Was mich seit meinem ersten Pflegepraktikum ganz zu Beginn des Studiums mit am meisten an der Medizin fasziniert, sind die Einblicke, die sie in das Leben von Menschen und damit in unsere Gesellschaft erlaubt. Die Medizin und ihr äußerer Rahmen, das Gesundheitssystem, begegnet den und begleitet die Menschen bei den fundamental bedeutsamen Lebensereignissen Konzeption, Schwangerschaft, Geburt, Krankheit, Sterben und Tod – und bei vielen Kleinerem und Größerem dazwischen; bei der Jugendarbeitsschutzuntersuchung vor dem ersten Job, bei persönlichen Krisen, bei den ersten Anzeichen des Alterns, und dann beim Fortschreiten von diesem.
Spricht man mit PatientInnen, so erfährt man oft vieles über ihr Leben, und darüber was ihnen dieses bedeutet, was es für sie mit Sinn und Inhalt füllt, wie ihr Alltag aussieht, was sie sich wünschen, was ihre Ziele und Ängste sind. In die Anamnese, und in den von uns mit Befunden und Diagnosen erfassten Gesundheitsstatus scheint oft eine ganze Lebensgeschichte eingeschrieben zu sein – bei der 80-jährigen Bäuerin mit Coxarthrose, die von der Arbeit auf den Feldern erzählt und davon, dass sie nicht mehr wolle, als noch einmal ohne Schmerzen zu dem Hof und dem Stall mit den Kälbern zu laufen, wo sie ihr ganzes Leben verbracht habe; der 16-Jährige, der von der Arbeit überfordert und von seinen Kollegen gemobbt seine Ausbildung abbrechen will und flehentlich um eine Krankmeldung bittet; die 50-jährige ehemalige Altenpflegerin mit chronischen Schmerzen und einer zwei Seiten langen Medikamentenliste, die erzählt, wie sie vor acht Jahren nach einer Nachtschicht im Sekundenschlaf von der Fahrbahn abkam, sich ihr Wagen dreimal überschlug, und sie seitdem nicht wieder auf die Beine gekommen sei.
Dies gilt für die Medizin ganz allgemein – doch nirgends habe ich diesen Aspekt der Medizin so umfassend und intensiv erlebt wie hier während meines PJ-Tertials in der Allgemeinmedizin. Denn in der Klinik begegnen uns nur PatientInnen, die schwer genug krank sind, dass dies eine Einweisung rechtfertigte; und (und dies ist vielleicht noch wichtiger) im Krankenhaus sind sie aus ihrem Alltag und ihrem Umfeld gerissen, und – so scheint es oft – mit Barcode-Bändchen und im einheitlich gemusterten Krankenhaushemd ihrer Individualität beraubt und auf das Dasein als Patient reduziert. Das Setting der Institution Krankenhaus und die Rollenverteilung Personal versus Insassen mit ihrer ausgeprägten Macht- und Informationsasymmetrie prägt auch das Arzt-Patientenverhältnis in der Klinik, und erschwert dort das Kommunizieren auf Augenhöhe.
Wie anders ist dies in der Hausarztpraxis – hier erlebt man PatientInnen als Menschen inmitten ihres alltäglichen Lebens und in ihrem gewohnten, dem sie prägenden Umfeld. Hier lernt man, was Gesundheit und Krankheit für Menschen in ihrem Alltag bedeuten, hier erfährt man unmittelbar wie Diagnosen, Befunde und Beschwerden das Leben von Menschen verändern, wie sie damit umgehen, auf sie reagieren und sich unter ihnen verändern. Und hier wird einem auch bewusst, wie Gesundheit und Krankheit mit all dem anderen verwoben ist, was dem Leben von Menschen Sinn, Inhalt und Erfüllung gibt. In keinem anderen Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens ist man so nah am Leben der Menschen, für deren Gesundheit man als Arzt oder Ärztin durch die Wahl des eigenen Berufes Verantwortung übernommen hat.
Aus diesem Grunde glaube ich, dass, ganz gleich in welchem Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens man einmal arbeiten möchte, Erfahrungen in der Allgemeinmedizin ganz essentiell sind, um eine gute Ärztin oder ein guter Arzt zu werden – und das Praktische Jahr ist mit die beste Gelegenheit hierfür.
Ich selber weiß noch nicht, ob ich mein Leben als Hausarzt verbringen werde – zwar hat mir die Allgemeinmedizin von allen medizinischen Fächern bislang die positivsten Erfahrungen beschert, aber vielleicht wird mein Platz später einmal doch ein anderer sein. Denn mein Herz schlägt auch für die Forschung und für die Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen von Gesundheitsversorgung und Gesundheit im Allgemeinen. Dazu zu forschen, darüber nachzudenken und dafür zu arbeiten, wie sich Gesundheitsversorgung am besten organisieren lässt, und wie wir als Gesellschaft gesündere Lebensbedingungen für uns alle schaffen können – auch dies fasziniert und beschäftigt mich, und vielleicht wird mich mein Weg auch weiter in diese Richtung führen. Doch auch dafür kann ich mir keine bessere Vorbereitung vorstellen als die Arbeit hier in der Hausarztpraxis, denn erst hier habe ich begonnen zu verstehen, was uns Gesundheit in unserem Leben bedeutet.