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Erschienen in: Rechtsmedizin 2/2021

13.11.2020 | Pflege | Originalien

Medikamente als freiheitsentziehende Maßnahme in stationären Pflegeeinrichtungen? Eine kritische Analyse

verfasst von: PD Dr. med. habil. S. Gleich, J. Krüger, H. Fels, G. Skopp, F. Musshoff, G. Roider, J. Schöpfer, M. Graw, C. Wiedfeld

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 2/2021

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Zusammenfassung

Hintergrund

Pflegeheimbewohner sind überwiegend multimorbid und demenziell erkrankt. Dies erfordert vonseiten der Einrichtungen einen erhöhten Betreuungsaufwand bei gleichzeitigem Mangel an Pflegepersonal. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe führte eine Studie durch, um die Frage zu untersuchen, ob bzw. welche Hinweise es auf eine Nutzung von Psychopharmaka als freiheitsentziehende Maßnahme (FEM) gibt.

Methode

Eingeschlossen wurden alle in Alten‑/Pflegeheimen verstorbenen Bewohner, bei denen kein Verdacht auf eine Medikamentenüberdosierung bestand, und die 2013–2015 im Institut für Rechtsmedizin der Universität München obduziert wurden. Es wurden die bei den Sektionen erhobenen makromorphologischen Befunde und die staatsanwaltschaftlichen Akten ausgewertet. Chemisch-toxikologische Untersuchungen auf Arznei- und Suchtstoffe erfolgten in einem akkreditierten forensisch-toxikologischen Labor mittels Routinediagnostik. Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgte deskriptiv mittels Statistikprogramm.

Ergebnisse

Es wurden 98 Altenheimbewohner in die Studie eingeschlossen; von 53 Fällen lagen aktuelle Medikationspläne vor. Bei 37 Fällen bestanden Abweichungen vom Medikationsplan, (durchschnittlich 2 Arzneistoffe/Fall). Bei 15 Fällen wurden zum Todeszeitpunkt nichtverordnete Antipsychotika nachgewiesen, davon bei 5 Fällen zusätzlich nichtverordnete Hypnotika/Sedativa. Von den 53 Fällen mit nachgewiesenen Antipsychotika war die ärztliche Indikation zur Verordnung bei 9 Fällen nicht nachvollziehbar, von den 26 Fällen mit Hypnotika/Sedativa bei 8 Fällen. Bei 22 Fällen mit nachgewiesenen Antipsychotika erfolgte die Abgabe abends, bei 9 Fällen mit Hypnotika/Sedativa morgens. Durch die Haaranalysen wurden im Dreimonatszeitraum vor dem Versterben Antipsychotika nicht nur als häufigste Wirkstoffgruppe nachgewiesen, sondern mit durchschnittlich 3 auch die meisten Arzneistoffe pro Fall abgegeben.

Diskussion

In unserer Untersuchung ergaben sich mehrere Hinweise auf eine Nutzung zentral wirksamer Arzneistoffe als FEM: Bei einem erheblichen Anteil der nachgewiesenen Hypnotika/Sedativa und Antipsychotika bestand keine nachvollziehbare ärztliche Indikation für deren z. T. auch kombinierte Verordnung; es überwogen Substanzen mit sedierenden Eigenschaften; Antipsychotika wurden abends, Hypnotika morgens verordnet bzw. abgegeben. Ferner wurden nicht ärztlich verordnete zentral wirksame Substanzen in bedenklich hoher Anzahl nachgewiesen, welche deutlich über den Ergebnissen der Prüfberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in der stationären Pflege liegt. Ein noch stärkerer Effekt zeigte sich bei der Analyse der Haarproben.
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Metadaten
Titel
Medikamente als freiheitsentziehende Maßnahme in stationären Pflegeeinrichtungen? Eine kritische Analyse
verfasst von
PD Dr. med. habil. S. Gleich
J. Krüger
H. Fels
G. Skopp
F. Musshoff
G. Roider
J. Schöpfer
M. Graw
C. Wiedfeld
Publikationsdatum
13.11.2020
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 2/2021
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-020-00440-x

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