Laryngorhinootologie 2013; 92(03): 189-192
DOI: 10.1055/s-0032-1333300
Gutachten + Recht
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Aus der Gutachtenpraxis: Zeitgemäße, objektive Begutachtung der peripheren vestibulären Rezeptorfunktion (5-Rezeptoren-Diagnostik)

From the Expert’s Office: Current Diagnosis and Assessment of Vestibular Receptor Function
L. E. Walther
,
T. Brusis
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Publication Date:
21 February 2013 (online)

Einleitung

Die Begutachtung von peripher-vestibulären Störungen führt bei der Anwendung bisheriger diagnostischer Konzepte nur zu einer Teileinschätzung der Funktion der 5 Gleichgewichtsrezeptoren mit einer geringen Gewichtung objektiver Verfahren. Für die Begutachtung von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen ist jedoch ein diagnostisches Konzept wünschenswert, mit dem die Gesamtheit der 5 Rezeptoren differenziert und vorwiegend objektiv erfasst werden kann.

Neue Erkenntnisse über vestibuläre Reflexe haben in den letzten Jahren zur Entwicklung von Methoden geführt, mit denen es jetzt möglich ist, die Funktion aller 5 Rezeptoren des Gleichgewichtsorgans objektiv zu analysieren. So können mit den vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP) separate Aussagen über den Funktionszustand der Otolithenorgane Utrikulus und Sakkulus gemacht werden. Mithilfe des Video-Kopfimpulstest (Video-KIT) lässt sich die Rezeptorfunk­tion der 3 Bogengänge einschätzen.

Diese Methoden erlauben in Ergänzung mit anderen etablierten Verfahren eine topologische Analyse der 5 Rezeptoren sowie eine Aussage über das Spektrum gestörter Arbeitsbereiche einzelner Rezeptoren (Frequenzdynamik) und die zeitliche Entwicklung bei Vestibulopathien (zeitliche Dynamik). Das spielt vor ­allem bei der Erstellung kausalitäts­bezogener Gutachten eine entscheidende ­Rolle.

Fallbericht

Ein 39 jähriger Büroangestellter erlitt im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit beim Umzug der Firma im Juni Jahre 2011 einen Arbeitsunfall, bei dem er durch 2 unmittelbar hintereinander herabfallende Gegenstände am Kopf links getroffen wurde. Sofort nach dem Unfall beklagte er ein Ohrgeräusch links (hochfrequentes Pfeifen) und ein Schwindelgefühl.

Die Erstvorstellung beim HNO-Arzt am Unfalltag ergab eine Normakusis mit einem Tinnitus links bei 4 kHz (Lautheit 30 dB, ipsilateral mit 35 dB (Schmalbandrauschen) verdeckbar, totale Inhibition für 5 Minuten). Außerdem wurde unter der Frenzelbrille ein grobschlägiger, richtungsbestimmter, horizontalschlagender Spontannystagmus nach rechts festgestellt. Weitere funktionsdiagnostische Untersuchungen erfolgten nicht. Eine computertomografische Untersuchung des Schädels ergab keine pathologischen Befunde.

Die Ohrgeräusche verschwanden 6 Wochen nach dem Unfall. Der Spontannystagmus war nicht mehr nachweisbar. Es persistierte aber eine Schwindelempfindung (Unsicherheit, Schwanken) mit subjektiv mäßiger bis geringer Beeinträchtigung. Aus diesem Grund erfolgte 3 Monate nach dem Akutereignis eine Begutachtung in einer HNO-Klinik. Im Ergebnis dieser Begutachtung zeigten sich wiederum eine Normakusis sowie normale Befunde bei der Durchführung der Geh- und Stehversuche und der thermischen Prüfung mit Warm- und Kaltreizung (Luft). Wegen der Schwindelempfindungen wurde ein psychiatrisches/psychologisches Zusatzgutachten veranlasst. Hierbei ergaben sich keine Hinweise für eine psychische Ursache der Schwindelbeschwerden.

Wegen der Persistenz der Schwindelbeschwerden wurde 6 Monate nach dem Akutereignis eine erneute gutachterliche Untersuchung durchgeführt. Die Beurteilung der individuellen Belastung durch „Schwindel“ mithilfe der deutschen Version des Dizziness Handicap Inventory (DHI) ergab eine moderate Beeinträchtigung (DHI Score 37). Es dominierte eine geringe Bewegungssensitivität, emotionale Beeinträchtigungen waren minimal.

Bei der Untersuchung der Rezeptorfunktion der Gleichgewichtsorgane wurde die Funktion aller 5 Rezeptoren objektiv und unter frequenzdynamischen Gesichtspunkten geprüft:

Bogangangsfunktion.

Kein Nachweis eines Spontan- und Provokationsnystagmus (videookulografische Dokumenta­tion). Die thermische Prüfung mit Wasser (Kalt- und Warmreizung) war regelrecht (Seitendifferenz 23%, normal <25%). Dreh- und frequenzspezifische Drehpendelprüfung (0,01 Hz) ergaben normale Resultate (regelrechter Postrotatorius 1 ohne Seitendifferenz innerhalb von 20-40 Sekunden). Der klinische Kopfimpulstest (KIT) zeigte reproduzierbar eine gut sichbare Rückstellsakkade bei impulsartiger Bewegung des Kopfes nach links. Der Video-KIT für die horizontalen Bogengänge beiderseits ergab einen normalem Gain (Verstärkungswert) rechts (0,83, normal 0,97 ± 0,18, unterer Grenzwert 0,78). Links war der Gain pathologisch (0,63) ([Abb. 1]). Es traten regelmäßig offene und verdeckte pathologische Rückstell­sakkaden (Typ 1 und 3) auf. Der Video-KIT für die vertikalen Bogengänge war regelrecht.

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Abb. 1 Ergebnis des Videokopfimpulstests (Augenbewegung) für den hVOR links. Verdeckte 1 und offene 2 Sakkaden. Pathologischer hVOR-Gain.

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Otolithenfunktion.

Gegenrollung bei Kopfneigung beiderseits regelrecht, langsamer Tandem-Gang normal. Die luftleitungsinduzierten (Air conducted sound stimulation, ACS) zervikalen VEMP (cVEMP) bei 500 Hz und 100 dB nHL ergaben rechts normale p13 und n23 Latenzzeiten (normal p13: 15,91 ms±8,28 ms, n23: 24,69 ms±12,80 ms) und regelrechte p13–23 peak-to-peak-Amplituden (113,05 µV±35,95 µV). Links gelang reproduzierbar kein Nachweis eines ­biphasischen ACS cVEMP-Potenzials als Hinweis für einen Sakkulusschaden ([Abb. 2]). Die Ableitung der okulären VEMP (oVEMP) mit einem Luftleitungsreiz (ACS oVEMP) bei 500 Hz und 100 dB nHL zeigte normale Resultate für die n10 und p15-Latenzen (n10: 11,35±1,00 ms; p15: 16,30±1,10 ms) und n10-p15 peak-to-peak-Amplituden (7,70±4,50 μV) sowie ein normales Amplitudenverhältnis (21,5%) (normal <36%). Die Untersuchung der ACS cVEMP bei 1000 Hz ergab links ebenfalls keine nachweisbaren VEMP, rechts normale Latenzzeiten und Amplituden. Die ACS oVEMP bei 1 000 Hz waren beiderseits regelrecht. Die Bestimmung der subjektiven visuellen Vertikale (SVV) ergab bei 5 Wiederholungen im Mittel 1,2° Rechtsabweichung (normal <2,5°) und bei zentrischer sowie exzentrischer Rotation jeweils 6° Linksabweichung (normal <11°). Die subjektive visuelle Horizontale (SVH) zeigte bei 5 Wiederholungen eine Linksabweichung von 2,1° (normal 2,5°). Statische und dynamische Posturografie waren normal.

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Abb. 2 ACS cVEMP-Untersuchung. Normales biphasisches Potenzial bei 13 und 23 ms rechtsseitige a, fehlendes Potenzial links b (100 dB Burstreiz, 500 Hz).

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Zentrale vestibuläre Testverfahren.

Mittels Optokinetik, Blickfolge- und Sakkadentests, Prüfung der Vergenzbewegungen und Fixationssuppression keine pathologischen Befunde.


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Bewertung.

Störung des horizontalen vestibulookulären Reflexes (hVOR links, horizontaler Bogengang) im hochfrequenten Arbeitsbereich, Otolithenfunk­tionsstörung links mit Beeinträchtigung der Sakkulusfunktion (gering kompensiert).


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Diagnose.

Traumatische Funktionsstörung von horizontalem Bogengang und Sakkulus links.


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  • Literatur

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