Psychiatr Prax 2010; 37(8): 411-412
DOI: 10.1055/s-0030-1268365
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Wie viel kostet eine offene Akutpsychiatrie?

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Publication Date:
05 November 2010 (online)

 

Die Entstigmatisierung ist eines der zentralen Anliegen moderner Psychiatrie. Diese sollte durch emanzipierte Teilnahme der Patienten an ihrer Therapie und Gleichstellung psychiatrischer Patienten mit somatischen Patienten angestrebt werden. Bis zu 60% der psychiatrischen Patienten werden auch mittels Zwangsmaßnahmen behandelt. Derzeit gibt es über beschriebene Praxen der Zwangsbehandlung wie Unterbringung, Betreuung, Isolation, Fixierung, Zwangsmedikation etc. keine randomisierten klinischen Studien und somit keine klare Evidenzbasierung [1]. Diese Situation basiert auf ethischen und rechtlichen Problemen und einer damit verbundenen eingeschränkten Möglichkeit einer Evaluation dieser Notfallmaßnahmen. Bisher sind die meisten Akutstationen psychiatrischer Kliniken verschlossen, was eine Einengung des Freiraums und der Autonomie aller dort befindlichen Patienten mit sich bringen kann.

In der Charité, Campus Mitte in Berlin wird die Akutstation mit Pflichtversorgung für Berlin Mitte seit 3 Jahren weitestgehend offen geführt. In einer Piloterhebung konnten wir zeigen, dass weder die Entweichungen noch Negativereignisse wie Übergriffe, Zwangsmedikationen und Suizide durch eine geöffnete Sta tionstür anzusteigen scheinen [2]. Tatsächlich kam es nach der Öffnung der Station zu einem signifikanten Abfall der Entweichungen, und auch die Teilnahme an weiterführenden Therapieangeboten nach dem Abschluss der Unterbringungsfrist schien sich bei offener Akutbehandlung zu erhöhen [2]. Weiters kam es zu einem signifikanten Abfall der Übergriffe und Zwangsmedikationen, die bei einem Prozentsatz von ca. 10% der Patienten im geschlossenen und ca. 5% der Patienten im offenen Intervall lagen [2]. Ein Rückgang von aggressiven Übergriffen nach Öffnung der Tür konnte auch in einer anderen Untersuchung nachgewiesen werden [3]. In dieser Erhebung wurde auch ein eventueller Einfluss erhöhter personeller Ausstattung auf das Vorkommen aggressiver Übergriffe diskutiert, da mit fehlender personeller und damit emotionaler Verfügbarkeit des Teams auch die Frustration und Aggression bei Patienten ansteigen könnten [3]. Die starke Beschäftigung des Teams mit dem Öffnen und Schließen der Stationstür kann Interaktionen mit den Patienten stetig unterbrechen oder sogar verhindern, was zu einer Reduktion des faktisch für Patienten verfügbaren Personals führt.

Eine Öffnung von Akutstationen benötigt wiederum entsprechende Personalressourcen. Die häufige Praxis, neu eingewiesene untergebrachte Patienten vorerst ohne Ausgang einige Tage zu beobachten oder bei Eintritt in die Klinik sofort zu behandeln, ist mit geöffneter Stationstür im Regelfall nicht umzusetzen. Das heißt, dass ein sehr intensiver Austausch mit den Patienten zur Risikokalkulation erfolgen muss, um die mögliche Eigen- und Fremdgefährdung durch Psychose, die Zwangsbehandlung rechtfertigen kann, von einer manifesten Eigen- und Fremdgefährdung zu trennen, die letztlich glücklicherweise nur selten vorliegt. Diese Risikokalkulation erfordert eine engmaschigere fachärztliche Supervision. Weiters muss neben der präziseren diagnostischen Einschätzung der Patienten eine erhöhte Übernahme von Verantwortung seitens aller behandelnden Therapeuten stattfinden und die Patienten müssen von der Therapie überzeugt und dafür gewonnen werden. Bei geöffneter Tür werden manifest suizidale und fremdgefährdende Patienten 1:1 betreut und begleitet, was erhöhte Anforderungen an das Pflegepersonal stellt. Denn dies muss im Einzelfall dem Patienten das Verlassen der Station verwehren oder die Schließung der Tür beschließen, was jedoch nach unserer Erfahrung in nur etwa 5–10% der Zeit erforderlich ist. Des Weiteren muss im Pflegeteam eine höhere Flexibilität und damit umfangreichere Supervision erfolgen, da Patienten verstärkt individuelle Lösungen erfordern und einfordern. Auch die Erarbeitung der Kompromissbereitschaft von Betreuern und Angehörigen und die Zustimmung und Einbindung der zuständigen Richter sowie Polizei ist mit einem wesentlich erhöhten Gesprächsbedarf und einer entsprechend zu leistenden Überzeugungsarbeit verbunden.

Der für diese offene Behandlung notwendige Personalbedarf benötigt zumindest die Erfüllung von 100% der PsychPV-Stellen! Der entsprechend PsychPV-ermittelte Personalbedarf wird unangemessen unterschritten, wenn die neuen Operationalisierungen vom September 2009 zur Einschätzung des Schweregrads und damit des Personalbedarfs angewendet werden. Denn sie verunmöglichen z.B. bei "Paktfähigkeit" und Gewährleistung von freiem Ausgang eine Klassifikation der Patienten als personalintensive A2 Patienten, obwohl gerade zur Absprache eines Anti-Suizidpaktes und zur Entaktualisierung sozialer Probleme, die zur Gewalttätigkeit führen können, intensivste Gespräche und ausreichende Personalressourcen notwendig sind. Diese Vereinbarungen gelten zurzeit noch nicht für MDK Prüfungen, verursachen jedoch bereits jetzt intensive Diskussionen um die angemessene Einschätzung des Schweregrads der Patienten. Deshalb müssen sie unseres Erachtens unmittelbar geändert werden, damit der Personalbedarf für die Behandlung psychisch kranker Menschen gerade auch dann gewährleistet ist, wenn diese mit erheblichem therapeutischem Einsatz weitgehend ohne Zwangsmaßnahmen behandelt werden!

Undine E. Lang, Oberärztin der Akutstation
Andreas Heinz, Klinikdirektor
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte
Charitéstraße 1
10117 Berlin

Email: undine.lang@charite.de
Email: andreas.heinz@charite.de

Literatur

  • 01 Muralidharan S , Fenton M . Containment strategies for people with serious mental illness.  The Cochrane Library. 2007;  Issue 4
  • 02 Lang U E, Hartmann S , Schulz-Hartmann S , et al . Do locked doors in psychiatric hospitals prevent patients from absconding?.  Eur J Psychiatry (im Druck).
  • 03 Folkard S . Aggressive behaviour in relation to open wards in a mental hospital.  Mental Hygiene. 1960;  44 155-161
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