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Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde 8/2018

Open Access 23.07.2018 | Unfallverhütung | Leitthema

Maßnahmen zur Vermeidung von Kinderunfällen

Effektivität einer standardisierten Unfallpräventionsberatung

verfasst von: PD Dr. S. Märzheuser, H. Thaiss, Dr. F. S. Weser

Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde | Ausgabe 8/2018

Zusammenfassung

Unfallverletzungen gehören zu den häufigsten Todesursachen im Kindesalter. Junge Eltern werden oft von Gefahrensituationen überrascht, obwohl die Risikokonstellation in der Fachwelt bekannt ist. In der vorliegenden Studie wurde die Effektivität eines standardisierten Aufklärungsgesprächs zur Unfallprävention für Eltern von Säuglingen und Kleinkindern geprüft. Zwölf Monate nach Studienbeginn fand sich in der Gruppe mit Beratung eine um 21,6 % niedrigere relative Unfallhäufigkeit als in der Gruppe ohne Beratung. Das bedeutet, dass die durchgeführte Unfallpräventionsberatung zu einer Senkung der Quote häuslicher Unfälle von 21,6 % bei Säuglingen und Kleinkindern im Alter von 0 bis 5 Jahren geführt hat. Den größten Einfluss auf die Effektivität der Beratung hatte der Bildungsstand der Eltern. Ein „Migrationshintergrund“ war kein Indiz für ein höheres Unfallrisiko oder für Besonderheiten im Unfallpräventionsverhalten. Ein standardisiertes Aufklärungsgespräch zu Unfallgefahren im Kindesalter in der Kinderarztpraxis ist eine effektive Maßnahme, um die Unfallhäufigkeit bei Kindern zu reduzieren und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Kindergesundheit.
Hinweise

Redaktion

G. Jorch, Magdeburg
F. Zepp, Mainz
Unfallverletzungen gehören zu den häufigsten Todesursachen im Kindesalter. Säuglinge verunglücken meistens in der häuslichen Umgebung [4]. Viele Risiken sind identifiziert und bekannt. Maßnahmen zur Unfallprävention streben die gezielte, systematische Unfallvermeidung an, indem ursächliche Bedingungen von Unfällen von den Beteiligten erkannt und strategisch vermieden werden.

Ziel der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit wurde die Effektivität eines standardisierten Aufklärungsgesprächs zur Unfallprävention für Eltern von Säuglingen und Kleinkindern geprüft. Es sollte der quantitative Effekt einer Präventionsberatung unter Berücksichtigung von Unfallmerkmalen, sozialen Faktoren und Herkunft auf die Unfallhäufigkeit analysiert werden. Der Migrationshintergrund ist ein Sozialfaktor, von dem angenommen wird, dass er zu Auffälligkeiten im Unfallgeschehen beitragen könnte und die Effektivität einer Präventionsberatung beeinflusst. Dieser Faktor wurde daher separat erfasst und ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Studie sollen einen Beitrag zur Verbesserung der Effektivität von Unfallpräventionsstrategien liefern.

Methode

Die wissenschaftliche Fragestellung wurde im Rahmen einer randomisierten Vergleichsstudie (RCT) untersucht. Eine Interventionsgruppe von Eltern erhielt eine standardisierte, systematische Unfallpräventionsberatung, die Kontrollgruppe nicht. Die Beratungen wurden jeweils nach Abschluss einer ärztlichen Behandlung in einer Berliner Kinderarztpraxis durch die Kinderärztin oder durch geschulte Mitarbeiter der Praxis durchgeführt. Als Schulungsmaterial dienten standardisierte Fortbildungsunterlagen [2]. Die Beratungen wurden in Fällen unzureichender Deutschkenntnisse der Teilnehmer mit Unterstützung durch einen Dolmetscher durchgeführt. Es fanden überwiegend Einzelgespräche statt; in einzelnen Fällen Gruppengespräche mit maximal 3 Familien. Die Kinder waren bei der Beratung nicht anwesend.
Die Präventionsberatung erfolgte entlang eines standardisierten Gesprächsleitfadens. In der Praxis installierte Sicherheitsvorrichtungen dienten als praktisches Anschauungsmaterial. Nach dem Gespräch erhielt jeder Teilnehmer der Beratungsgruppe die Broschüren Unfälle vermeiden – Mehr Sicherheit für Kinder [12] und Erste Hilfe – Unfälle mit Kindern [13], zusätzlich in den jeweiligen Muttersprachen. Außerdem wurden die relevanten „Merkblätter Kinderunfälle“ [18] mitgegeben. Für ein Aufklärungsgespräch standen im Mittel 20 min zur Verfügung.
Eltern von Säuglingen und Kleinkindern (0 bis 5 Jahre) wurden entsprechend ihrem zufälligen Erscheinen ohne Selektion um Teilnahme an der Studie gebeten und aufgeklärt. Die Eltern erhielten ein Informationsblatt und unterzeichneten eine Einwilligungserklärung. Nur eine von 515 Familien lehnte die Teilnahme ab (Teilnahmequote 99,8 %). Die Gruppen wurden zeitlich entsprechend der zufälligen Abfolge der Patientenkontakte im Praxisbetrieb zugeordnet. Der Wechsel der Zuteilung von der Gruppe mit Beratung in die Gruppe ohne Beratung erfolgte nach Erreichen der geplanten Teilnehmerzahl in der Beratungsgruppe.
Präventionsberatung soll standardisiert erfolgen
Die erste Befragung zur Datenerfassung aller Teilnehmer wurde zum Zeitpunkt t0 vorgenommen, die zweite Befragung zum Unfallgeschehen 12 Monate später, in der Praxis oder telefonisch (Abb. 1). Bis auf 2 Familien konnten alle Studienteilnehmer nach 12 Monaten für die zweite Befragung erreicht werden (Rücklaufquote 99,6 %).
Als Migrationshintergrund galt, wenn die häusliche Umgangssprache nicht Deutsch war bzw. mindestens ein Elternteil nicht Deutsch als Muttersprache hatte.
Bei allen Teilnehmenden wurden zu Studienbeginn und -ende systematisch Daten zu häuslichen Unfällen, Sozialfaktoren und potenziell risikorelevanten Begleitumständen im Gespräch erhoben. Beim Erstgespräch wurden zusätzlich die Daten zum Unfallgeschehen vor dem Studienbeginn erfasst, getrennt für den Zeitraum „12 Monate vor Studienbeginn“ (S1 und S3) bzw. „außerhalb“, wenn der Unfallzeitpunkt länger als 12 Monate vor dem Studienbeginn zurücklag. Die Angaben wurden nach verschiedenen Kategorien stratifiziert, z. B. nach Altersgruppen, Geschlecht, Bildungsstand und Migrationshintergund der Eltern, Vorerkrankungen, Geschwistern etc., codiert und einer systematischen Qualitätskontrolle auf Vollständigkeit und Redundanzfreiheit unterzogen. Zur Datenanalyse diente das Statistikprogramm SPSS 18.
Die Verteilung von Unfallhäufigkeiten bzw. Verteilungen von Unfallquoten der Stichproben wurde getestet. Angewandt wurden der Mann-Whitney-U-Test und der χ2-Test. Als Nullhypothese galt, dass ein standardisiertes Aufklärungsgespräch keine signifikante Änderung der Unfallhäufigkeit bewirkt. Als Signifikanzniveau wurde ein Wert von 10 % festgelegt (p < 0,1 = signifikant; [7]). Für die Beurteilung der Effektivität des standardisierten Beratungsgespräches wurde die Unfallquote (jeweils bezogen auf 100 Kinder) definiert. Die Unfallquote beschreibt die relative gruppenspezifische Unfallhäufigkeit (uh), die Summe der Unfälle in der jeweiligen Kategorie, bezogen auf einen definierten Zeitraum und die Anzahl der Teilnehmer in der untersuchten Kategorie.
Relative gruppenspezifische Unfallhäufigkeit
$$\mathrm{u}_{\mathrm{h}}\, =(\sum \mathrm{n}_{\mathrm{u}}/\sum \mathrm{n}_{\mathrm{T}})100$$
uh
relative Unfallhäufigkeit
n u
Unfälle in dieser Kategorie
n T
Teilnehmer in dieser Kategorie

Ergebnisse

Teilnehmende und Bildungsstand

An der Studie nahmen 514 Patienten teil. Zwei Patienten schieden aus der Studie aus. Die verwertbare Teilnehmerzahl betrug demnach 512. Die Eltern von 256 Teilnehmern erhielten eine Beratung (50 %). Bei den anderen 256 Teilnehmern ohne Beratung erfolgte nur die systematische Erfassung der Unfalldaten bei Studienbeginn und -ende. Die Anzahl der Teilnehmer, getrennt nach Alter und Geschlecht, zeigt Abb. 2.
Der Bildungsstand der Eltern der Kinder wurde klassifiziert in niedrig (Hauptschule, ohne beruflichen Ausbildungsabschluss), mittel (Berufsausbildung) und hoch (Abitur, im Studium befindlich, Fach- bzw. Hochschulabschluss). Das Bildungsprofile der Eltern in den unterschiedlichen Beratungsgruppen sind in Abb. 3 dargestellt. Der Teilnehmerkreis dieser Studie befand sich bezüglich des mittleren Bildungsniveaus über dem Berliner Durchschnitt [14].
Gemessen an der zugrunde gelegten Definition für Migration hatten 116 Kinder (23 %) einen Migrationshintergrund, von denen 55 (11 %) eine Unfallpräventionsberatung erhielten. Der Anteil der Studienteilnehmer mit Migrationshintergrund lag unter dem Berliner Durchschnitt von 25 % bzw. 29 % [14]. Das Bildungsniveau der Familien mit und ohne Migrationshintergrund ist in Abb. 4 ersichtlich.

Unfallhäufigkeit, -folgen und -versorgung

Es wurden insgesamt 792 Unfälle erfasst. Die höchste Unfallhäufigkeit fand sich in der Gruppe der 0‑ bis 4‑Jährigen; dabei hatten die Einjährigen und Säuglinge das höchste Unfallrisiko. Ab dem Alter von 5 Jahren stieg die Unfallhäufigkeit erneut an. 65 % der in der Studie registrierten häuslichen Unfälle ereigneten sich im Haus, die restlichen 35 % im Freien (Abb. 5 und 6).

Effektivität des standardisierten Aufklärungsgesprächs

Die Unfallhäufigkeit 12 Monate vor Studienbeginn war in den unverbundenen Stichproben gleich (54 bzw. 55 Unfälle/100 Kinder). Zwölf Monate nach Studienbeginn fand sich in der Gruppe mit Beratung eine um 21,6 % niedrigere relative Unfallhäufigkeit als in der Gruppe ohne Beratung. Entlang der Zeitachse wurden in den 12 Monaten nach Studienbeginn in der Beratungsgruppe 29 % und in der Kontrollgruppe 11,3 % weniger Unfälle registriert als im Jahr zuvor.
Die Prüfung von Häufigkeitsverteilungen der Stichproben mithilfe des χ2- und Mann-Whitney-U-Tests ergab p-Werte von maximal 0,066. Dieses Ergebnis rechtfertigt die Aussage, dass die beispielhaft durchgeführte systematische und standardisierte Unfallpräventionsberatung zu einer signifikanten Senkung der über die Altersklassen gemittelten Unfallhäufigkeit von 21,6 % bei Säuglingen und Kleinkindern im Alter von 0 bis 5 Jahren geführt hat.
In den einzelnen Altersgruppen wurden deutliche Unterschiede beobachtet: Es wurde ein Beratungseffekt zwischen −15 % bei 2‑Jährigen und −44 % bei 3‑Jährigen festgestellt. Bei den 0‑ und 4‑Jährigen betrug er jeweils 29 % und bei den Ein- bzw. 2‑Jährigen 18 % bzw. 15 %. In der Altersklasse der 5‑Jährigen wurde kein Rückgang verzeichnet Tab. 1.
Tab. 1
Beratungseffekt in den Altersklassen (Indikator Unfallhäufigkeit). (Nach Weser [20])
Alter (Jahre) bei Studienbeginn
S2 – mit Beratung
S4 – ohne Beratung
Beratungseffekt (%)
Unfälle
(n)
Teilnehmer pro Altersklasse (n)
Unfälle/100 Kinder
Unfälle
(n)
Teilnehmer pro Altersklasse (n)
Unfälle/100 Kinder
 
0
33
57
57,89
44
54
81,48
−28,95
1
31
66
46,97
31
54
57,41
−18,18
2
11
28
39,29
18
39
46,15
−14,88
3
9
41
21,95
16
41
39,02
−43,75
4
4
26
15,38
8
37
21,62
−28,85
5
10
38
26,32
8
31
25,81
1,97
98
256
38,28
125
256
48,83
−21,60

Bildungsstand als Einflussfaktor

In der Gruppe mit Beratungsgespräch hatten die Teilnehmer mit niedrigem Bildungsstand mit 58,3 % die höchste Unfallquote, diese lag über dem Niveau der niedrig gebildeten Teilnehmer ohne Beratung. Mit zunehmendem Bildungsstand stieg der unfallpräventive Effekt des Beratungsgesprächs; die Unfallquote sank bis auf 28,1 % in der Gruppe mit hohem Bildungsstand. In der Kategorie der Hochgebildeten waren die Unfallzahlen nach dem Beratungsgespräch statistisch signifikant (p < 0,014) niedriger als zuvor. Bei den Teilnehmern der Bildungskategorien niedrig und mittel war die Reduktion der Unfallhäufigkeit nicht signifikant geringer. Diese Beobachtungen galten für Familien mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen.
Betrachtet man den Beratungseffekt, zeigt sich, dass die Beratung von Migranten und von Nichtmigranten einen unfallrisikomindernden Effekt in gleicher Größenordnung von ca. 21 % bewirkt. Verhaltensänderungen der Eltern nach der Beratung und die zusätzliche Anschaffung von Sicherheitsvorrichtungen sind grafisch in den Abb. 7 und 8 dargestellt.

Diskussion

Unfallereignisse

In der vorliegenden Studie wurden insgesamt 792 Unfallereignisse bei 512 Säuglingen und Kleinkindern auf Unfallarten, Unfallfolgen, Begleitumstände und ausgewählte Sozialfaktoren hin untersucht. Unfallorte und Unfallarten waren ähnlich gelagert wie in Voruntersuchungen anderer Autoren [1, 3, 9, 15]. Die beobachtete Inanspruchnahme der medizinischen Vesorgung ist mit den Feststellungen der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vergleichbar (KiGGS, [9]).

Effektivität des standardisierten Beratungsgespräches

Die Analyse der Vergleichsgruppen bezüglich der Effektivität des standardisierten Beratungsgespräches zur Prävention häuslicher Unfälle im Säuglings- und Kleinkindalter ergab, dass die Unfallpräventionsberatung eine um 21,6 % niedrigere Unfallquote bei 0‑ bis 5‑jährigen Kindern im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Beratung bewirkte. Zur Beurteilung der Irrtumswahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses wurden verschiedene statistische Tests durchgeführt. Diese Tests ergaben p-Werte zwischen 0,008 und maximal 0,066. Damit ist die Aussage gerechtfertigt, dass die durchgeführte standardisierte Präventionsberatung mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 93,4 % einen Effekt von −22 % in der Unfallprävalenz, bezogen auf alle 512 Teilnehmer der Studie im Alter von 0 bis 5 Jahren, bewirkte.
Die geringere Unfallquote in der Gruppe mit Präventionsberatung stützt die Aussage, dass Maßnahmen, die das Wissen der Eltern zum Thema Unfallprävention erweitern und die Risikowahrnehmung erhöhen, Wirkung erzielen. Die positive Wirkung von Fortbildung und Ausstattung mit Sicherheitsmitteln auf das Wissen um Unfallgefahren ist belegt [6, 10]. Der quantitative Effekt dieser Maßnahme auf die Unfallhäufigkeit wurde dabei bisher nicht untersucht.

Bildungsstand und Migrationshintergrund als Einflussfaktoren

Ohne Beratung war die relative Unfallhäufigkeit im vorliegenden Kollektiv in allen Gruppen unabhängig vom Bildungsstand annähernd gleich. Familien mit hoher Bildung waren nicht von vornherein vorsichtiger oder risikobewusster. Nach Durchführung der Beratung zeigt sich mit zunehmender Bildung eine niedrigere Unfallquote. Der Beratungseffekt stieg bei den Hochgebildeten auf über 40 %.
In der vorliegenden Arbeit wurde der Bildungsstand – anders als in vielen anderen Unfallstudien – nicht nach dem Wissen der Eltern um Unfallrisiken und Möglichkeiten zur Unfallvermeidung kategorisiert, sondern nach dem höchsten Bildungsstand eines Elternteils, gemessen an Schul- und Ausbildungsabschlüssen. Je höher der Bildungsstand der Eltern, desto größer war der Einfluss durch die Beratung auf das Unfallpräventionsverhalten. Eine Beobachtung, die Vorarbeiten von Powell et al. [16] bestätigt.
Unfallpräventionsberatung ist mit zunehmender Bildung der Eltern effektiver
Die Beobachtungen decken sich auch mit denen von Untersuchungen zur Korrelation von Unfallmorbidität und Sozialstatus, in denen ein niedriger Sozialstatus und niedriger Bildungsstand mit einer höheren Morbidität und Mortalität bei Unfällen und Kindeswohlgefährdung einhergingen [11, 17]. Die Präventionsberatung, die im Rahmen der vorliegenden Studie durchgeführt wurde, hat bei den niedrig Gebildeten keinen Rückgang der Unfallhäufigkeit bewirkt, der erhoffte Effekt blieb aus. Es stellt sich daher die Frage, wie auch diese Zielgruppe besser angesprochen werden kann.
Das Aufklärungsgespräch zur Unfallprävention erfolgte in einer ruhigen Atmosphäre außerhalb der Sprechzeiten, ohne die Kinder, strukturiert, klar und systematisch. Die Beratenden waren geschult und gehalten, eine einfache und verständliche Sprache zu gebrauchen, bei Bedarf mit Unterstützung eines Dolmetschers. Während der Beratung wurden professionell gestaltete Hilfsmittel und Anschauungsmodelle von technischen Sicherheitsvorrichtungen verwendet. Berücksichtigt man diese Details der Präventionsberatung, ist davon auszugehen, dass das Gespräch selbst keine intellektuelle Überforderung darstellen sollte. Da der Präventionseffekt der Beratung bei Bildungsfernen dennoch unzureichend war, ist es möglich, dass Faktoren wie das Verständnis der Konsequenzen mangelnder Vorsorge, Abstraktion und vorausschauendes Denken ein Problem darstellten.
Das in der Literatur beschriebene höhere Unfallrisiko bei Migrantenkindern [3, 5, 19] konnte im untersuchten Kollektiv nicht bestätigt werden. Allerdings gehörten die Migrantenfamilien in der vorliegenden Studie überwiegend zur Gruppe der Personen mit mittlerer und hoher Bildung. Der Faktor „Bildungsstand der Eltern“ erwies sich als bedeutsamer als die Herkunft.

Möglichkeiten der standardisierten und flächendeckenden Unfallpräventionsberatung

Betrachtet man die Ergebnisse der Studie als repräsentativ für Deutschland und setzt man die beispielhaft beobachtete Reduktion der Unfallhäufigkeit ins Verhältnis zu den dadurch einzusparenden direkten Kosten der medizinischen Versorgung von Unfallfolgen, legen die Ergebnisse der Studie nahe, dass es auch gesundheitsökonomisch sinnvoll ist, Maßnahmen zur häuslichen Unfallprävention standardisiert und flächendeckend einzuführen [20]. Die erste Beratung sollte möglichst vor der Geburt eines Kindes durchgeführt werden, um die Wahrnehmung der Eltern für Unfallrisiken rechtzeitig zu schulen, und da im ersten und zweiten Lebensjahr für Säuglinge und Kleinkinder das höchste Risiko für häusliche Unfälle besteht.
Familienhebammen oder andere geburtsvorbereitende Stellen könnten diese Erstberatung vornehmen. Eine erneute Thematisierung durch den Kinderarzt ist sinnvoll, da hier auf altersspezifische Unfallrisiken eingegangen und Beratungsinhalte aufgefrischt werden können. Diese Maßnahme könnte als erweiterte Vorsorgeuntersuchungen in der ambulanten kinderärztlichen Praxis erfolgen. Einige Krankenversicherungen unterstützen die Unfallpräventionsberatung seit Januar 2012 im Rahmen des „Baby-Check I und II“, jedoch nur im Säuglingsalter von 5 bis 13 Monaten. Die Aufnahme einer standardisierten und zielgruppenspezifischen Unfallpräventionsberatung in den Leistungskatalog der gesetzlichen und privaten Krankenkassen und damit in die Kinderrichtlinien (U1–U9) wäre sinnvoll, da eine adäquate Präventionsberatung nicht als Nebenleistung in der ambulanten Versorgung realisierbar ist. Unfallpräventionsberatung als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) einzuführen, ist ungeeignet, da nicht die für einen gesellschaftlich wirksamen Präventionseffekt erforderliche Beteiligung aller Zielgruppen gewährleistet wäre.

Öffentliche Empfehlungen und Förderprogramme zur Sicherheit von Kindern

Im Jahr 2007 hat der EU Gesundheitsministerrat die Empfehlungen zur Prävention von Verletzungen und zur Förderung der Sicherheit beschlossen, die auch den Bereich Kindersicherheit umfassen [8]. Ein wichtiger nationaler Zusammenschluss ist die Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder“ (BAG), die als Nichtregierungsorganisation zur Unfallprävention im Kindes- und Jugendalter relevante Akteure zusammenbringt und Aktivitäten bündelt. Im Rahmen eines BAG-Projekts, das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) als Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit gefördert ist, wird bis 2019 Kindertagesstättenpersonal als Multiplikator für Eltern geschult, um deren Kompetenzen zur Unfallvermeidung zu stärken. Daneben stellt der jährlich am 10. Juni stattfindende Kindersicherheitstag eine Gelegenheit dar, auf die Relevanz des Themas aufmerksam zu machen und jeweils einen Schwerpunkt der Präventionsmöglichkeiten, z. B. bezüglich der Risiken von Kinderprodukten, hervorzuheben.
Insbesondere für Multiplikatoren in Kliniken und Arztpraxen, aber auch für Eltern gibt die Fachdatenbank Kinderunfallprävention, die von der BZgA in Zusammenarbeit mit der BAG betrieben wird, einen umfassenden Überblick dazu, welche Akteure in Deutschland in der Kinderunfallprävention tätig sowie welche Maßnahmen und Medien für verschiedene Alters- und Zielgruppen verfügbar sind. Dort finden sich über 600 qualitätsgesicherte Medien und Maßnahmen, Angebote und Informationen zu den unterschiedlichen Gefahrenorten, zu Unfallarten (wie beispielsweise Sturzunfälle, thermische Verletzungen oder Vergiftungen) und zu Institutionen in Deutschland, die in der Kinderunfallprävention aktiv sind, samt Kontaktadressen. Die Datenbank bietet damit eine wichtige Informations- und Vernetzungsplattform für Eltern, Betreuungspersonen, Mediziner und Organisationen.
Elternportal der BZgA bietet alltagsnahe Informationen zum Thema an
Darüber hinaus gibt die BZgA in ihrem Elternportal alltagsnahe Informationen rund um das Erkennen und Vermeiden von Unfallgefahren im Kindesalter. Hier finden sich zahlreiche Informationen über die kindliche Entwicklung, Unfallschwerpunkte in den ersten Lebensjahren vom Säuglings- bis zum Schulalter sowie Tipps zur Unfallverhütung zu Hause und bei Freizeitaktivitäten. Checklisten zum Download helfen bei der Einschätzung vorhandener Risikofaktoren. Außerdem steht der in der hier vorgestellten Studie verwendete Elternratgeber Kinder schützen – Unfälle verhüten online oder zur Bestellung kostenfrei zur Verfügung.

Schlussfolgerungen

Es berichteten 80 % der Studienteilnehmer, die eine Unfallpräventionsberatung erhielten, dass die Beratung einen positiven Effekt auf ihr tägliches Risikobewusstsein und ihr Präventionsverhalten gehabt habe. Diese Meinung äußerten 86 % der Teilnehmer mit hohem und 66 % der Teilnehmer mit niedrigem Bildungsstatus.
Ein standardisiertes Aufklärungsgespräch zu Unfallgefahren im Kindesalter in der Kinderarztpraxis ist damit eine effektive Maßnahme, um die Unfallhäufigkeit bei Kindern nachweislich zu reduzieren und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Kindergesundheit. Differenzierte Methoden, wie z. B. Infomaterialien in Fremdsprachen und Einsatz von Sprachmittlern müssen, wie auch bei anderen präventiven und gesundheitsförderlichen Aktivitäten im Kindes- und Erwachsenenalter, identifiziert und angewendet werden, um alle Bevölkerungsgruppen zielgruppenspezifisch zu erreichen.

Fazit für die Praxis

Ein standardisiertes Aufklärungsgespräch zu Unfallgefahren im Kindesalter in der Kinderarztpraxis ist eine effektive Maßnahme, um die Unfallhäufigkeit bei Kindern nachweislich zu reduzieren und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Kindergesundheit. Allerdings ist der für eine dauerhafte systematische Beratung erforderliche zeitliche und organisatorische Aufwand derzeit nicht im ärztlichen Alltag einer Kinderarztpraxis zusätzlich zu den medizinischen und administrativen Aufgaben der ambulanten Versorgung realisierbar. Eine Aufnahme der Beratung in den Leistungskatalog aller Krankenkassen wäre medizinisch und gesundheitsökonomisch sinnvoll. Dann könnte der mit der Beratung verbundene Mehraufwand durch zusätzliches, spezialisiertes Personal abgedeckt werden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Märzheuser, H. Thaiss und F.S. Weser geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet Ergebnisse einer Befragungsstudie. Alle Teilnehmer wurden über Umfang, Ziele und Inhalt der Studie aufgeklärt und haben ihr Einverständnis schriftlich erklärt.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Literatur
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23.07.2018
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Unfallverhütung
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Elektronische ISSN: 1433-0474
DOI
https://doi.org/10.1007/s00112-018-0515-1

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