Psychiatr Prax 2011; 38(08): 411
DOI: 10.1055/s-0031-1295585
Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz

Tilman Steinert
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Publication Date:
02 November 2011 (online)

 

Was hat der Kreuzschmerz in der Psychiatrischen Praxis verloren? Nur auf den ersten Blick: nichts. Statistisch ist aber immerhin mindestens jeder zweite unserer Leser aus eigener Erfahrung mit diesem Problem vertraut. Jetzt ist im August 2011 die neueste Fassung der "Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz" erschienen. Wer sich mit der Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression beschäftigt hat, weiß, welch enormer Aufwand nicht nur bezüglich Sichtung der Evidenz, sondern vor allem im Hinblick auf Konsensfindung dahintersteckt. Beim Kreuzschmerz sind es nicht weniger als 26 Verbände, von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie über die Deutsche Gesellschaft für Neurologie bis zur Deutschen Röntgengesellschaft, die als Herausgeber verantwortlich zeichnen. Das Ergebnis ist bemerkenswert, wenngleich für einen rational denkenden Arzt nicht überraschend. Dennoch, man könnte gerade meinen, die Leitlinie stamme aus der Feder eines Psychiaters. Viele der eigenen "Ceterum censeo"-Positionen als Leitlinien-Lehrmeinung wiederzufinden, kann den Ärzten der Psycho-Fächer eine gewisse Genugtuung verschaffen. Da rangiert doch nahezu das gesamte Arsenal der in orthopädischen und allgemeinärztlichen Praxen betriebenen Medizin unter den expliziten "Do not"-Empfehlungen: Keine bildgebenden Untersuchungen einschließlich Röntgen (außer bei "Red flag"-Hinweisen auf spezifische und gefährliche Ursachen), keine routinemäßigen Laboruntersuchungen, keine Akupunktur, keine Massagen, keine Bettruhe, keine Interferenztherapie, keine per- oder transkutane elektrische Nervenstimulation, keine Kurzwellen-Diathermie, keine Lasertherapie, keine Magnetfeldtherapie, keine Orthesen, keine Kältetherapie, keine Wärmetherapie, keine Traktionsbehandlung, kein Ultraschall. Was dann? Psychoedukation, Aufklärung, Schmerzmittel so weit nötig, Muskelrelaxanzien wie Benzodiazepine nicht länger als zwei Wochen, Fortführung der Bewegung, ggf. auch mit Krankengymnastik; rechtzeitiges Erkennen psychosozialer Chronifizierungsanzeichen, Verhindern von Vermeidungstendenzen, Passivierung und Somatisierung. Bei chronischem, nicht spezifischem Kreuzschmerz gilt die Empfehlung mit dem höchsten Evidenzgrad einer in ein multimodales Behandlungskonzept eingebundenen Verhaltenstherapie.

Die Bilanz der vorhandenen Wirksamkeitsnachweise ist in Psychiatrie und Psychotherapie teilweise ernüchternd – in der restlichen Medizin auch. Eine schlüssige und konsistente pathophysiologische Theorie der Schizophrenie oder der Depression gibt es bis heute erst in Ansätzen. Bei dem so verbreiteten unspezifischen Kreuzschmerz ist es keinesfalls besser. Die nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz ist weitgehend theoriefrei.

Tilman Steinert, Weissenau
E-Mail: tilman.steinert@zfp-zentrum.de

Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitline Kreuzschmerz – Langfassung. Version 1.2, August 2011.
www.versorgungsleitlinen.de/themen/kreuzschmerz