Rehabilitation (Stuttg) 2009; 48(4): 252-255
DOI: 10.1055/s-0029-1234051
Aus der DGRW

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ziele und Aufgaben der Arbeitsgruppe „Bewegungstherapie” in der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW)[1]

Objectives and Tasks of the “Exercise Therapy” Commission of the German Society of Rehabilitation Science, DGRW Arbeitsgruppe „Bewegungstherapie” 1
  • 1Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW)
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Publication Date:
17 August 2009 (online)

1. Hintergrund und Begründung

Für die heute in der Rehabilitation vorherrschenden Gesundheitsstörungen mit hoher Prävalenz, wie muskuloskelettale Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, onkologische Erkrankungen und psychische Erkrankungen, sind bewegungstherapeutische Interventionen zentrale Elemente der Therapie. Zirka 50% aller durchgeführten therapeutischen Leistungen (nach der Klassifikation therapeutischer Leistungen, KTL, der Deutschen Rentenversicherung Bund von 2007) sind diesem Bereich zuzuordnen.

Im Sinne der International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF [1] ist es Ziel bewegungstherapeutischer Interventionen, die physische Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit wiederherzustellen oder zu verbessern (Funktionen), zu körperlich aktiven Lebensstilen hinzuführen und zur Beibehaltung und Wiederaufnahme von Berufstätigkeit, Alltags- und sozialen Aktivitäten beizutragen (Aktivitäten, Partizipation). Entgegen der Bedeutung der Bewegungstherapien in der Praxis nimmt die wissenschaftliche Analyse und Reflexion bewegungstherapeutischer Interventionen innerhalb der Rehabilitationswissenschaften bislang einen kleinen Raum ein. So liegen – außer guter Evidenz für die grundlegenden Adaptationsmechanismen des Organismus bei zielgerichteten physischen Belastungen – bislang noch wenig evidenzgesicherte Interventionskonzepte und Ergebnisse vor. Dies gilt im Sinne der formativen Evaluation sowohl für die konzeptuelle Struktur bewegungstherapeutischer Programme (Zielsetzungen, Inhalte, Methoden) als auch im Bezug auf die summative Evaluation erwünschter und tatsächlich erreichter Wirkungen von Bewegungstherapie. Im Hinblick auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Rehabilitation besteht dringender Bedarf für eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bewegungstherapie.

Zur Bildung eines theoretischen Bezugsrahmens eignen sich neben der ICF weitere vorliegende Arbeiten. So beschreiben Gerdes und Weis [2] das Ziel der Rehabilitation, einen individuellen Bewältigungsprozess zur Verbesserung von Aktivität und Teilhabe bei Vorliegen einer individuellen Gesundheitsstörung zu initiieren bzw. zu stärken. In ihrem Modell werden bereits Wirkungszusammenhänge zwischen medizinischen Interventionen, physikalischer Therapie, Pflege sowie psychologischen Verfahren und Sozialberatung auf den individuellen Bewältigungsprozess beschrieben. Die Einordnung von bewegungstherapeutischen Verfahren bleibt jedoch unspezifisch. Jene erscheinen im vorliegenden Modell bislang neben ergo- und logotherapeutischen Verfahren eher als adjuvant, und es erfolgt noch keine Herstellung von Wirkungsbezügen im Hinblick auf die für den Bewältigungsprozess besonders relevanten psychischen, aber auch physischen Ressourcen.

Demgegenüber beschreiben Schüle u. Huber [3] unter Bezugnahme auf das Salutogenesemodell von Antonovsky [4] [5] und das werteorientierte Modell des Verhaltens von Rokeach [6] eine mehrdimensionale Grundlage für bewegungstherapeutische Interventionen. Hier wird als Zielsetzung der Bewegungstherapie neben der naturgemäßen Beeinflussung physischer Funktionen explizit auch die Verhaltensorientierung im Hinblick auf den Aufbau individueller Handlungskompetenzen und die Bindung an eigenständige körperliche Aktivität betont. Eine solchermaßen verstandene Bewegungstherapie verknüpft Elemente körperlichen Übens und Trainierens zielgerichtet mit Elementen der Patientenschulung und kognitiv-behavioralen Interventionsformen. Sie bietet damit die Basis für eine Integration in moderne interdisziplinäre Behandlungsstrategien in der Rehabilitation, die über übliche multidisziplinäre bzw. additive Organisationsformen hinausgehen. Gleichzeitig ermöglicht sie eine weitergehende Betrachtung der Bewegungstherapie im Hinblick auf ihre Rolle bei der indikationsbezogenen wie auch indikationsübergreifenden Beeinflussung von Aktivitäten und Teilhabe betroffener Rehabilitanden.

Auch im internationalen Raum haben sich in jüngerer Zeit mehrdimensionale Betrachtungsweisen von Bewegungstherapie entwickelt, die mit der durch die ICF beschriebenen Auffassung der „funktionalen” Gesundheit kompatibel sind. Ausgehend von ersten, noch primär auf die Physis bezogenen Ansätzen von Hislop [7], entwickelten sich zunehmend ganzheitliche Modellvorstellungen, die die Beziehungen zwischen motorischen Funktionen bzw. Bewegungsaktivitäten und psychischen bzw. sozialen Prozessen thematisieren. So beschreiben z. B. Cott et al. [8] mit der „Movement Continuum Theory of Physical Therapy” die Wechselwirkungen zwischen der Bewegung als unverzichtbarem Bestandteil des menschlichen Lebens und sozialen, psychischen und umweltbezogenen Faktoren.

Die hier nur knapp skizzierten Zusammenhänge deuten die vielfältigen Arbeitsfelder und Fragestellungen für eine differenzierte Aufarbeitung der Rolle der Bewegungstherapie, ihrer Wirkmechanismen und ihres Wirkpotenzials im Hinblick auf eine erfolgreiche Rehabilitation an. Dabei sind die grundsätzlichen physischen Wirkungen von zielgerichteten Beanspruchungen des biologischen Systems sowie deren zugrunde liegenden Wirkmechanismen bei einer Vielzahl von Indikationsbereichen heute unbestritten [9] . Trotzdem bleibt eine Vielzahl von Problembereiche offen und unbearbeitet. Dies gilt z. B. auf physischer Ebene für Fragen zu Dosis-Wirkungsbeziehungen oder auf psychosozialer Ebene für die Beeinflussbarkeit von subjektiver Gesundheit und Lebensqualität. Dies wird unter anderem an dem bereits häufig untersuchten Bereich der kardialen Rehabilitation deutlich, wie Jolliffe et al. [10] hervorheben.

1 Stand Juli 2009; das Konzept wird fortgeschrieben. Der AG Bewegungstherapie gehören an: Angelika Baldus, Dr. Silke Brüggemann, Dr. Inge Ehlebracht-König, Prof.Dr. Bernhard Greitemann, Prof. Dr. Gerhard Huber, Prof. Dr. med. Marthin Karoff , Dr. Sonia Lippke, Prof. Dr.Klaus Pfeifer (Sprecher), Dr. Gorden Sudeck, Dr. Wilfried Schupp, Prof. Dr. Klaus Schüle, Dr. Marlis Winnefeld, Prof. Dr. Christoph Zalpour.

Literatur

  • 1 World Health Organization, Hrsg .International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF. Genf: WHO 2001
  • 2 Gerdes N, Weis J. Zur Theorie der Rehabilitation. In: Koch U, Bengel J, Hrsg Grundlagen der Rehabilitationswissenschaften: Themen, Strategien und Methoden der Rehabilitationsforschung. Berlin: Springer 2001: 42-68
  • 3 Schüle K, Huber G. Hrsg. Grundlagen der Sporttherapie – Prävention, ambulante und stationäre Rehabilitation. München: Urban & Fischer 2004
  • 4 Antonovsky A. Health, stress and coping. San Francisco: Jossey Bass 1974
  • 5 Antonovsky A. Unraveling the mystery of health. San Francisco: Jossey Bass 1987
  • 6 Rokeach N. Understanding human values. New York: Free Press 1979
  • 7 Hislop HJ. The not so impossible dream.  Physical Therapy. 1975;  55 ((10)) 1069-1080
  • 8 Cott C, Finch E, Gasner D, Yoshida K, Thomas SG, Verrier MC. The movement continuum theory of physical therapy. Physiotherapy. Canada 1995 47 (2) 87-95
  • 9 Pedersen BK, Saltin B. Evidence for prescribing exercise as therapy in chronic disease.  Scand J Med Sci Sports. 2006;  16 ((Suppl 1)) 3-63
  • 10 Jolliffe JA, Rees K, Taylor RS, Thompson D, Oldridge N, Ebrahim S. Exercise-based rehabilitation for coronary heart disease (Cochrane Review). In: The Cochrane Library, Issue 3-2003. Oxford: Update Software 2003
  • 11 Guzmán J, Esmail R, Karjalainen K, Malmivaara A, Irvin E, Bombardier C. Multidisciplinary bio-psycho-social rehabilitation for chronic low-back pain (Cochrane Review). In: The Cochrane Library, Issue 3-2004. Chichester, UK: John Wiley & Sons 2004
  • 12 Hayden JA, van Tulder MW, Tomlinson G. Systematic review: Strategies for using exercise therapy to improve outcomes in chronic low back pain.  Ann Intern Medicine. 2005;  142 776-785
  • 13 Dreinhöfer K, Stucki G, Ewert T, Huber E, Ebenbichler G, Gutenbrunner C, Kostanjsek N, Cieza A. ICF Core Sets for osteoarthritis.  Journal of Rehabilitation Medicine. 2004;  44 ((Supp l)) 75-80
  • 14 Cieza A, Stucki G, Weigl M, Disler P, Jäckel W, van der Linden S, Kostanjsek N, de Bie R. ICF Core Sets for low back pain.  Journal of Rehabilitation Medicine. 2004;  44 ((Suppl 1)) 69-74

1 Stand Juli 2009; das Konzept wird fortgeschrieben. Der AG Bewegungstherapie gehören an: Angelika Baldus, Dr. Silke Brüggemann, Dr. Inge Ehlebracht-König, Prof.Dr. Bernhard Greitemann, Prof. Dr. Gerhard Huber, Prof. Dr. med. Marthin Karoff , Dr. Sonia Lippke, Prof. Dr.Klaus Pfeifer (Sprecher), Dr. Gorden Sudeck, Dr. Wilfried Schupp, Prof. Dr. Klaus Schüle, Dr. Marlis Winnefeld, Prof. Dr. Christoph Zalpour.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Klaus Pfeifer

Sprecher der AG Bewegungstherapie

Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Institut für Sportwissenschaft und Sport

Gebbertstraße 123b

91098 Erlangen

Email: klaus.pfeifer@sport.uni-erlangen.de

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