Zentralbl Chir 2010; 135(5): 445-446
DOI: 10.1055/s-0030-1247387
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Brennpunkt chirurgische Weiterbildung

In Focus: Further Training in SurgeryH. Scheuerlein1 , U. Settmacher1
  • 1Universitätsklinik Jena, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie, Jena, Deutschland
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Publication Date:
25 October 2010 (online)

Die deutsche Chirurgie ist mit einem bisher nicht gekannten Nachwuchsmangel konfrontiert. Die Chirurgie ist allerdings kein Einzelfall, sondern es ist annähernd die gesamte Medizin betroffen: 5 000 Arztstellen sind nicht besetzt, im niedergelassenen Bereich fehlen 4 000 Vertragsärzte, 70 % (!) der Medizinstudenten wollen einer Umfrage der Ruhruniversität Bochum zufolge Deutschland den Rücken kehren. 

Für die Nachwuchssorgen in der Chirurgie werden insbesondere drei Faktoren verantwortlich gemacht: Weiterbildung, Verdienst und Work-Life-Balance. Hinzu kommen eine teils dünkelhafte Hierarchie, eine hohe Fremdarbeitsbelastung, eine im stationären wie im niedergelassenen Bereich gleichermaßen übertriebene Reformwut und nicht zuletzt im Vergleich zu früher wesentlich unattraktivere Perspektiven einer geeigneten Endposition als Chefarzt, leitender Arzt oder Niedergelassener. 

Das Thema Weiterbildung scheint unmittelbar angehbar und ist daher auch in der chirurgischen Landschaft seit geraumer Zeit in aller Munde. Allein im vergangenen Jahr erschienen in „Der Chirurg BDC“ drei Schwerpunkthefte zum Thema Weiterbildung und Nachwuchsförderung, jeder größere nationale und internationale Kongress hat das Thema in mehr oder weniger umfangreicher Form aufgegriffen. Aus diesem Grund lag es nahe, dieses wichtige und aktuelle Thema auch zum Schwerpunkt der Jahrestagung der Thüringischen Gesellschaft für Chirurgie zu machen. Ziel war es, alle Facetten des Brennpunkts Weiterbildung zum Thema zu machen. Wir sind den Herausgebern des Zentralblatts zu Dank verpflichtet, dass ausgewählte Beiträge dieses Kongresses als Nachlese im vorliegenden Heft erscheinen können. 

Das ehemals hohe Renommee unseres Fachs scheint zu verblassen oder anders ausgedrückt: Immer weniger Absolventen sind aufgrund der mit dieser Berufswahl anstehenden Entbehrungen willens und bereit, diesen Weg einzuschlagen, mag das soziale Prestige auch hoch sein. Dafür werden immer mehr andere Faktoren wichtig. Diese anderen Faktoren kumulieren im Stichwort Work-Life-Balance (oder noch grotesker: Life-Work-Balance). Es gibt ohne Zweifel einen Paradigmenwechsel, einen Generationenkonflikt in unserem Fach: War es für den Chirurgen alter Prägung ganz selbstverständlich, eine Unmenge an Zeit und Engagement für den Beruf (und die Karriere) zu opfern, so hat sich dies heute grundlegend gewandelt. Wir leben in einer „Freizeitgesellschaft“, in der zunehmend auch die nicht-berufliche Selbstverwirklichung im Mittelpunkt des Interesses steht. Dieser gesamtgesellschaftlichen Situation muss sich letztlich auch die Chirurgie anpassen. Um nicht missverstanden zu werden: Der Teil dieser Veränderungen, der einer ausgewogeneren Work-Life-Balance (und damit einer höheren Berufszufriedenheit) dient, ist einerseits in vollem Umfang zu begrüßen. Nur müssen dann auch die Implikationen und Konsequenzen für das Berufsbild des Chirurgen berücksichtigt und verstanden werden. Soll bei gleichen Qualitätsansprüchen die Weiterbildung nicht länger oder schlechter werden, so muss sie in Anbetracht dieses Paradigmenwechsels, unter den auch die Anpassungen des Arbeitszeitgesetzes zu subsumieren sind, wesentlich besser organisiert werden. 

Ansprüche und Prägung heutiger Berufsanfänger unterscheiden sich oft wesentlich von denjenigen früherer Chirurgengenerationen und immer weniger Überzeugte sind bereit, sich dieser langwierigen und anstrengenden Ausbildung zu unterwerfen. Das liegt oft auch daran, dass sie bereits während ihres Praktischen Jahrs und in der Zeit davor schlechte Erfahrungen mit dem chirurgischen Alltag machen. Es liegt an uns, diesen Circulus vitiosus zu durchbrechen und Perspektiven aufzuzeigen. Dies kann bspw. durch bewusste Vorbildwirkung oder auch durch Initiativen wie die Theodor-Billroth-Akademie (s. Beitrag B. Brücher) geschehen. Wir müssen mehr für unser Fach werben. Der Chirurg erfährt eine berufliche Befriedigung, Erfüllung und Selbstbestätigung wie kaum eine andere Profession, hinzu kommt das hohe Privileg nahezu unumschränkten Patientenvertrauens. Das sind die Trümpfe, auf die es zu verweisen gilt, die aber auch vorgelebt werden müssen. Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich auch das Besondere dieses Berufs: Er wird niemals ein „Job“ sein können, sondern muss immer ein Stück weit Berufung sein, und er wird sich (vermutlich? hoffentlich?) schon gar nicht als „Nine-to-Five-Job“ organisieren lassen. 

Machen wir uns deshalb nichts vor. Die Motivation, Chirurg werden zu wollen, muss von innen kommen. Das setzt u. a. Eignung und Belastbarkeit voraus, also Eigenschaften, die per se wenig geschult werden können, sondern angelegt sein müssen. Diesen Umstand vorausgesetzt, müssen alle Bestrebungen darauf gerichtet sein, den vorhandenen Nachwuchs möglichst engagiert und gut auszubilden und ihn vom als unattraktiv empfundenen Ballast mehr und mehr zu befreien. Überspitzt formuliert heißt das: Wesentlich weniger Schreibtisch und mehr Operationssaal und Krankenbett. Diese Forderung richtet sich weniger an die chirurgischen Weiterbilder als vielmehr an die administrativen Gremien. 

Auf Kongressen und in Veröffentlichungen wurde mittlerweile ein ganzer Katalog an Maßnahmen, die das Fach für den Nachwuchs wieder attraktiver machen sollen, formuliert: 

Die Weiterbildung muss viel mehr als bisher strukturiert, organisiert und damit insgesamt optimiert werden, wobei die Rahmenbedingungen durchaus an die jeweilige Weiterbildungseinrichtung angepasst sein können. Weiterbildung sollte nicht als Last empfunden werden, sondern ist selbstverständliche Verpflichtung und sollte als Haltung gelebt werden. Der Einsatz entsprechender Hilfsmittel (strukturierte, an die Facharztweiterbildung gekoppelte externe Fortbildungen, interne Weiterbildungs-Curricula, Log Buch, Web Log Buch, Web OP-Lehre, s. Beiträge S. Said und C. Pape-Köhler) macht dabei Sinn und ist bspw. mit dem Log Buch bereits verpflichtend eingeführt. Die teils illusorischen Vorgaben der WBO sollten noch mehr der Realität angepasst werden Die in der Chirurgie traditionellerweise auf Druck, Zwang und Unsicherheit (Machtinstrument Operationskatalog, kurzfristige Vertragsverhältnisse) gegründete Führungskultur ist passe. Vielmehr müssen sich neue Ideale – aktives Mentoring, Partnerschaftlichkeit, Verlässlichkeit und ein Klima der Wertschätzung – durchsetzen Fördern und fordern. Dies sollte früh beginnen. Die Vorbildwirkung sollte besser beachtet und eine positive Ausstrahlung vermittelt werden. Studenten sollten mehr und aktiv in den chirurgischen Alltag eingebunden werden, das Faszinierende und die Erfolge des Fachgebiets sollten noch mehr betont werden Adäquate Vergütung / Verdienstmöglichkeiten Förderung der „Soft skills“, Schulung von Führungs-, Kommunikations- und Managementkompetenzen (s. Beiträge U. Schlein und M. Niedermeyer) Die Chirurgie wird weiblicher (s. Beitrag C. Stroh). Hier wird die bisherige Männerdomäne sicherlich dazulernen müssen, Familienfreundlichkeit darf und sollte keine bloße Worthülse bleiben

Die Chirurgie im 21. Jahrhundert bietet eine Vielzahl von Chancen und Herausforderungen. Unsere Aufgabe ist es, den Jüngeren eine Perspektive zu vermitteln. Hierbei geht es weniger um finanzielle Aspekte, es geht vielmehr um Teamgeist, Nachhaltigkeit, Verbindlichkeit und darum, eine individuelle Entwicklung zuzulassen und v. a. zu fördern. Dazu müssen beide Seiten, Mentor und Mentee, beitragen. Wenn die Voraussetzungen nicht stimmen, kann weniger mehr sein. Im Zweifelsfalle Konzentration auf das Wesentliche und die Wenigen! Wie kaum ein anderes Fach muss die Chirurgie seit jeher Gegensätze aushalten – konservative Grundhaltung und Innovationsfreude leben mit- und nebeneinander, das macht dieses Fach spannend und liebenswert. Der Jahreskongress der TGC 2009 sollte die Diskussion anregen, Denkanstöße und neue Impulse für Lösungsmöglichkeiten geben. Wir hoffen, dass dieses Schwerpunktheft einen Beitrag dazu liefern kann. 

H. Scheuerlein, U. Settmacher

Literatur

Dr. H. Scheuerlein

Universitätsklinik Jena · Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie

Erlanger Allee 101

07740 Jena

Phone: 0 36 41 / 9 32 24 51

Fax: 0 36 41 / 9 32 26 02

Email: Hubert.Scheuerlein@med.uni-jena.de

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