Laryngorhinootologie 2000; 79(11): 633-635
DOI: 10.1055/s-2000-8278
HAUPTVORTRAG
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Moderne Verfahren der Sprachaudiometrie[1]

J. Kießling
  • Gießen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Einleitung

Die Sprachaudiometrie gehört unbestritten zu den Eckpfeilern des audiometrischen Instrumentariums und ist integraler Bestandteil der audiologischen Diagnostik, der Begutachtung sowie der Hörgeräteindikation und -evaluation. Insofern würde man erwarten, dass das allgemein verwendete Sprachtestmaterial modernen Anforderungen genügt. Eine diesbezügliche Bestandsaufnahme zeigte jedoch schon vor Jahren, dass dies durchaus nicht der Fall ist und dass erhebliche Defizite zu verzeichnen sind (von Wedel 1984). So stellt sich die Frage nach den Ursachen für die Weiterverwendung suboptimaler Tests, obwohl Alternativen verfügbar sind. Der vorliegende Artikel soll Antworten auf diese Frage liefern, wobei Kindersprachtests wegen der Limitation des Umfangs hier nicht behandelt werden können.

In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist eine Reihe von Sprachtests in deutscher Sprache entwickelt worden, von denen der Freiburger Sprachtest, der auch Eingang in die Normung gefunden hat (DIN 45621), noch immer auf breiter Front Verwendung findet, obwohl besonders das Einsilber-Testmaterial unter heutigen Gesichtspunkten eine Reihe von Schwachstellen aufweist:

Die Phonemverteilung entspricht zwar deutscher Sprache, aber die Phonemübergänge wurden bei der Konzeption der Testlisten nicht berücksichtigt. Der Bekanntheitsgrad der Einsilber wurde nicht ins Kalkül gezogen. Da die Verständlichkeit auch mit dem Bekanntheitsgrad korreliert, weisen die einzelnen Testlisten (Gruppen) entgegen der ursprünglichen Absicht unterschiedliche Verständlichkeiten auf, was durch zahlreiche Studien belegt ist. So ist erfahrungsgemäß die Gruppe 3 überdurchschnittlich, die Gruppe 5 unterdurchschnittlich verständlich. Da die Testlisten nur 20 Wörter enthalten, ist die Streuung der Messergebnisse zu groß - eine Tatsache die allgemein ignoriert wird. Immerhin ergibt sich unter Zugrundelegung einer Binomialverteilung bei Verständlichkeitswerten um 50 % eine Standardabweichung von über 10 %. Manche Testwörter bergen psychologische Hemmnisse (Aas, Sau, Krebs, etc.). Es existiert kein Ankündigungssignal und kein geeigneter Störschall für die Prüfung in geräuscherfüllten Situationen. Beides wäre im Sinne einer realitätsnahen Untersuchung dringend wünschenswert. Wegen der offenen Antwortmöglichkeiten ist ein automatisierter (computergesteuerter) Testablauf ebenso wenig möglich wie eine Analyse der Phonem-Verwechslungen. Die Aufsprache ist technisch veraltet und weist eine übertriebene Artikulation sowie eine unnatürliche Pegelnivellierung auf.

Angesichts dessen war es naheliegend, dass in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe innovativer Sprachtests entwickelt wurde, um die genannten Defizite zu beheben (Kollmeier 1992). Abhängig vom geplanten Einsatzgebiet sind bei der Konzeption eines Sprachtests folgende Parameter zu beachten und festzulegen:

Art des Testmaterials (Einsilber, Zweisilber, Mehrsilber, Sätze), Sinngehalt (sinnleer/sinnhaltig), Antwortalternativen (offen/geschlossen), Ankündigung (ohne/mit, Satz, akustischer Stimulus, Wortwiederholung), Störschall (ohne/mit, Modulationsgrad, Spektrum, Dauer, Darbietungsrichtung), Automatisiert/computergesteuert durchführbar (ja/nein).

Speziell dem Aspekt der automatisierten Durchführung kommt heute besondere Bedeutung zu, da dadurch erhebliche Vorteile gegenüber der manuellen Durchführung erzielt werden können (Zeitoptimierung durch adaptive Pegelsteuerung, Anpassung an die individuelle Antwortgeschwindigkeit, geringere Lerneffekte durch Randomisierung der Test-Items, automatische Speicherung und Auswertung, Bewertung von Phonem-Fehlinterpretationen).

Durch die Kombination der oben genannten Parameter ergibt sich eine Vielzahl möglicher Tests, von denen allerdings nicht alle Varianten zweckmäßig sind. Tatsächlich existieren inzwischen für zahlreiche Varianten Testmaterialen in deutscher Sprache. Wie bereits angedeutet, benötigt man für verschiedene Fragestellungen unterschiedliche Testmaterialien, so eignen sich z. B. bevorzugt Sätze für die Bestimmung der Sprachverständlichkeitsschwelle im Störschall (SRT: Speech Recognition Threshold), und damit auch die daraus abgeleiteten Größen ILD (Intelligibility Level Difference) sowie BILD (Binaural Intelligibility Level Difference), wohingegen sich Einsilber in Ruhe für die Ermittlung kompletter Diskriminationskurven anbieten.

1 Herrn Prof. Dr. med. Konrad Fleischer gewidmet zum 80. Geburtstag.

Literatur

  • 1 Kollmeier B (Hrsg). Moderne Verfahren der Sprachaudiometrie. Band 1 der Buchreihe Audiologische Akustik. Heidelberg; Median-Verlag 1992
  • 2 Wagener K, Brand T, Kollmeier B, Kühnel V. Entwicklung und Evaluation eines Satztests in deutscher Sprache. Teile I, II und III.  Z Audiol. 1999;  38 4-15, 44-56 und 86-95
  • 3 von Wedel H. Reichen die heute verfügbaren sprachaudiometrischen Verfahren zur Hörgeräteanpassung?.  Audiol Akust. 1984;  23 66-77 und 102-120

1 Herrn Prof. Dr. med. Konrad Fleischer gewidmet zum 80. Geburtstag.

Prof. Dr. rer. nat. Jürgen  Kießling

Funktionsbereich Audiologie HNO-Klinik der Universität Gießen

Feulgenstraße 10 35385 Gießen

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