Psychother Psychosom Med Psychol 2007; 57(7): 269-270
DOI: 10.1055/s-2007-970912
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Nothing tastes as good as thin feels …” - Einschätzungen zur Pro-Anorexia-Bewegung im Internet

„Nothing tastes as good as thin feels …” - Considerations About Pro-Anorexia-WebsitesChristiane  Eichenberg1 , Elmar  Brähler2
  • 1Institut für Klinische Psychologie und Psychologische Diagnostik - Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität zu Köln
  • 2Abteilung für Medizische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig
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Publication History

Publication Date:
22 June 2007 (online)

Dr. Christiane Eichenberg

Prof. Elmar Brähler

Als Nachtrag zum letzten Themenheft „Essstörungen” (PPmP 6/2007) möchten wir heute auf eine neue „Selbsthilfebewegung” im Internet aufmerksam machen. Anfang dieses Jahrtausends ist in den USA die sogenannte Pro-Ana- (von Anorexia nervosa) und äquivalent dazu die Pro-Mia- (von Bulimia nervosa) Bewegung entstanden. Die Anhänger von Pro-Ana, gemäß der Prävalenz von Anorexie fast ausschließlich junge Frauen, tauschen sich über spezielle Websites oder Blogs in überwiegend passwortgeschützten Foren aus. Sie stellen dort die Magersucht in Wort und Bild als Lebensstil und extremes Schlankheitsideal dar, dem sie sich mit radikalen Maßnahmen nähern. Die Essstörung erhält dabei die Konnotation einer Art der Selbstverwirklichung, der Souveränität und Autonomie sowie der Macht über den eigenen Körper, wobei die Erkrankung gegen eine feindselige Umwelt verteidigt werden muss. Teilweise begründen die Pro-Ana-Anhängerinnen ihre Motivation damit, resigniert und die Hoffnung auf Heilung aufgegeben zu haben. Die Assoziation von „Ana” mit dem Namen „Anna” ist gewollt und steht für eine idealisierte Personifikation der Anorexie. Sie kommt insbesondere im „Brief von Ana” zum Ausdruck, der sich auf den entsprechenden Webseiten als ein zentrales Manifest findet. Typischerweise integrieren Pro-Ana-Seiten bestimmte Glaubensgrundsätze wie z. B. „Nothing tastes as good as thin feels …”

(http://anaforum.kostenloses-forum.tk).

Inzwischen existieren im deutschsprachigen Raum schätzungsweise mehrere hundert solcher WWW-Seiten.

Insgesamt hat sich das Internet sowohl als Medium für die professionelle Beratung als auch für die Selbsthilfe für von Essstörungen Betroffenen als effektiv erwiesen [1]. Mit dem Aufkommen der Pro-Ana-Bewegung ist es notwendig geworden, Kriterien zu entwickeln, um beispielsweise Einrichtungen des Jugendschutzes (vgl. jugendschutz.net; Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia: www.fsm.de) Leitlinien an die Hand geben zu können, anhand derer die Nützlichkeit bzw. Schädlichkeit von Selbsthilfeforen im Bereich der Essstörungen beurteilt werden kann ([Tab. 1]).

Tab. 1 Kriterien für konstruktive Selbsthilfeseiten zu Essstörungen (1) In der Foren-Selbstbeschreibung werden Essstörungen (ES) als psychische Erkrankungen anerkannt: - ES werden als behandlungsbedürftige Erkrankungen beschrieben, die ärztliche wie psychologische Hilfe benötigen. - ES werden als Erkrankungen beschrieben, die heilbar sind. - ES werden als Erkrankungen beschrieben, die bedrohliche psychische wie physische Folgen haben bis hin zur Mortalität. Diese lebensbedrohlichen Folgen werden auf der WWW-Seite expliziert. - Entsprechend wird z. B. kein Bildmaterial überschlanker Modells (sog. „Thinspirations”) veröffentlicht, das ein krankhaftes Schönheitsideal propagiert. Vielmehr wird als explizites Ziel des Austausches die Heilung der ES deklariert und nicht sog. „Contests” zum weiteren Abnehmen veranstaltet (vgl. z. B. http://74337.rapidforum.com). (2) Die Foren integrieren Hinweise auf therapeutische Angebote. (3) Die Foren benennen - beispielsweise in einem Disclaimer - ausdrücklich, dass Hinweise auf den destruktiven Umgang mit der ES weder gewünscht noch geduldet werden und falls solche Beiträge gepostet werden, diese gelöscht und die entsprechenden Autoren keinen Zugang mehr zum Forum erhalten. Beispiele für entsprechende destruktive Umgangsformen bei Anorexie sind: - Ratschläge, wie man immer weiter abnehmen kann und die Gewichtsabnahme verheimlicht. - Ratschläge, wie man Angehörige am besten über das eigene Essverhalten täuschen kann. - Ratschläge, wie man Gewichtskontrollen beim behandelnden Arzt am besten manipulieren kann. Beispiele für entsprechende destruktive Umgangsformen bei Bulimie sind: - Ratschläge, welche Nahrungsmittel sich am leichtesten wieder erbrechen lassen. - Ratschläge, wie man sich so übergibt, dass es niemand bemerkt. (4) Die Foren verlangen keine „aussagekräftigen” Vorstellungsrunden und formulieren nicht bestimmte „Aufnahmekriterien”. Beispiele sind: - Angaben des Gewichts, des BDI, des Zielgewichts etc. - Abgabe einer Erklärung, in der man eindeutig die Pro-Ana-Gesinnung zusichert: „Es kommt nur rein, wer glaubhaft versichert, sich in den Bereich des Untergewichts hungern zu wollen.” - Zusicherung einer Anwesenheitspflicht mit einer bestimmten Anzahl eigener Postings pro Woche.

Generell verhindert eine globale Negativeinschätzung von Selbsthilfeforen von und für Betroffene von Essstörungen den differenzierten Blick auf das tatsächliche, unter Umständen forumsspezifische Geschehen. Eine Vielzahl von Selbsthilfeforen für Essgestörte hat sich als effektiv erwiesen. Für die Untergruppe der Pro-Ana-Foren liegen bislang noch keine empirischen Ergebnisse vor, die die Effekte solcher Foren für Betroffene oder unbeteiligte Dritte, die z. B. aus Neugier die entsprechenden WWW-Seiten besuchen, erhellen. Somit sind potenziell konstruktive oder destruktive Auswirkungen nicht belegt. Es liegen lediglich inhaltsanalytische Studien vor, die die dominierenden Inhalte der Forumsdiskussion beschreiben (z. B. [2]). Ohne entsprechende Studien können nur vorläufige Einschätzungen gegeben werden, die auf klinischer Erfahrung beruhen.

Bei ähnlichen als problematisch eingestuften Selbsthilfeforen (z. B. „Suizidforen”) konnten bisherige empirische Studien entdramatisierende Befunde liefern [3]. „Ansteckungs- und Trigger-Effekte” konnten nicht nachgewiesen werden. Insgesamt kann das Gefährdungspotenzial für unbeteiligte Dritte als gering eingestuft werden; aus klinischer Sicht ist es unwahrscheinlich, dass Menschen suizidal und essgestört „gemacht werden”. Vielmehr werden Unbeteiligte und auch Betroffene oft erst durch Medienberichte auf entsprechende Foren aufmerksam gemacht. Eine Einflussnahme auf die Art und Weise der Berichterstattung würde hier präventiv wirken.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Pro-Ana-Seiten in ihrer Ausrichtung sehr unterschiedlich sind [4]. Demnach gilt es, im Einzelfall zu prüfen, ob die Inhalte und Kommunikationsstruktur im Forum den o. g. Kriterien für hilfreiche Selbsthilfeplattformen entsprechen. Viele Webmaster von Pro-Ana-Foren haben Erfahrungen mit Schließungen ihrer Seite gemacht; sie ergreifen häufig eine Reihe von Maßnahmen, um ihr Forum zu erhalten (z. B. ständiger Umzug auf neue Server; Forderung einschlägiger Bewerbungen, um Personen mit gleicher Gesinnung selektieren zu können). Auf einigen Pro-Ana-Seiten finden sich auch Hinweise zu Therapiemöglichkeiten und Tipps zur Verringerungen von gesundheitliche Risiken und Langzeitfolgen. Damit übernehmen diese Angebote auch präventive oder kurative Aspekte [5]: Sie bieten einen unzensierten Austausch über ein Problem mit ebenso Betroffenen, durch den Entlastung, Verständnis und die Überwindung von Scham erfahren werden kann. Die „Heimlichkeit” wird aufgegeben und somit ein Schritt in Richtung der Überwindung von Isolation möglich. Gleichzeitig kann die Gruppendynamik in den Foren jedoch auch massive negative Konsequenzen haben: z. B. wenn sich gegenseitig Hilfestellungen gegeben werden, die selektiv auf die Beibehaltung der Essstörung gerichtet wird oder die Erkrankung mit „Autonomie” gleichgesetzt wird. Der Selbsthilfeaspekt der Pro-Ana-Webseiten wird dadurch untergraben, wenn die Symptome der Essstörung beibehalten, gefördert und sogar zum Identitätsmerkmal erhöht werden. Die oben formulierten Kriterien sind darauf auslegt, dann entsprechende Internetaktivitäten zur Selbsthilfe unter Menschen mit Essstörungen als konstruktiv zu betrachten, wenn eine eindeutige Haltung „zur Bekämpfung der Krankheit” bezogen wird. Da die dauerhafte Schließung entsprechender Seiten nur schwer gelingen wird, wäre ein erster Schritt für Einrichtungen des Jugendschutzes, mit den Betreibern entsprechender Foren zu verhandeln, diese Inhalte zu integrieren und auf ihren Seiten gut sichtbar zu platzieren, um eine ausgewogenere Darstellung von Essstörungen als 1. schwere Erkrankung und 2. behandelbare Erkrankung zu erreichen. Für Ärzte und Psychotherapeuten ist wichtig, Kenntnisse über die aktuelle Bewegung zu haben, um ihren essgestörten Patienten, die unter Umstände entsprechende Webseiten frequentieren, informiert begegnen zu können.

Literatur

  • 1 Eichenberg C. Essstörungen: Informations- und Interventionsangebote im Internet.  Psychotherapie im Dialog. 2004;  1 82-85
  • 2 Norris M L, Boydell K M, Pinhas L, Katzman D K. Ana and the Internet: a review of pro-anorexia websites.  The International journal of eating disorders. 2006;  39 (6) 443-447
  • 3 Eichenberg C, Otte T A, Fischer G. Suizidselbsthilfe-Foren im Internet: Eine Befragungsstudie.  Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie. 2006;  1 30-38
  • 4 Giles D. Constructing identities in cyberspace: The case of eating disorders.  The British journal of social psychology. 2006;  45 (3) 463-477
  • 5 Kölz D, Gawlik W, Brauner R. Selbsthilfe- und Präventionsaspekte von Pro-Ana im Internet. Alpach; Vortrag auf dem Kongress Essstörungen 2006

Dr. Dipl.-Psych. Christiane Eichenberg

Institut für Klinische Psychologie und Psychologische Diagnostik, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität zu Köln

Höninger Weg 115

50969 Köln

Email: eichenberg@uni-koeln.de

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