Das Klassifikationssystem der International Germ Cell Cancer Cooperative Group (IGCCCG) zur Prognoseeinschätzung der testikulären Keimzelltumoren basiert neben dem histologischen Subtyp, der Lokalisation des Primärtumors und Metastasen v. a. auf den Tumormarkerserumkonzentrationen vor Chemotherapie. Eine vorherige Studie zeigte eine signifikante IGCCCG-Fehlklassifikation bei Verwendung der Tumormarker vor Ablatio testis anstelle derer vor Chemotherapie. Die aktuelle Analyse beschäftigt sich mit der klinischen Relevanz dieser Fehlklassifikation sowie dem Ausmaß einer potenziellen Unter- bzw. Übertherapie.
Hintergrund und Fragestellung
Entsprechend der aktuellen Leitlinienempfehlung werden metastasierte testikuläre Keimzelltumor anhand des Klassifikationssystems der IGCCCG in entsprechende Prognosegruppen eingeteilt, nach der die Intensität der weiteren Therapie festgelegt wird (Tab.
1; [
8,
15]). Dabei werden sowohl der histologische Subtyp, die Lokalisation des Primärtumors sowie der Metastasen als auch die Serumkonzentrationen der Tumormarker Alpha-Fetoprotein (AFP), humanes Choriogonadotropin (HCG) und Laktatdehydrogenase (LDH) berücksichtigt [
1]. Da die Tumormarker nach erfolgter Ablatio testis üblicherweise abfallen, werden hier die Tumormarkerserumkonzentrationen vor Chemotherapie verwendet, die somit die Metastasenlast beschreiben [
1]. Entsprechend der aktuell gültigen Leitlinien sollten die Tumormarker für eine korrekte S‑Klassifikation an Tag 1 des ersten Chemotherapiezyklus bestimmt werden [
1]. Werden hingegen fälschlicherweise präoperative Tumormarker verwendet, besteht die Gefahr einer falsch-hohen Risikoklassifizierung und daraus resultierenden Übertherapie [
5]. Die Folgen der Übertherapie sind chemotherapieassoziierte Akut- und Langzeittoxizitäten mit dosiskumulativen kardiovaskulären, neurologischen, nephrologischen oder endokrinologischen Auswirkungen [
2‐
4,
6,
7,
9,
10]. In selteneren Fällen kommt es postoperativ zu einem Anstieg der Hodentumormarker, so dass auch eine Unterklassifizierung mit der Gefahr einer Untertherapie dieser Patienten möglich ist. Es konnte bereits anhand einer monozentrischen Studie mit kleiner Fallzahl von 83 Patienten gezeigt werden, dass es bei der Nutzung von präoperativen Tumormarkern zu einer Fehlklassifikation der IGCCCG-Risikogruppe kommen kann [
5].
Tab. 1
Prognosebasiertes Staging-System für metastasierte testikuläre Keimzelltumoren entsprechend der International Germ Cell Cancer Collaborative Group (IGCCCG; [
1,
8])
Gute Prognose |
Seminom (90 % aller Fälle) | Nicht-Seminom (56 % aller Fälle) |
Jede Primärlokalisation | Gonadaler/retroperitonealer Primärtumor |
Keine extrapulmonalen Metastasen | Keine extrapulmonalen Metastasen |
Jede Markerkonstellation | S0–S1 |
Intermediäre Prognose |
Seminom (10 % aller Fälle) | Nicht-Seminom (28 % aller Fälle) |
Jede Primärlokalisation | Gonadaler/retroperitonealer Primärtumor |
Extrapulmonalen Metastasen | Keine extrapulmonalen Metastasen |
Jede Markerkonstellation | S2 |
Schlechte Prognose |
Seminom – nicht klassifiziert | Nicht-Seminom (16 % aller Fälle) |
| Mediastinaler Primarius |
| Extrapulmonale Metastasen |
| S3 |
Das Ziel dieser Studie war die Evaluation der klinischen Relevanz dieser Fehlklassifikation entsprechend der IGCCCG-Prognosegruppen durch die Verwendung von präoperativen Tumormarkern mit Beschreibung des Ausmaßes einer potenziellen Unter- bzw. Übertherapie.
Diskussion
Unsere Studie zeigte, dass die Verwendung von Tumormarkerserumkonzentrationen vor der Ablatio testis im Vergleich zu denen vor Chemotherapie in Berechnung der IGCCCG-Prognosegruppe zu einer signifikanten Fehlklassifikation führen kann, am häufigsten zu einem „up-staging“, seltener zu einem „down-staging“. Hintergrund ist, dass sowohl der tumortragende Hoden als auch Metastasen eine relevante Quelle der Tumormarkerproduktion darstellen, sodass die Metastasenlast erst nach Entfernung des Hodens, also vor Beginn der Chemotherapie, adäquat eingeschätzt werden kann [
1].
Eine vorherige retrospektive Studie mit 83 Patienten zeigte eine inkorrekte Klassifikation unter Verwendung der präoperativen Tumormarkern bei 16 % aller Patienten [
5]. Hier zeigte sich ein „up-staging“ von einem guten zu einem intermediären Risiko bei 10 %, sowie von einem intermediären zu einem schlechten Risiko bei 5 % aller Patienten. 1 Patient (1 %) wurde bei Verwendung der präoperativen Tumormarkern in eine zu niedrige Prognosegruppe eingestuft („down-staging“, [
5]). In unserer Studie zeigte sich eine geringere Anzahl im Hinblick auf eine Änderung der IGCCCG-Prognosegruppen (6 % „up-staging“, 2 % „down-staging“
) mit signifikanter Therapieänderung, jedoch vergleichbare Zahlen im Hinblick auf eine Änderung des S‑Stadiums (13 % „up-staging“; 6 % „down-staging“). Die Unterschiede erklären sich daraus, dass für die IGCCCG-Prognosegruppenzuordnung weitere Parameter wie der histologische Subtyp, die Lokalisation des Primärtumors und der Metastasen beachtet werden müssen [
1]. In der oben erwähnten Publikation nicht beschrieben wurde jedoch, ob diese zusätzlichen relevanten Parameter in die Berechnungen inkludiert wurden, und ob die Patienten schlussendlich eine Therapieänderung erfahren hätten, was z. B. bei einer Prognoseänderung von intermediär nach schlecht nicht das Fall gewesen wäre [
1]. Somit soll im Rahmen dessen erneut betont werden, dass entsprechend der aktuellen EAU-Leitlinien alle notwendigen Parameter für eine Einordnung in eine Prognosegruppe verwendet werden sollten. Von großer Bedeutung ist hier, dass die Tumormarkerserumkonzentrationen nur bei Nichtseminomen eine Rolle für die IGCCCG-Klassifikation spielen (Tab.
1; [
1,
8]).
Weiterhin stellt sich die Frage, ob ein „up-grading“ der Prognosegruppe ausschließlich aufgrund des Tumormarkerserumkonzentration von LDH erfolgen sollte, da LDH als Hämolyseparameter nur einen unspezifischen Tumormarker darstellt [
1]. Aufgrund dessen wurde ein Patient unserer Kohorte mit einer alleinigen LDH-Erhöhung auf 704 U/l vor Chemotherapie bei normwertigen AFP und HCG in die gute und nicht in die intermediäre Prognosegruppe eingeordnet und mit 3 Zyklen PEB-Chemotherapie behandelt. Mit der Bedeutung der drei Hodentumormarker für die Diagnostik und Therapie beschäftigt sich aus diesem Grund aktuell die deutsche Hodentumorgruppe. Sie konnte zeigen, dass die Tumormarkerserumkonzentrationen von AFP und LDH bei Patienten mit intermediärer Prognose als Prognoseparameter für das Gesamtüberleben dienen können und LDH auch v. a. bei HCG-positiven Tumoren eine große Rolle zu spielen scheint [
13,
14]. Hier bedarf es jedoch sicherlich noch weiterer Analysen, die möglicherweise auch zu einer Neuaufstellung der IGCCCG-Klassifikation, welche erstmals im Jahr 1997 beschrieben wurde, führen könnte [
8]. Hier sollte sicherlich auch der neue, vielversprechende Marker miR-371a-3p inkludiert werden [
12].
Eine fehlerhafte IGCCCG-Gruppierung ist von enormer klinischer Relevanz, da diese entsprechend aktueller Studien zu einer signifikanten, nicht-leitliniengerechten Über- bzw. Untertherapie der Patienten und somit unnötigen Folgemaßnahmen führen kann. Vor allem beim testikulären Keimzelltumor, dem häufigsten Tumor des jungen Mannes, ist aufgrund des jungen Durchschnittsalters eine Übertherapie mit dem Risiko von Zweitmalignomen und chronischen Langzeitschäden wie Hörverlust, Fatigue, Herzkreislauferkrankungen oder neurologischen Beeinträchtigungen assoziiert [
3,
4,
6,
7,
9,
10]. Obwohl wir in der aktuellen Studie – am ehesten aufgrund der geringen Patientenzahl – keinen Einfluss einer fehlerhaften Therapie auf Rezidiventstehung und Gesamtüberleben nachweisen konnten, zeigte unsere Arbeitsgruppe in einer früheren Studie, dass eine nicht-leitliniengerechte Therapie zu einem reduzierten rezidivfreie Überleben führen kann [
11,
16]. Zur weiteren Evaluation dieser relevanten Thematik haben wir bereits eine multizentrische Studie mit größerem Patientenkollektiv initiiert.
Zusammenfassend sollten für eine leitliniengerechte IGCCCG-Klassifikation die Tumormarkerserumkonzentrationen vor der Chemotherapie verwendet werden. Nur so können Fehlklassifizierungen vermieden werden, die zu einer Über- oder Untertherapie führen können.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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