Im dritten Eintrag dieses PJ-Tagebuchs hatte ich von dem Patienten berichtet, bei dem in der aus anderem Grunde veranlassten Laboruntersuchung die auf 700 mg/dl erhöhten Triglyceride auffielen. Und der auf Rückfrage dann erklärte, dass es schon so fünf, sechs Halbe seien, die er jeden Tag trinke. Wären meinem Lehrarzt Dr. Blank nicht die Triglyceride ins Auge gefallen, so wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Patienten nach seinem Alkoholkonsum zu fragen – sein Gesicht war vielleicht ein klein wenig röter als man es für normal befände, aber ansonsten deutete nichts an ihm auf seine Krankheit hin: Er roch nicht nach Alkohol, war ordentlich gekleidet, und wirkte in allem solide und bodenständig, wie er von seiner Arbeit und seiner Familie berichtete.
So scheint es ganz oft zu sein – auf den ersten Blick augenscheinlich wird die Alkoholkrankheit meist erst, wenn es schon viel zu spät ist, wenn sie Körper, Geist, Psyche und Leben des Erkrankten schon bis auf die Grundfesten zerrüttet und zerstört hat. In Deutschland ist schädlicher Alkoholkonsum für den Verlust ähnlich vieler gesunder Lebensjahre verantwortlich wie Diabetes mellitus und Dyslipidämie. Und so selbstverständlich wie wir Metformin und Statine verschreiben, so selbstverständlich sollte es auch sein, alkoholkranken Menschen eine leitliniengerechte Therapie anzubieten.
Was also empfehlen die Leitlinien? Zu unterscheiden sind zunächst die beiden Hauptformen der Alkoholkrankheit: Einerseits der schädliche Alkoholgebrauch, nach ICD-10 definiert als ein Alkoholgebrauch mit nachweislich schädlichen Folgen für die Gesundheit, der über mindestens einen Monat oder wiederholt innerhalb von zwölf Monaten auftritt; und andererseits das Alkoholabhängigkeitssyndrom, bei dem eine physische oder psychische Abhängigkeit nach Alkohol besteht, festzumachen an den Kriterien Craving, Kontrollverlust, körperliche Entzugssymptome und Toleranzentwicklung. Die Prävalenz des Alkoholabhängigkeitssyndroms wird in Deutschland auf rund 5% geschätzt, während der schädliche Alkoholkonsum wesentlich häufiger ist und geschätzt ungefähr 20% der Bevölkerung betrifft. Deshalb sollte auch dieser bereits erkannt und betroffene PatientInnen entsprechend beraten und unterstützt werden.
In vielen Fällen ist das Vorliegen eines schädlichen Alkoholkonsums eindeutig, so wie es bei unserem eingangs erwähnten Patienten der Fall war. In anderen Fällen kann dies weniger klar sein, und daher empfehlen die deutsche ebenso wie internationale Leitlinien den Einsatz des AUDIT-C Screening-Fragebogens, der aus drei einfachen Fragen besteht, mit denen Ausmaß und Muster des Alkoholkonsums schnell und relativ zuverlässig erfasst werden können. Besteht zudem Verdacht auf eine Alkoholabhängigkeit so können zusätzlich die 4 CAGE-Fragen gestellt werden.
Hat man festgestellt, dass bei einer PatientIn ein schädlicher Alkoholkonsum oder ein Verdacht auf eine Abhängigkeit bestehen, so sollte das folgen, was im medizinischen-psychologischen Jargon als Kurzintervention bezeichnet wird; bestehen sollte diese aus drei Teilen: Informieren, Fragen und dem Anbieten von Hilfe.
Informieren: Zum Informieren gehört, die PatientIn sachlich und ohne zu werten oder Angst zu machen über die gestellte Verdachtsdiagnose aufzuklären – zum Beispiel wie folgt: „Die Angaben, die Sie zu Ihren Trinkgewohnheiten gemacht haben, bedeuten, dass bei Ihnen ein sogenannter ‚riskanter Alkoholgebrauch‘ besteht – also ein Alkoholgebrauch, der mit schädlichen Folgen für die Gesundheit einhergehen kann...“. Zum Informieren gehört zudem die Erklärung, was unter einem risikoarmen Konsum verstanden wird – international unterscheiden sich die entsprechenden Empfehlungen zum Teil ganz erheblich, die deutsche S3-Leitlinie definiert einen risikoarmen Konsum als den Konsum von maximal zwei Standardgläsern pro Tag für Männer, und maximal einem Standardglas pro Tag für Frauen. (Ein Standardglas entspricht dabei 10 g Alkohol bzw. 33 cl Bier, 15 cl Wein oder 2 cl Spirituosen). Etwas differenzierter ist die z.B. in Kanada verbreitete 1-3-4-Regel: Höchstens 1 Glas pro Stunde, höchstens 3 Gläser pro Tag, höchstens 4 Tage in Folge. (Durch das Einhalten alkoholfreier Tage soll dem Entstehen einer Abhängigkeit vorgebeugt werden). Diese Bandbreite in den Empfehlungen kann auch den Patienten kommuniziert werden, z.B. mit den Worten: „Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, was man denn unter einem risikoarmen Konsum versteht. Hierzu gibt es verschiedene Empfehlungen. Eine Empfehlung, an der Sie sich orientieren können, besagt dass...“.
Fragen: Im zweiten Teil der Kurzintervention sollten Fragen an und von der PatienIn im Vordergrund stehen – begonnen mit der offenen Frage, ob sie oder er Fragen zum bislang Besprochenen habe. Anschließend kann weiter danach gefragt werden, was für eine Bedeutung der Alkohol für sie oder ihn habe, und ob er bzw. sie schon einmal darüber nachgedacht habe, etwas an seinen bzw. ihren Alkoholgewohnheiten zu ändern. Dies kann zum einen helfen, das Alkoholproblem der PatientIn besser zu verstehen, und kann auch die Patientenbindung sichern und so eine Basis für weitere begleitende Unterstützung aufbauen.
Anbieten von Hilfe: Im letzten Teil der Kurzintervention sollte Hilfe angeboten werden – je nach Ausmaß des Problems, der Problemeinsicht, der Veränderungsbereitschaft und der Lebenssituation der PatientIn kann dies Verschiedenes beinhalten; man kann sich auf das niederschwellige Angebot beschränken, bei Wunsch als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und mit etwas zeitlichem Abstand erneut über das Thema zu sprechen. Oder man kann anbieten, Kontakt zu einer lokalen Beratungsstelle (von denen es viele gibt, auch auf dem Land) zu vermitteln, oder eine Überweisung zu einem Spezialisten auszustellen, das heißt einer PsychotherapeutIn, einer PsychiaterIn oder einer spezialisierten Klinik. Oder man kann mit der PatientIn schon ein konkretes Ziel vereinbaren – z.B., einen alkoholfreien Tag pro Woche einzuhalten, oder jeden Tag ein Bier durch ein Alkoholfreies zu ersetzen – und einen Nachfolgetermin in zwei, drei Wochen Abstand vereinbaren, bei dem bis dahin möglicherweise aufgetretene Schwierigkeiten und weitere Schritte besprochen werden können. (In der Schweiz haben die einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften einen ganz ausgezeichneten Leitfaden zu alkoholbezogenen Kurzinterventionen in der Grundversorgung herausgegeben, der zahlreiche Vorschläge für eine gute Herangehensweise und Tipps für die Gesprächsführung gibt).
Unsere Gesellschaft macht es alkoholkranken Menschen nicht leicht – von den kleinen Schnapsfläschchen an den Supermarktkassen bis zu der allgegenwärtigen Alkoholwerbung: Die Getränkeindustrie hat unser Leben durchsetzt mit Triggerreizen, die uns auf Schritt und Tritt daran erinnern und dazu auffordern, weiter und wieder zu trinken. Dies ist, natürlich, ein Skandal, und auch dagegen zu kämpfen zählt, so denke ich, zu den Aufgaben von uns ÄrztInnen – ebenso wie es zu unseren Aufgaben zählt, jeder einzelnen PatientIn mit einer Alkoholkrankheit die beste mögliche Therapie anzubieten, und auch dabei nicht zu vergessen, wie skrupellos und unbarmherzig unsere Gesellschaft mit alkoholkranken Menschen umgeht.
Zur Übersicht aller Tagebucheinträge