Ergebnisse
Es wurden die longitudinalen Ergebnisse der neurokognitiven Testungen von 79 Kindern untersucht, davon 37 nach Protonenbestrahlung und 42 nach Photonenbestrahlung. Das mediane Follow-up betrug 4,3 Jahre. Im Hinblick auf ihre klinischen und demografischen Charakteristika ist hervorzuheben, dass sich die beiden Kohorten sowohl bei der Verschreibungsdosis für den Boost als auch beim Sicherheitssaum für den Boost signifikant unterschieden. Während bei der Photonenbestrahlung ausnahmslos ein CTV-Saum von 10 mm verwendet wurde, waren es bei 37,8 % der Patienten in der Protonengruppe lediglich 5 mm. Die mediane Boost-Dosis war mit 55,8 Gy im Photonenarm höher als im Protonenarm (54 Gy). Die weiteren Charakteristika, wie etwa Geschlecht, Alter oder Dosis der Neuroachse, zeigten keine relevanten Unterschiede.
Kinder, die mit Protonen behandelt wurden, zeigten im Verlauf keine Veränderung des globalen IQs im Vergleich zur Baseline. Im Gegensatz dazu wurde bei der Photonenkohorte ein statistisch signifikanter Verlust von durchschnittlich 0,9 IQ-Punkten pro Jahr festgestellt.
Bei der Untersuchung des Sprachverständnisses zeigte sich in beiden Gruppen weder zur Baseline noch im weiteren Verlauf eine signifikante Veränderung.
Das wahrnehmungsgebundene logische Denken hingegen verbesserte sich sogar nach Protonenbestrahlung um durchschnittlich einen Punkt pro Jahr, während nach Photonenbestrahlung tendenziell eine Verschlechterung von durchschnittlich 0,8 Punkten pro Jahr beobachtet wurde, jedoch ohne statistische Signifikanz zu erreichen.
Bei der Analyse des Arbeitsgedächtnisses blieben die Ergebnisse während des Nachbeobachtungszeitraums für Protonen unverändert zum Ausgangsbefund, wohingegen nach Photonenbestrahlung eine signifikante Verschlechterung von 2,2 Punkten pro Jahr festgestellt wurde.
Im Gegensatz zu den anderen Subdomänen zeigte sich die Verarbeitungsgeschwindigkeit in beiden Behandlungsgruppen gleichermaßen beeinträchtigt und nahm im Untersuchungszeitraum um durchschnittlich 0,9 Punkte pro Jahr ab.
Sämtliche Tests wurden auch separat für die SJMB03-Kohorte (n = 65) ausgewertet. Im Vergleich zum Gesamtkollektiv zeigte sich bei nunmehr gleichen Rahmenbedingungen (Chemotherapie, Boost-Dosis und CTV-Saum) ein ähnliches Ergebnis: Vorteile für die Protonenbestrahlung bei Arbeitsgedächtnis und wahrnehmungsgebundenem logischem Denken und keine Veränderung bei der Verarbeitungsgeschwindigkeit in beiden Gruppen. Im Gegensatz zur kombinierten Auswertung wurden in der Protonengruppe im Verlauf signifikant bessere Scores für das Sprachverständnis erzielt, jedoch ging der zuvor statistisch relevante Vorteil für den globalen IQ verloren.
Kommentar
In den letzten Jahren konnte sich die Protonenbestrahlung insbesondere bei der Behandlung von Hirntumoren im Kindesalter als Therapieoption der ersten Wahl etablieren. Trotz einer international rasant ansteigenden Anzahl neuer Einrichtungen stellt eine mangelnde Verfügbarkeit oftmals die Hauptursache dar, wenn die Behandlung dennoch mit Photonen durchgeführt wird. Dank zahlreicher dosimetrischer Vergleichsstudien ist die überlegene Dosisverteilung der Protonenbestrahlung unstrittig [
4‐
6]. Ob sich jedoch die konformalere Behandlung und die geringere Niedrigdosis im umliegenden gesunden Gewebe tatsächlich in klinisch relevante Vorteile übersetzen, konnte noch nicht für alle postulierten Indikationen zweifelsfrei belegt werden und wird z. T. nach wie vor kontrovers diskutiert. Dies ist aber von essenzieller Bedeutung, denn dank stetiger Verbesserungen bei Diagnostik, Therapie und Nachsorge besiegen in Deutschland über 80 % der pädiatrischen Patienten ihre onkologische Erkrankung und werden zu Langzeitüberlebenden [
7]; 1975 waren es nur knapp 50 %. Die Vermeidung schwerwiegender therapiebedingter Spätfolgen rückt daher neben der schieren Kontrolle der Grunderkrankung zunehmend in den Fokus. Bekanntermaßen ist die Bürde der Therapie nach einer kraniospinalen Bestrahlung in jungen Jahren besonders hoch und kann u. a. zu erheblichen körperlichen und neurokognitiven Einschränkungen führen, die ein Leben in Selbstständigkeit erschweren. Die Rationale zur lokalen Bestrahlung von Tumoren des zentralen Nervensystems oder der Schädelbasis mittels Protonen ist deshalb weithin akzeptiert, existieren doch für viele klinisch relevante Endpunkte klare Dosis-Wirkungs-Beziehungen. So haben beispielsweise Vatner et al. sehr deutlich das steigende Risiko endokriner Ausfälle mit steigender Dosis am Hypothalamus aufgezeigt [
8]. Im Umkehrschluss kann der „benefit“ der geringeren Dosisbelastung des Hypothalamus oder der Hypophyse durch die Verwendung von Protonen bei vorliegender Vergleichsplanung mit Photonen abgeschätzt werden.
Deutlich schwieriger gestaltet sich der eindeutige Beleg für ein verbessertes neurokognitives Outcome nach Protonenbestrahlung. Prospektive, randomisierte Evidenz sucht man vergeblich. Es finden sich jedoch vermehrt Arbeiten, die die Ergebnisse neuropsychologischer Testungen beider Bestrahlungsmodalitäten vergleichend gegenüberstellen. So konnten Kahalley et al. bereits in einer Vorarbeit feststellen, dass es nach Protonenbestrahlung zu keiner Verschlechterung des IQs kam, jedoch erreichte die Abnahme von 1,1 Punkten pro Jahr nach photonenbasierter Bestrahlung keine statistische Signifikanz [
9]. Auch Gross et al. fanden heraus, dass sich eine Protonenbestrahlung bei der Behandlung kindlicher Hirntumoren im Vergleich zur konventionellen Bestrahlung positiv auf das neuropsychologische Outcome auswirkt [
10]. Wenngleich zunehmend Evidenz für eine gleichbleibende neurokognitive Leistungsfähigkeit nach Protonenbestrahlung geschaffen wird [
11,
12], muss jedoch kritisch bemerkt werden, dass die Aussagekraft der Ergebnisse zum Teil limitiert ist, da sie sich entweder auf einen historischen Vergleich mit Photonen beziehen oder möglicherweise einem Selektionsbias unterliegen, da der sozioökonomische Status im Protonenkollektiv deutlich erhöht war. Bekanntermaßen korreliert dieser mit besseren Testergebnissen und führt u. a. aufgrund einer erhöhten Möglichkeit zur Mobilität zu einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit, eine Protonenbestrahlung zu erhalten [
13]. Die Kahalley-Arbeit überwindet eben diese Limitationen, da der Vergleich zu fairen Bedingungen stattfand: Es kamen moderne Photonenverfahren mit den gleichen (zeitgenössischen) Protokollvorgaben im Hinblick auf Zielvolumendefinition und Dosierung bei einem im Hinblick auf demografische, klinische oder sozioökonomische Charakteristika vergleichbaren Kollektiv zum Einsatz.
Besonders bemerkenswert ist, dass der positive Einfluss nicht an einem Kollektiv mit rein fokaler Bestrahlung gezeigt wurde, sondern vielmehr bei Patienten mit kraniospinaler Bestrahlung. Die bisherige Annahme, dass die gefürchteten Einbußen der Gedächtnisleistung v. a. dem Dosisbeitrag durch die Ganzhirnbestrahlung geschuldet sind, muss kritisch überdacht werden. Mitursächlich ist sicherlich die risikoadaptierte Dosisreduktion bei Bestrahlung der kraniospinalen Achse. Ebenso relevant dürfte aber auch die Anpassung des Zielvolumens bei der Boost-Bestrahlung hin zur Tumorbettbestrahlung anstelle der gesamten hinteren Schädelgrube sein. Wie es scheint, ist aber nicht nur die zerebelläre Integraldosis, sondern vielmehr auch die vom supratentoriellen Gehirn absorbierte Dosis ausschlaggebend für das funktionale Ergebnis. Und genau da kann die Protonenbestrahlung dank ihrer vorteilhaften physikalischen Eigenschaften zu einer relevanten Reduktion und damit einer geringeren Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung beitragen.
Fazit
Allen bekannten Limitationen retrospektiver Analysen zum Trotz liefert die Arbeit von Kahalley et al. die Evidenz für ein besseres neurokognitives Outcome bei den kindlichen Patienten nach Protonenbestrahlung – insbesondere auch im Vergleich mit der modernen photonenbasierten Bestrahlung. Zwar ist damit der Vorteil der Protonenbestrahlung im Hinblick auf das neurokognitive Outcome nicht abschließend belegt, aber wie bei einem Mosaik wird das Gesamtbild dank dieses weiteren wichtigen Puzzlestücks deutlicher erkennbar.
Semi Harrabi, Heidelberg
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