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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter March 14, 2017

Gesundheitskompetenz messen – Kritischer Blick auf standardisierte Verfahren

Measuring health literacy – a criticial view on standardised measures
  • Eva Maria Bitzer EMAIL logo
From the journal Public Health Forum

Zusammenfassung

Die mehr als 120 standardisierten Verfahren zur Erhebung der Gesundheitskompetenz unterscheiden sich u.a. danach, ob sie als Testinstrumente oder zur Selbsteinschätzung konzipiert sind. Selbsteinschätzungsfragebögen erfreuen sich hoher Akzeptanz, sind in der Regel mehrdimensional, jedoch mitunter konzeptionell unscharf. Dagegen liefern Testinstrumente objektivierbare Informationen, konzentrieren sich jedoch oft eng auf das Textverständnis und Wissen und sind weit weniger bei den Befragten akzeptiert.

Abstract

There are more than 120 standardised approaches to measure health literacy which differ by facets and levels assessed and whether they use self-reports or performance based measures. While measures based upon self-reports are easier to administer and are normally multidimensional, often, they suffer from conceptual ambiguity. In contrast, performance measures provide objective information, but they often focus narrowly on text understanding and knowledge. Their acceptance might be low.

Theoretische Vorüberlegungen

Gesundheitskompetenz umfasst das Wissen, die Motivation und die Kompetenzen von Menschen in Bezug darauf, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheitsbewältigung, der Krankheitsprävention und der Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können, die die Lebensqualität im gesamten Lebensverlauf erhalten oder verbessern [1]. Unterscheiden lassen sich die Ebenen funktionale, interaktive und kritische Gesundheitskompetenz [2]. Nach dem hypothetischen Strukturmodell der Gesundheitskompetenz lässt sich individuelle Gesundheitskompetenz auch als Netz verschiedener Fertigkeiten aus den vier Kompetenzbereichen „grundlegende Fähigkeiten“, „Wissen“, „Motivation“ und „Handlungskompetenz“ mit acht Facetten beschreiben [3]. Die Modelle sind situationsübergreifend, generisch und damit vergleichsweise abstrakt. Sie thematisieren solche Kompetenzen, die in sehr vielen verschiedenen gesundheitsrelevanten Situationen und Kontexten von Bedeutung sind. Je nach Kontext und Situation bedarf es einer Konkretisierung und Spezifizierung, beispielsweise für den gesundheitskompetenten Umgang mit einer chronischen Erkrankung.

Charakterisierung von standardisierten Verfahren zur Erhebung der Gesundheitskompetenz

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund lassen sich standardisierte Verfahren zur Erfassung der Gesundheitskompetenz nach vier Kriterien einteilen.

  1. Angesprochene Facetten (im engeren Sinn: Finden, Verstehen, Bewerten, Anwenden, im weiteren Sinn: Motivation, Volition, Verantwortung)

  2. Angesprochene Ebenen (funktional, interaktiv, kritisch)

  3. Inhaltliche Ausrichtung (generisch, bezogen auf allgemeine gesundheitliche Aspekte, oder spezifisch, mit Bezug zu Erkrankungen/gesundheitlichen Problemsituationen)

  4. Erhebungskonzept (Selbsteinschätzung oder Testinstrument)

Wir können Fragebögen danach charakterisieren, ob sie unter Bezugnahme auf ein theoretisches Modell entwickelt wurden und welche Facetten der Gesundheitskompetenz sie adressieren. Inwiefern beispielsweise vorranging funktionale Gesundheitskompetenz, also Grundfertigkeiten wie Lese- und Zahlenverständnis erfasst werden, oder ob auch interaktive oder kritische Gesundheitskompetenz, oder gar Motivation, Volition und Handlungskompetenz versucht wird, zu erheben. Generische Fragebögen richten sich zumeist an die Allgemeinbevölkerung und operationalisieren, in mehr oder weniger enger Anlehnung an eine theoretische Vorüberlegung, Facetten der Gesundheitskompetenz so allgemein, dass sie für möglichst viele Menschen relevant und beantwortbar sind. Spezifische Erhebungsinstrumente erfragen gesundheitsbezogenes Wissen und Fertigkeiten sehr viel konkreter, in der Regel auf bestimmte Erkrankungen oder gesundheitliche Versorgungsleistungen bezogen.

Eine sehr grundsätzliche Unterscheidung bezieht sich darauf, ob die Fragebögen individuelle, subjektiv wahrgenommene Gesundheitskompetenz als Selbsteinschätzung erfassen, oder ob sie als Testinstrumente konzipiert sind, und so auf Performanz und Objektivierbarkeit abstellen. Selbsteinschätzungsfragebögen gehen den Fragen nach, wie gut die Befragten ihre Fähig- und Fertigkeiten einschätzen oder dazu, wie leicht bzw. schwer es ihnen fällt, gesundheitsbezogene Aktivitäten bzw. Handlungen selbst zu praktizieren. Die als Testinstrumente konzipierten Erhebungsinstrumente erfassen die Gesundheitskompetenz mittels Aufgaben und Prüffragen zu medizinischen bzw. gesundheitlichen Begriffen oder zu Sachverhalten, gesundheitsrelevanten Texten oder auch in Form von Szenarien [4].

Welche standardisierten Verfahren gibt es?

Nach aktuellen Übersichtsarbeiten [5], [6], [7], [8] liegen mehr als 120 Erhebungsinstrumente, zumeist aus dem angelsächsischen Sprach- und Kulturraum vor. In etwa die Hälfte ist generisch, die andere Hälfte spezifisch. Bei beiden Varianten basieren ca. zwei Drittel auf den Test of Functional Health Literacy in Adults (TOFHLA) [9], [10], der funktionales Leseverständnis erhebt (vgl. Tabelle 1), und den Rapid Estimate of Adult Literacy in Medicine (ReALM), einem 125 Wörter umfassenden Worterkennungstest [16]. D.h. die Mehrheit der zur Verfügung stehenden Erhebungsverfahren fokussiert eng auf funktionales Lese- und Textverständnis. Unter den übrigen Instrumenten überwiegen performanzorientierte Erhebungsverfahren, zumeist Wissenstests, vereinzelt aber auch komplexerer Natur, z.B. in Form von anspruchsvollen Aufgaben [15], [17].

Tabelle 1:

Fünf Beispiele zur Erhebung der generischen Gesundheitskompetenz.

NrCharakterisierungBeispielfrageQuelle
1Verstehen

Funktional: Textverständnis

Test
Ich verpflichte mich, meiner Krankenkassegegenüber korrekte Angaben zu ________________

 a) lachen

 b) sprachen

 c) machen

 d) malen
[11]
2Verstehen

Funktional: Zahlenverständnis

Test
Von 1.000 Leuten in einer Kleinstadt sind 500 Mitglied im Gesangsverein. Von diesen 500 Mitgliedern im Gesangsverein sind 100 Männer. Von den 500 Einwohnern, die nicht im Gesangsverein sind, sind 300 Männer.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig ausgewählter Mann ein Mitglied des Gesangsvereins ist?

Bitte geben sie die Wahrscheinlichkeit in Prozent an.
[12]
3aFinden

Interaktiv Selbsteinschätzung
Auf einer Skala von sehr einfach bis sehr schwierig, wie einfach ist es Ihrer Meinung nach zu beurteilen …,

… Gesundheitsratschläge von Familienmitgliedern oder Freunden zu verstehen?
[13]
3bBewerten

Interaktiv+Kritisch

Selbsteinschätzung
Auf einer Skala von sehr einfach bis sehr schwierig, wie einfach ist es Ihrer Meinung nach zu beurteilen, ob die Informationen über Gesundheitsrisiken in den Medien vertrauenswürdig sind? (Fernsehen, Internet oder andere Medien)
4aFinden

Kritisch

Selbsteinschätzung
Bitte kreuzen Sie in jeder Zeile an, ob Sie sich eher gut oder eher schlecht informiert fühlen über...

– Anlaufstellen bei Verdacht auf einen Behandlungsfehler

– Die Qualität von Ärzten/Ärztinnen

– Die Qualität von Krankenhäusern
[14]
4bWissen

Kritisch

Test
Welche der folgenden Patientenrechte kennen Sie?

– Recht auf freie Arztwahl

– Recht auf Einholen einer ärztlichen Zweitmeinung
[14]
5Bewerten

Kritisch

Test
Welche Daten müssen in der Übersichtsarbeit noch beschrieben sein, damit Sie die Gültigkeit der Ergebnisse beurteilen können?

Es muss beschrieben sein…

a) … wie die zusammengefassten Studien aufgefunden wurden.

b) … wann ein Update der Arbeit erfolgen wird.

c) … welche Expertise die Autoren haben.

d) … wie die Qualität der einzelnen Studien beurteilt wurde.
[15]

Charakterisierung entlang (a) der Facetten (Finden, Verstehen, Bewerten, Anwenden), (b) der Ebenen funktional, interaktiv und kritisch, (c) des Erhebungskonzeptes (Test oder Selbsteinschätzung).

Betrachtet man Erhebungsverfahren zur selbsteingeschätzten Gesundheitskompetenz werden sie seltener eingesetzt. Die Selbsteinschätzunginstrumente sind häufig entlang theoretischer Vorüberlegungen konzipiert und umfassen in der Regel auch mehr als eine Facette der Gesundheitskompetenz. Allerdings sind sie mitunter konzeptionell unscharf: Beispielsweise ist nicht immer klar formuliert, welche Antwortmöglichkeit als Ausdruck hoher Gesundheitskompetenz interpretiert werden muss. Betrachten wir die Frage „Bitte kreuzen Sie in jeder Zeile an, ob Sie sich eher gut oder eher schlecht informiert fühlen: Über die Qualität von Krankenhäusern“ [14]: Deutet die Antwort „sehr schlecht“ tatsächlich auf geringe Gesundheitskompetenz hin? Oder eher auf ein Gesundheitssystem, in dem es tatsächlich schwer fällt, sich über die Qualität von Krankenhäusern zu informieren? Wenn sich bei der Antwort auf diese Frage ein eindeutiger umgekehrter sozialer Gradient zeigt: 69,9% der Personen mit hohem Sozialstatus fühlen sich schlecht informiert, aber nur 60,9% der Befragten mit geringem Sozialstatus [14], deutet diese Aussage eher darauf hin, dass Befragte mit niedrigem sozialen Status dazu neigen, ihre Gesundheitskompetenz zu überschätzen.

Die meisten spezifischen Fragebögen zur Gesundheitskompetenz gibt es derzeit zu den Krankheitsbildern Krebs, Diabetes mellitus Typ II, HIV und Asthma bronchiale [17]. Von den psychometrischen Eigenschaften ist die interne Konsistenz der am häufigsten berichtete Parameter. Nur ein kleiner Teil der Fragebögen basiert auf der probabilistischen Testtheorie, die Validität der meisten Instrumente ist gering und nur selten waren ethnische Minoritäten an der Entwicklung beteiligt [8]. In Tabelle 1 sind Beispiele aus verschiedenen, deutschsprachigen Instrumenten zur Erhebung generischer Aspekte der Gesundheitskompetenz zusammengestellt.

Die größten Unzulänglichkeiten der bestehenden Instrumente lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es besteht ein Missverhältnis zwischen den breiten und umfassenden Definitionen von Gesundheitskompetenz und den aktuell verfügbaren, zumeist sehr fokussierten Instrumenten [6]. D.h., es deutet sich ein dringender Bedarf an standardisierten Erhebungsinstrumenten zur validen Erfassung aller (!) Facetten der Gesundheitskompetenz an.

Wünschenswert wären praktikable performanzorientierte Instrumente, die über grundlegende Aspekte der Gesundheitskompetenz hinausgehen und trotzdem aus Sicht der Befragten akzeptabel sind. Zudem bedarf es guter, theoretisch begründeter Selbsteinschätzungsinstrumente, auch zu motivationalen und volitionalen Aspekten der Gesundheitskompetenz. Unter Forschungsgesichtspunkten sollten Performanz- und Selbsteinschätzungen vergleichend untersucht werden.


Korrespondenz: Prof. Dr. Eva Maria Bitzer, Pädagogische Hochschule Freiburg, Public Health and Health Education, Kunzenweg 21, 79117 Freiburg im Breisgau

  1. Conflicts of interest: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  2. Conflicts of interest: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

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Online erschienen: 2017-03-14
Erschienen im Druck: 2017-03-01

©2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 25.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2016-2112/html
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