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Erschienen in: Ethik in der Medizin 4/2018

11.07.2018 | Originalarbeit

„Medizinische Notwendigkeit“: Herausforderungen eines unscharfen Begriffs

verfasst von: Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Dr. Daniel R. Friedrich, Anke Harney, Prof. Dr. Stefan Huster, Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 4/2018

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Zusammenfassung

„Medizinische Notwendigkeit“ (MedN) ist der zentrale Steuerungsbegriff für die Finanzierung medizinischer Versorgung in der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung. Trotz seiner scheinbaren Objektivität und Bestimmtheit durch ärztliche Expertise ist der Begriff alles andere als eindeutig definiert. In diesem ersten von fünf geplanten Aufsätzen zur Begriffsklärung von MedN aus medizintheoretischer, -ethischer, rechtlicher und (sozial)medizinischer Perspektive geht es um eine Systematisierung der aktuellen Kontroversen. Damit soll eine Fundierung für Detaildebatten gelegt werden, die bisher fehlt. Geklärt werden sollen die begriffliche Struktur, Funktion, Kontextualität und Missverständlichkeit von MedN sowie die grundsätzlichen Grenzen einer Begriffsanalyse für die anstehenden normativen Fragen medizinischer Leistungssteuerung.
Fußnoten
1
Im Folgenden verwenden wir Behandlung als weiten Oberbegriff für diagnostische, therapeutische und präventive Maßnahmen zu medizinischen Zwecken.
 
2
Aber auch in anderen Ländern, notabene in den USA, ist „medical necessity“ ein Schlüsselbegriff in der Debatte um die legitimen Grenzen von Versorgungsansprüchen – vgl. unten Abschnitt Disput.
 
3
Der Gesetzgeber allerdings kann Ausnahmen von der Regel in beide Richtungen veranlassen – vgl. unten Abschnitt Bevölkerungsmedizin.
 
4
In diesem und in den drei Folgezitaten Hervorhebungen durch Autoren.
 
5
§ 12 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V.
 
6
4. Kap. § 3 Abs. 1 S. 3 Verfahrensordnung des G‑BA (Arzneimittelversorgung).
 
7
§ 1 Abs. 2 Satz 1 Gebührenordnung für Ärzte.
 
9
Ein Indiz für solche Fälle mag sein, dass solche Zusatzbedingungen gelegentlich z. B. vom G‑BA normiert werden.
 
10
Hingegen ist MedN kein Grenzbegriff – nach unten – gegenüber eindeutig kontraindizierten Behandlungen, die gewissermaßen noch eine Stufe tiefer liegen.
 
11
Dabei werden natürlich auch generalisierende Prädikate orts-, zeit- und perspektivenabhängig zugeschrieben, was hier aber vernachlässigt werden kann.
 
12
Ähnlich auch Kahan et al. (1994).
 
13
Nach gängiger und im Folgenden verwendeter Definition ergibt sich der Nettonutzen einer Maßnahme aus ihren Nutzenchancen minus ihren Schadensrisiken (ohne Näheres zum Problem ihrer „Verrechenbarkeit“ zu sagen) (Pfaff et al. 2017).
 
14
Nach dieser Arbeitsdefinition können vergleichbar gute Maßnahmen disjunkt MedN sein: Es wäre dann notwendig, A oder B oder C zu tun.
 
15
Bzw. falls ein entsprechender Zustand in der Zukunft droht, dem vorgebeugt werden soll.
 
16
Siehe unten Abschnitte Disput und Bevölkerungsmedizin.
 
17
Hier handelt es sich klarerweise um eine Konvention, die bisher Bestand hat, die sich aber ändern ließe, wie jede andere begriffliche Konvention auch (s. oben Abschnitt Begriffsessentialismus). Dass differenzierter gesteuert werden kann, zeigt sich etwa an der gestaffelten Zuzahlung zum Kauf von Medikamenten in Frankreich.
 
18
Exemplarisch: in Rettungskonflikten die Schwelle, ab der auch für viele ethische Non-Konsequentialisten die Anzahl der alternativen Opfer (1:100? 1:10.000?) relevant wird, oder die Schwelle, ab der akteursbezogene Unzumutbarkeiten (10 % Lebensrisiko?) die Rettungspflicht begrenzen. Diese und andere Beispiele sowie deren Disanalogie zu Sorites-Fällen diskutiert auf höchst erhellende Weise Alexander (2008).
 
19
So etwa Skinner (2013, S. 57): „Understanding how medical necessity determinations function under the ACA [Affordable Care Act: Gesetz zur Gesundheitsversorgung, eingeführt unter Präsident Obama, Ergänzung durch Autoren] requires grasping the tensions and synergies that arise between particular patient assertions, physician determinations, provider acceptance or rejection, internal and external appeals, accreditations, and other forms of oversight. Yet if the ACA’s mission of patient-centred care is to become a reality, one must also take care to not buy in to an epistemology in which one envisions the existence of a ‚real’ or ‚true’ medical necessity or a medical necessity standard that is untouched by social power”
 
20
Dabei ist „Ideologie“ nicht negativ verstanden.
 
21
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Hier geht es um Gebrauch/Verständnis von MedN allein im klinisch-ärztlichen Kontext. Im sozialrechtlichen Kontext (vgl. den nächsten Abschnitt) könnte MedN außer von der medizinischen Indiziertheit durchaus auch von nicht-medizinischen Aspekten (wie der Kostspieligkeit einer Behandlung) abhängig sein.
 
22
Entsprechende Probleme stellen sich auch im Recht der privaten Krankenversicherung; vgl. dazu etwa Uzunovic (2012).
 
23
Unmittelbar einschlägig nur (Fastabend 2002). Andere Autoren äußern sich zum MedN-Begriff in der Regel im Zusammenhang mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot vgl. etwa Bußmann-Weigl (2004).
 
24
Was sozialrechtlich als Krankheit gilt, deckt sich nicht in jedem Fall mit der Einschätzung der Ärzte oder Betroffenen.
 
25
Bundesverfassungsgericht (BVerfGE) 115, 25 ff.
 
26
In der Sache geschieht dies auch, wenn BVerfGE 115, 25, 43 f. und 49, von den „notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung“ bzw. der „notwendige(n) Krankheitsbehandlung“ spricht, dann aber auf eine „lebensbedrohliche […] oder sogar regelmäßig tödliche […] Erkrankung“ abstellt.
 
27
Vgl. dazu bereits Huster (2006).
 
28
2. Kap. § 13 Verfahrensordnung des G-BA (Methodenbewertung).
 
29
Bedarf (need) wird in der Bevölkerungsmedizin unterschieden von Nachfrage (demand), Angebot (offer) und aktueller Versorgung (supply, provision).
 
30
Exemplarisch wird hier auf das HTA Core Model (V3.0, 25.01.2016) des European Network for Health Technology Assessment verwiesen. Cf: http://​www.​eunethta.​eu/​about-us/​mission-vision-values (Zugriff: Januar 2018).
 
31
Ebd.
 
32
Im weiten Sinne: Therapeuten und Gesundheitsindustrie.
 
33
Vgl. Chan (2016).
 
34
„The WHO definition of UHC [Universal Health Care] is the widely accepted framework for understanding UHC: UHC is defined as ensuring that all people have access to needed promotive, preventive, curative, and rehabilitative health services, of sufficient quality to be effective, while also ensuring that people do not suffer financial hardship when paying for these services. We believe this definition should be one of the first guiding moral principles used when applying the proper levers for achieving high-value health care. Achieving optimum delivery of health care for the optimum health of populations is hard to imagine without considering this definition” (Elshaug et al. 2017, S. 192).
 
35
Absehbar wird (iii) die komplexesten Fragen aufwerfen, indem nicht nur die Bewertungen von Nutzenchancen und Schadenspotentialen, sondern zusätzlich auch deren Evidenz und deren Erwartungswahrscheinlichkeiten eine Rolle spielen müssen. Der letztgenannte Punkt gewinnt besondere Brisanz in Zeiten der sogenannten personalisierten Medizin. Mit dem so bezeichneten Bestreben, bei Behandlungsempfehlungen möglichst viele relevante untergruppenspezifische Merkmale zu berücksichtigen, sind nämlich differenzierte probabilistische Behandlungsprognosen verbunden, deren Bewertung sich ggf. im MedN-Begriff widerspiegeln müssen (vgl. Caulfield und Zarzeczny 2014).
 
Literatur
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Metadaten
Titel
„Medizinische Notwendigkeit“: Herausforderungen eines unscharfen Begriffs
verfasst von
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert
Dr. Daniel R. Friedrich
Anke Harney
Prof. Dr. Stefan Huster
Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe
Publikationsdatum
11.07.2018
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 4/2018
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-018-0497-5

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