke mich für die Anregungen und Kommentare von Wiebke Driemeyer und Martin Dannecker.

Literatur

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags anlässlich der 3. Wiener Frühjahrstagung für Forensische Psychiatrie zum Thema „Der freie Wille und die Schuldfähigkeit“ am 15.5.2009. Ich bedanke mich für die Anregungen und Kommentare von Wiebke Driemeyer und Martin Dannecker.

2 Als Motiv wird hier eine relativ stabile Präferenz für eine bestimmte Gruppe von Handlungszielen bezeichnet.

3 Als sexuelles Motiv wird eine relativ stabile Präferenz für sexuell erregende Phan­tasien oder Neigungen bezeichnet.

4 Eine ausführliche Darstellung der Bindungstheorie und der Einflüsse von Bindungsstörungen auf Psychopathologie findet sich z. B. bei Strauß (2008).

5 Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, als würde Paraphilie mit Sexualdelinquenz gleichgesetzt. Untersuchungen zu Bindungsstörungen gibt es aber vor allem an Stichproben, die aufgrund bestimmter Deliktarten ausgewählt wurden. Außerdem geht es in dieser Arbeit vor allem um den sexualforensischen Kontext.

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PD Dr. med. P. Briken

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: briken@uke.uni-hamburg.de

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