Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(7): T1-T7
DOI: 10.1055/s-2001-11199
Originalien
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Körperliche Symptome und Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung

Bodily symptoms and utilization of medical careW. Laubach, E. Brähler
  • Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie (Leiter: Prof. Dr. E. Brähler), Medizinische Fakultät der Universität Leipzig
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Fragestellung: Ein wichtiger Teil des Krankheitsverhaltens, das auch über die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe entscheidet, ist die Wahrnehmung von Körpersymptomen und die Zuordnung eines Krankheitswertes. Es soll untersucht werden, bei welchen körperlichen Anzeichen für die Erkrankung eines Organsystems gesunde Personen der Normalbevölkerung die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen würden.

Probanden und Methodik: Einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung (n = 2050) im Alter zwischen 14 und 92 Jahren wurden 20 Symptome der Erkrankung verschiedener Organsysteme mit der Frage vorgelegt, ob sie bei diesen Symptomen einen Arzt aufsuchen würden.

Ergebnisse: Im erfragten Inanspruchnahmeverhalten gaben auch bei deutlichen körperlichen Symptomen wie z. B. »Blut im Urin«, »hartnäckige Gliederschmerzen«, »Schwindel- oder Ohnmachtsanfälle« oder »Schmerzen im Unterleib« zwischen 8 % und 10 % der Befragten an, keinen Arzt aufzusuchen. Darüber hinaus fand sich in Varianzanalysen für einzelne Symptome eine signifikant höhere Inanspruchnahme von Frauen sowie von älterer Personen gegenüber Männern bzw. jüngeren Personen. Auffällig war jedoch die deutlich geringere Inanspruchnahme der Einwohner der neuen gegenüber den Einwohnern der alten Bundesländer. Bei den befragten Personen bestand kein Zusammenhang zwischen den Angaben zur Inanspruchnahme und subjektiven Körperbeschwerden, erfasst mit dem Gießener Beschwerde-Bogen und sowie der Hypochondrie-Neigung, erfasst mit dem Whiteley-Hypochondrie-Index.

Folgerungen: Vor einer ärztlichen Konsultation stehen offensichtlich komplexe Prozesse der Körperwahrnehmung und Symptombewertung, die als Teil des Krankheitsverhaltens anzusehen sind und vor allem kognitive Anteile (Gesundheitsüberzeugungen, »health beliefs«) aufweisen. Sie sind abhängig von soziodemographischen und sozialstrukturellen Merkmalen und haben weitreichende Bedeutung für die ambulante Versorgung. Es zeigt sich, dass in diesem Bereich noch ein großer Forschungsbedarf besteht.

Bodily symptoms and utilization of medical care

Objective: An important aspect in a person’s attitude towards disease, which also determines when medical help is sought, relates to one’s perception of bodily symptoms and to the manner in which the impact of an illness is dealt with. It was the aim of this study to ascertain what bodily signs of disease in an organ system would make healthy persons within a normal population seek medical help.

Material and methods: A representative sample of the population of Germany (n=2050), aged between 14 and 92 years, was presented with the description of 20 symptoms of diseases of various organ systems and asked which of these symptoms would induce them to consult a doctor.

Results: Between 8% and 10% of those asked said that they would not go to a doctor even if they had clear bodily symptoms, e. g. »blood in the urine«, »persistent joint pains«, »dizziness of fainting« or »pain in the lower abdomen«. Analysis of variance for individual symptoms revealed that a significantly higher percentage of women and elderly persons would go and see a doctor than men and younger persons. Significantly fewer persons in the eastern (former DDR) Lands than the western ones would seek medical help. There was no significant correlation between the seeking medical help and subjective complaints, as measured by the Giessen Complaint Questionnaire, as well as any tendency towards hypochondria, as measured by the Whiteley Hypochondria Index.

Conclusion: It is clear that complex processes of bodily awareness and assessment of symptoms precede medical consultation. These processes must be considered as part of a person’s attitude towards illness and, most of all, of its congnitive component (»health beliefs«). They are dependent on charakteristics of sociodemography and social structure ant they have far reaching significance for ambulatory care. It is clear that there is a great need for research in this area.

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Korrespondenz

PD Dr. biol. hom. habil. Wilfried Laubach

Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig

Liebigstraße 21

04103 Leipzig

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