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31.07.2017 | Medizinstudium | Online-Artikel

PJ-Tagebuch: Woche Nr. 2

Vom Für und Wider der Kompressionstherapie

verfasst von: Peter von Philipsborn

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Ein zentrales Merkmal evidenzbasierter medizinischer Praxis ist es, die eigenen Routinen immer wieder kritisch auf den Prüfstand zu stellen, wenn neue wissenschaftliche Evidenz hierzu Anlass gibt. Dies ist besonders wichtig bei häufig auftretenden Krankheitsbildern und alltäglichen Problemen – gerade für solche entwickelt man Routinen, und gerade bei diesen ist allein durch die Zahl der betroffenen PatientInnen der potentielle Nutzen besonders groß. 

Es war und ist in vielen Kliniken gängige Praxis, bei PatientInnen nach tiefer Beinvenenthrombose (TVT) Kompressionsstrümpfe anzuwenden. Grund hierfür ist, dass die Entstehung eines postthrombotischen Syndroms (PTS) verhindert werden soll. Das PTS ist eine mögliche Komplikation einer TVT, die – so die gängige Lehrmeinung – durch eine Schädigung der Venenklappen und einer folgenden Varikosis mit chronisch-venöser Insuffizienz bedingt ist.

Der Fall: Kompressionsstrümpfe sind nicht besonders beliebt bei PatientInnen – und so fragte letzte Woche eine betroffene Patientin in unserer Praxis, ob sie denn wirklich unbedingt diese fürchterlich engen Strümpfe tragen solle (gerade jetzt im Sommer!), und was denn da eigentlich der Nutzen sei. Schnell auf AMBOSS nachgeschlagen fand ich dort den Hinweis dass ja, eine Kompressionstherapie nach TVT unbedingt empfehlenswert sei um das Auftreten eines PTS zu verhindern. Zu Beginn solle die Kompression mittels elastischen Wickelverband erfolgen, und nach dem Nachlassen der anfänglichen Schwellung durch angepasste Kompressionsstrümpfe, die für mindestens 3 Monate getragen werden sollten, je nach Verlauf und insbesondere bei Anzeichen für eine chronisch-venöse Insuffizienz auch länger, gegebenenfalls lebenslang. 

Ich selber hätte mich hiermit zufrieden gegeben, denn als Medizinstudent im Jahr 2017 bin ich spätestens seit der Examensvorbereitung darauf konditioniert, dass gilt was AMBOSS sagt. Doch Dr. Blank hatte in Erinnerung, dass die besagte, auch in AMBOSS dargestellte Lehrmeinung von einer neueren Studie grundlegend in Frage gestellt worden sei, und bat mich, der Sache auf den Grund zu gehen.

Als Quelle wird auf AMBOSS die S2k-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Venenthrombose und der Lungenembolie“ vom Oktober 2015 genannt – und in dieser heißt es tatsächlich unmissverständlich: Um Häufigkeit und Schwere des postthrombotischen Syndroms zu reduzieren, sollte [nach TVT] frühzeitig mit einer Kompressionstherapie begonnen werden. Die Leitlinie führt aus, dass in zwei Studien aus den Jahren 1997 und 2004 ein Nutzen für die Kompressionstherapie nach TVT nachgewiesen wurde. Eine Studie aus dem Jahr 2014 konnte zwar keinen Nutzen zeigen, diese hätte jedoch methodische Mängel, so dass die Leitlinienautoren an der Empfehlung für eine Kompressionstherapie festhalten.

Bei der besagten Leitlinie handelt es sich um eine S2k-Leitlinie – das heißt eine konsensbasierte Leitlinie (das k steht für Konsens), die von einer repräsentativen Leitliniengruppe unter Beteiligung aller relevanten und interessierten Fachgesellschaften entwickelt wurde, allerdings ohne systematische Literatursuche- und synthese (wäre eine solche zusätzlich zum konsensbasierten Verfahren durchgeführt und bei der Leitlinienerstellung berücksichtigt worden würde es sich um eine S3-Leitlinie handeln, der höchsten Leitlinien-Entwicklungsstufe). 

Eine schnelle PubMed-Suche mit den Suchbegriffen stocking* AND thromb* und dem Suchfilter „Meta-Analysis“ und „Systematic Reviews“ liefert vier aktuelle systematische Übersichtsarbeiten zur Frage, ob eine Kompressionstherapie nach TVT helfen kann, ein PTS zu verhindern: Berentsen 2016, Burgstaller 2016, Jin 2016, und Perrin 2016. Berentsen 2016 stellt fest, dass die methodisch besten Studien keinen Nutzen einer Kompressionstherapie nach TVT zeigten. Burgstaller 2016 führt aus, dass die vorliegenden Studien unterschiedliche Ergebnisse zeigten, und verzichtet (im Abstract) auf eine klare Aussage bezüglich des Nutzens einer Kompressionstherapie. Jin 2016 poolt die Ergebnisse der vorliegenden Studien in einer Meta-Analyse, welche keinen Nutzen einer Kompressionstherapie nach TVT zeigt, weist aber auch auf die Heterogenität der Studienlage hin und fordert weitere Forschung zu diesem Thema. Perrin 2016 schlussendlich führt aus, dass zwei Studien mit sehr guter Therapieadhärenz (in denen die PatientInnen ihre Kompressionsstrümpfe also tatsächlich regelmäßig trugen) einen Nutzen nachweisen konnten, die anderen Studien mit schlechterer Adhärenz den Bedingungen der Realität aber näher kämen. Offen bliebe jedoch die Frage, ob es vielleicht Subgruppen von PatientInnen mit TVT gäbe, die von einer Kompressionstherapie profitieren könnten…. 

Was heißt das nun für unsere Patientin? Aus den genannten Studien und Übersichtsarbeiten lassen sich sicherlich unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen, aber für mich lautet die vorläufige Quintessenz, dass wir (noch) nicht sicher sagen können, ob eine Kompressionstherapie nach TVT etwas nützt oder nicht. Gerade wenn die Evidenz uneindeutig ist (aber nicht nur dann) erscheint es besonders wichtig, PatientInnen eine gut und ausgewogen informierte eigene Entscheidung zu ermöglichen. 

Das nächste Mal würde ich einer Patientin wie der eingangs erwähnten daher vielleicht Folgendes erklären: „Manchmal werden durch eine Thrombose die Venen im Bein so geschädigt, dass sich Krampfadern entwickeln. In einigen Fällen können sich daraus Durchblutungsstörungen mit schmerzhaften Schwellungen bis hin zu offenen Stellen an den Beinen entwickeln. Dies nennt man postthrombotisches Syndrom. Viele Experten glauben, dass Kompressionsstrümpfe helfen können, dies zu verhindern. Sie sollten jedoch wissen, dass nur manche Patienten dieses Syndrom entwickeln, und es bei Ihnen selbst dann auftreten kann, wenn Sie Kompressionsstrümpfe tragen. Vielleicht senken Kompressionsstrümpfe die Wahrscheinlichkeit, dass ein postthrombotisches Syndrom auftritt, aber ganz sicher wissen wir das nicht. Experten empfehlen, für mindestens drei Monate Kompressionsstrümpfe zu tragen – aber wie gesagt, ob dies wirklich etwas bringt wissen wir nicht sicher. Mein Vorschlag wäre, dass wir Ihnen ein Rezept für Kompressionsstrümpfe mitgeben und Sie diese ausprobieren und sich dann in Ruhe überlegen, ob sie diese weiter tragen möchten. Ende der Woche können wir uns dann wieder in der Sprechstunde sehen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wäre das so in Ihrem Sinne? Habe Sie jetzt noch Fragen, oder gibt es noch Dinge, die Sie gerne besprechen möchten?“

Ein letzter Caveat noch: Über den Nutzen einer Kompressionstherapie aus anderen Gründen – etwa zur TVT-Prophylaxe nach Operationen, oder bei bereits bestehender chronisch-venöser Insuffizienz – ist damit noch nichts gesagt. Wie gut die Evidenz für einen Nutzen bei diesen Indikationen ist weiß ich nicht, aber das ist ein anderes Thema.

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