Wenn das Medizinstudium zum Albtraum wird

Medizin zählt zu den schwierigsten Studiengängen. Oft sind die Studierenden gestresst und überlastet. Zwei Universitäten haben nun Konzepte entwickelt, um ihre Studierenden vor dem Burn-out zu bewahren. Nach einer Woche voll mit Vorlesungen, Fachschaftssitzungen und Lerneinheiten liegt Felix Sellier auf dem Sofa. Seine Freundin will ins Kino. „Keine Chance. Das packe ich gerade gar nicht“, sagt Sellier. Der Medizinstudent will sich einfach ausruhen, denn er weiß: Nächste Woche muss er wieder funktionieren. Er muss in den Vorlesungen zuhören, Verantwortung in der Fachschaft übernehmen und alles Rund um Muskeln, Nerven und Organe für die Zwischenprüfung lernen. „Ich war wie auf Werkseinstellungen zurückgesetzt. War emotional abgestumpft und habe einfach nur funktioniert“, erinnert sich Sellier. Am Anfang seines Studiums war der heute 25-Jährige ausgeglichen, engagiert und aufmerksam. Da fiel es ihm noch leicht, den universitären Verpflichtungen nachzukommen und trotzdem seine Freizeit mit Aktivitäten zu gestalten. Im fünften Semester wird es ihm dann zu viel. Er war nicht nur mit dem Studium beschäftigt, sondern war zudem in der Fachschaft und im Studierendenrat sozial engagiert. Vor allem sein Privatleben habe darunter gelitten. Er wollte nämlich nichts mehr unternehmen – war geistig abwesend. „Ich war zwar da, habe aber alles nur gedämpft wahrgenommen.“ Sellier erkennt in dieser Phase seines Studiums erste Anzeichen von Burn-out. Etwa jeder vierte Medizinstudierende im kritischen Burn-out-Bereich Der Medizinstudent ist damit kein Einzelfall. Etwa jeder vierte Medizinstudierende bewegt sich im Bereich von kritischen Burn-out-Werten. Die Medizinsoziologin Dr. Iris Warnken von der Universität Augsburg weiß, wie anstrengend das Medizinstudium sein kann. Das liegt nämlich nicht nur an den komplexen Lerninhalten, sondern vor allem an der Menge. Da kann der Stoff für eine Klausur gerne mal so viel sein wie der gesamte Abiturstoff. Warnken betont, dass nicht nur das Studium an sich belastend ist: „Die Studierenden sind zum ersten Mal von zu Hause weg, haben einen eigenen Haushalt, müssen sich um das Essen kümmern.“ Sie müssen lernen selbstständig zu sein. Oft kommt dann noch dazu, dass sie sich ihr Studium selbst finanzieren müssen. Also arbeiten sie zwischen Vorlesungen, Haushalt und Privatleben. Die Zeit dazwischen wird immer knapper. Für Warnken liegt genau hier das Problem. Den Studierenden fehlt die Zeit, sich zu erholen. Das ist auch dem Studenten Felix Sellier passiert. Er war so mit dem Studium und seinen Ehrenämtern beschäftigt, dass ihm die Energie ausging. „Ich hatte immer weniger Lust etwas zu unternehmen“, sagt Sellier. Die wenige freie Zeit, die der Student hatte, nutzte er, um abzuschalten und auszuruhen. „Ich war müde, kaputt und ausgebrannt“, erinnert er sich. Das können laut dem Psychologen Prof. Dr. Benedikt Till erste Symptome von Burn-out sein. Die Betroffenen benötigen immer längere Erholungszeiten. Auch Konzentrationsschwierigkeiten und sozialer Rückzug sind erste Anzeichen, dass es zu viel Stress ist. Für Till gibt es ein ganz klassisches Warnsignal von Burn-out: „Die Personen investieren zwar immer mehr, aber die Leistung wird schlechter.“ Werden diese ersten Anzeichen ignoriert, kann das zu gesundheitlichen Problemen wie Depressionen, Bluthochdruck oder Herzerkrankungen führen. So helfen Universitäten Damit es so weit erst gar nicht kommen kann, hat Till eine Lehrveranstaltung für Medizinstudierende an der Medizinischen Universität Wien entwickelt. In seinem Seminar lernen Studierende, was Stress und Burn-out sind. Außerdem bekommen sie Tipps, wie sie damit umgehen können. „Den Studierenden soll bewusst werden, dass sie Stress haben werden, aber dass sie ihn auch kontrollieren und bewältigen können“, erklärt Till. Ein anderes Konzept hat Medizinsoziologin Iris Warnken an der Universität Augsburg eingeführt. Sie bildet Medizinstudierende zu sogenannten Peers aus. Nach einem dreitägigen Kurs können die Peers Gespräche für überlastete Kommilitonen und Kommilitoninnen anbieten. In den Gesprächen werden dann nicht nur die Erfahrungen ausgetauscht, sondern auch Tipps für das anstrengende Studium gegeben. Das Ziel der Gespräche ist, dass Bewältigungsstrategien für den stressigen Alltag entwickelt werden. Helfen die niederschwelligen Gespräche nicht, kann an andere Hilfsorganisationen weitergeleitet werden. Auch Felix Sellier hat es geholfen, über die stressige Phase in seinem Studium zu reden. Es auszusprechen und bewusst zu machen, dass es zu viel ist, hat dem 25-Jährigen dazu bewegt, etwas zu ändern. „Ich habe meine Prioritäten damals falsch gesetzt“, sagt Sellier. Inzwischen hat er seine Ehrenämter im Studierendenrat und in der Fachschaft abgelegt. Nur ein Ehrenamt macht er immer noch: Er ist Peer an der Universität Augsburg. „Ich konnte mir durch meine Arbeit als Peer damals selbst helfen“, erklärt der Medizinstudent. Heute ist er im elften Semester, schreibt an seiner Doktorarbeit und arbeitet weiter an seinem Traum, Arzt der Inneren Medizin zu werden. Und dafür muss er keine Kinobesuche mit seiner Freundin mehr absagen. „Für zukünftige Medizinstudierende wünsche ich mir, dass an den Universitäten mehr niederschwellige Hilfsangebote geschaffen werden“, sagt Sellier. Denn für ihn steht fest, dass für niemanden der Traum Arzt oder Ärztin zu werden, platzen sollte.

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