Lernziele
Nach Lektüre dieses Beitrags
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können Sie das klinische Erscheinungsbild der kraniofaziale Mikrosomie (CFM) einschätzen und bewerten.
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sind Sie in der Lage, die notwendige Diagnostik zur Bewertung der CFM zu benennen.
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kennen Sie die möglichen Therapieoptionen.
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wissen Sie um die Notwendigkeit des frühen Atemwegsmanagements.
Einleitung
Die kraniofaziale Mikrosomie (CFM) ist die zweithäufigste Gesichtsfehlbildung. Es existiert eine Vielzahl synonym verwendeter Begriffe für diese Erkrankung, z. B. „Goldenhar-Syndrom“, „hemifaziale Mikrosomie“, „okuloaurikulovertebrales Spektrum“ oder „Syndrom des 1. und 2. Kiemenbogens“. Nach der aktuellen europäischen Leitlinie sollte ausschließlich der Begriff „kraniofaziale Mikrosomie“ verwendet werden. Die CFM ist eine heterogene Entwicklungsstörung, die mit kraniellen und extrakraniellen Malformationen assoziiert sein kann. Die Diagnostik und Therapie sind stark symptombezogen, dementsprechend variabel und sollten unter Berücksichtigung aller assoziierten Fehlbildungen in einem multidisziplinären Team erfolgen.
Ätiologie
Mit einer Inzidenz von 1:3000 bis 1:5000 Lebendgeburten ist die CFM nach den Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten die zweithäufigste Gesichtsfehlbildung [
1,
2]. Die exakte Genese ist unklar: Neben
genetischen Faktoren und
pränatalen Expositionen werden auch Gefäßanomalien und Störungen in der Entwicklung des Meckel-Knorpels wie auch der Zellen der kranialen Neuralleiste diskutiert [
2,
3]. Schlussendlich resultiert innerhalb der ersten 6 Schwangerschaftswochen eine uni- oder bilaterale Entwicklungsstörung des 1. oder 2. Schlundbogens, die zu den sehr variablen klinischen Ausprägungen führt [
4,
5].
Klinische Zeichen und Diagnostik
Die CFM geht mit Fehlbildungen im Bereich des Ober- und Unterkiefers, Jochbeins, Hypo- oder Aplasie des inneren und äußeren Ohrs, der Gesichtsweichteile, der Augen/Augenhöhlen und der Gesichtsnerven sowie zusätzlich anderen, extrakraniellen Malformationen einher. Bei
unilateralen Formen führt die
Wachstumshemmung zu einer Verkürzung des aufsteigenden Unterkieferastes und zu einer Abweichung des Unterkiefers und Kinns zur betroffenen Seite. Diese
Asymmetrie beeinflusst zudem das Wachstum der Maxilla und führt schlussendlich zu Abweichungen der Kauebene. Viele betroffene Patienten weisen zudem Fehlbildungen des äußeren Ohrs mit Ohranhängseln auf. Außerdem zeigt über die Hälfte der Patienten mit CFM
Begleitfehlbildungen wie Wirbel‑, Nieren- oder Herzanomalien auf [
6]. Das International Consortium for Health Outcomes Measurement (ICHOM) hat Haupt- und Nebenkriterien zur Diagnostik der CFM definiert (Tab.
1; [
7]).
Tab. 1
Diagnosekriterien der kraniofazialen Mikrosomie
Hypoplasie des Unterkiefers | Mangel an fazialem Weichgewebe |
Mikrotie | Präaurikuläre Ohranhängsel |
Hypoplasie der Orbita und/oder des Gesichtsschädels | Makrostomie |
Asymmetrische Gesichtsbewegung | Lippen-Kiefer-Gaumensegel-Spalten |
Epibulbäres Dermoid |
Wirbelkörperanomalien |
Neben der klinischen Untersuchung kann ein Orthopantomogramm (OPG) wegweisend sein und die weiterführende Klassifikation der CFM ermöglichen. Die Durchführung dreidimensionaler Schnittbilddiagnostik mittels digitaler Volumentomographie (DVT) oder Computertomographie (CT) ist insbesondere zur weiterführenden Operationsplanung inklusive digitaler Planung und Modellerstellung vorteilhaft.
Klassifikationen
Seit der Erstbeschreibung der CFM im Jahr 1881 wurden verschiedene Klassifikationen zur Einordnung der Erkrankung vorgeschlagen [
9,
10,
11]. Die Klassifikation nach Pruzansky [
12] von 1969 basiert auf der Untersuchung von Röntgenaufnahmen des Unterkiefers und unterteilte die Schwere der Erkrankung in 3 Grade (Tab.
2). Kaban [
13] modifizierte diese Klassifikation 1988 durch Subklassifizierung des 2. Grades (IIA/IIB) unter Berücksichtigung der Kiefergelenke bzw. der Position der Fossa articularis (Tab.
3; [
14]). Das aktuell gebräuchlichste System ist die sog.
OMENS-Klassifikation, die neben dem Unterkiefer und den Kiefergelenken auch andere Wachstumsstörungen im Gesichtsbereich berücksichtigt ([
6]; Tab.
4). So umfasst das Akronym die Orbita (O), die Mandibula (M), die Ohren („ears“, E), den N. facialis (N) und das Weichgewebe („soft tissue“, S; [
15]).
Tab. 2
Klassifikation der Unterkieferdeformität bei kraniofazialer Mikrosomie nach Pruzansky [
12]
Grad I | Alle anatomischen Strukturen vorhanden, geringgradige Hypoplasie, keine Befundverschlechterung im Verlauf |
Grad II | Alle anatomischen Strukturen vorhanden, aber deutliche Abweichung in Größe und Form |
Grad III | Bis hin zu Aplasie des aufsteigenden Unterkieferastes, atypisches Wachstum, Befundverschlechterung im Verlauf |
Tab. 3
Modifizierte Klassifikation der Unterkieferdeformität bei kraniofazialer Mikrosomie nach Kaban et al. [
13]
Grad I | Alle Strukturen des Unterkiefers und des Kiefergelenks sind vorhanden und normal in der der Form, geringe Hypoplasie |
Grad IIA | Unterkieferast, Kondylus und Kiefergelenk sind vorhanden, jedoch hypoplastisch und formverändert |
Grad IIB | Der Unterkieferast ist hypoplastisch und deutlich formverändert, die Lage ist medial und anterior, keine Artikulation mit dem Schläfenbein vorhanden |
Grad III | Unterkieferast, Kondylus und Kiefergelenk fehlen, M. pterygoideus lateralis und M. temporalis (falls vorhanden) sind nicht mit dem Rest des Unterkiefers verbunden |
Tab. 4
OMENS-Klassifikation zur Beschreibung der kraniofazialen Mikrosomie [
6]
Orbita |
O0 | Normale Größe und Position |
O1 | Anormale Größe |
O2 | Anormale Position |
O3 | Anormale Größe und Position |
Unterkiefer |
M0 | Normal |
M1 | Unterkiefer und Fossa articularis sind verkleinert, der Unterkieferast verkürzt |
M2 | Unterkieferast ist verkürzt und formverändert |
M2A | Fossa articularis hat eine anatomisch akzeptable Position |
M2B | Kiefergelenk ist nach inferior, medial und anterior versetzt, deutlich hypoplastischer Kondylus |
M3 | Unterkieferast, Fossa articularis und Kiefergelenk sind nicht vorhanden |
Ohr |
E0 | Normal |
E1 | Geringe Hypoplasie, alle Strukturen vorhanden |
E2 | Äußerer Gehörgang nicht vorhanden, Ohrmuschel hypoplastisch |
E3 | Fehlstellung Ohrläppchen, fehlende Ohrmuschel |
N. facialis |
N0 | Keine Beeinträchtigung |
N1 | Beeinträchtigung Rr. temporalis/zygomaticus |
N2 | Beeinträchtigung Rr. buccalis/mandibularis/cervicalis |
N3 | Beeinträchtigung aller Anteile |
Weichgewebe |
S0 | Kein ersichtliches Defizit an Weich- oder Muskelgewebe |
S1 | Minimales Defizit an Weich- oder Muskelgewebe |
S2 | Moderates Defizit an Weich- oder Muskelgewebe |
S3 | Schweres Defizit an Weich- oder Muskelgewebe |
Therapieindikationen
Die Indikation und Art der Therapie ergeben sich insbesondere in der Frühphase durch die bestehenden klinischen Probleme. Ein multidisziplinäres Therapieregime ist von größter Bedeutung.
Atmungsprobleme
Im Rahmen der CFM ist vermehrt das
obstruktive Schlafapnoesyndrom (OSAS) festzustellen. Während die Prävalenz eines OSAS bei Kindern in der gesunden Population bei ca. 3 % liegt, steigt diese Zahl bei Kindern mit einer CFM auf bis zu 24 % [
16,
17]. Als Diagnosekriterien sollten die Empfehlungen der europäischen oder der deutschen Gesellschaft für Schlafmedizin herangezogen werden. Im Zusammenhang mit einer CFM wird vermehrt von schweren Verläufen berichtet, wobei der Schweregrad der OSAS und der CFM, insbesondere bei
bilateralen Formen, korreliert [
7]. Da als Folge einer OSAS relevante Entwicklungsstörungen resultieren können, sollte durch eine gezielte Diagnostik einschließlich einer
Polysomnographie, ggf. auch über mehr als eine Nacht, zeitnahe eine
stadiengerechte Therapie eingeleitet werden. Ein multidisziplinäres Vorgehen spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Das Spektrum reicht von einfachen Lagerungsmaßnahmen über ein nasopharyngeales „tubing“ bis hin zur großzügigen Indikation zur
Adenotomie/Tonsillotomie [
7]. Eine Tracheotomie sollte aufgrund der weitreichenden Konsequenzen für die betroffenen Kinder nur als Ultima Ratio eingesetzt werden. Eine Therapie mittels
nichtinvasiver Ventilation (z. B. „continuous positive airway pressure“ oder „high flow“) kann insbesondere bei schweren Formen indiziert sein und weist ebenfalls gute Erfolge auf.
Ernährungsprobleme
Aufgrund der anatomischen Veränderungen bestehen bei vielen Kindern mit CFM sowohl eine Trinkschwäche als auch Probleme beim Kauen und Schlucken, die mit
Gedeihstörungen und einer gesteigerten Gefahr einer
Dysphagie einhergehen [
18]. Bis zu 80 % der Kinder mit einer CFM weisen Ernährungsprobleme auf, wobei ein Zusammenhang mit dem Auftreten einer bilateralen CFM, schweren Unterkieferhypoplasien (Pruzansky-Kaban Grad III), Herzfehlern, gastrointestinalen Fehlbildungen oder einem OSAS besteht [
16]. Da 15–22 % der Patienten mit einer CFM eine Lippen- oder Gaumensegelspalte aufweisen, ist insbesondere in diesen Fällen mit verstärkten Ernährungsproblemen zu rechnen [
7]. Dies kann dazu führen, dass eine
Sondenernährung erforderlich wird. Ein
regelmäßiges Monitoring sollte unter Verwendung der WHO-Wachstumskurven erfolgen und mindestens bis zum 6. Lebensjahr halbjährlich unter Verwendung
spezieller Fragebögen erfasst werden [
7].
Artikulation
Auch die Einschränkungen der
Sprachentwicklung hängen von der Ausprägung der CFM ab [
16]. Insbesondere der Zusammenhang mit einer
Lippen-Kiefer-Gaumensegel-Spalte (LKGSS) oder den weiter unten beschriebenen Hörproblemen haben einen wichtigen Einfluss auf die Sprachentwicklung, die unmittelbar mit der
neurokognitiven Entwicklung verbunden ist. Mögliche Anomalien der Zunge, der perioralen und oralen Muskulatur bedingen ebenfalls Sprachentwicklungsstörungen. Studien gehen von Artikulationsstörungen bei mindestens 50 % der Kinder mit CFM aus [
7]. Das Spektrum reicht dabei von bestehender Heiserkeit mit Dysphonie bis hin zur velopharyngealen Insuffizienz [
19]. Der Einfluss dieser Entwicklungsstörung auf die
soziale Interaktion ist von großer Relevanz [
20]. Dem Screening von
Babbellauten ab dem 9. Monat kommt eine wichtige Bedeutung bei der Früherkennung von Störungen der Sprachentwicklung zu. Weiterführend sollte zwischen dem 2. und 8. Lebensjahr mindestens halbjährlich eine Kontrolle der rezeptiven und expressiven Sprachentwicklung erfolgen. Insbesondere beim Vorhandsein einer LKGSS sollte die Einbindung von
Logopäden ab dem 2. Lebensjahr erfolgen.
Hörentwicklung
Eine relevante
Hörminderung hat einen ungünstigen Einfluss auf die sprachliche und neurokognitive Entwicklung betroffener Patienten. Die Entwicklungsstörungen des Ohrs im Rahmen der CFM betreffen das äußere sowie das Mittel- und Innenohr mit den daraus resultierenden Hörstörungen. In bis zu 10 % der Fälle kann auch bei einer unilateralen CFM das kontralaterale Hören betroffen sein; bei der bilateralen Form kommen nicht mehr Höreinschränkungen vor als bei der unilateralen Form [
7]. Ein höherer Wert in der OMENS-Klassifikation korreliert positiv mit dem Auftreten von Hörentwicklungsstörungen.
Bei allen Kindern mit einer CFM sollte vor dem Abschluss des 3. Lebensmonats ein
Neugeborenen-Hörscreening in einem erfahrenen Zentrum durchgeführt werden. Eine Reevaluation sollte spätestens bis zum 30. Lebensmonat erfolgen. Besteht eine
angeborene Schwerhörigkeit, sollte eine audiologische Intervention vor dem 6. Lebensmonat stattfinden. Von entscheidender Bedeutung für eine möglichst ungestörte neurokognitive Entwicklung ist eine suffiziente Versorgung mit einer
Hörunterstützung. Konsekutive Probleme wie z. B.
rezidivierende Mittelohrentzündungen müssen beachtet werden, da hieraus weitere Hörverluste erwachsen können [
21].
Augenanomalien
CFM sind mit Augenanomalien assoziiert (Tab.
5). Diese können im Extremfall mit einem
Visusverlust verbunden sein.
Tab. 5
Mit kraniofazialer Mikrosomie assoziierte Augenfehlbildungen
Lipodermale Dermoide | 4–61 |
Epibulbäre Dermoide (3 Grade) | 10–56 |
Kolobome (Augenlid) | 3–32 |
Blepharoptose | 9–37 |
Mikrophthalmus | 5–71 |
Anomalien der Tränenwege oder -drüsen | 5–11 |
Strabismus | 12–22 |
Amblyopie | 16 |
Anisometropie | 8 |
Anomalien des hinteren Pols des Auges | 5 |
Anophtalmie | 5 |
Alle Kinder mit CFM sollten vor dem 5. Lebensjahr spezialisiert augenärztlich untersucht und in ein individuelles Nachsorgeschema eingebunden werden. Eine Korrektur mittels Brille und ggf. notwendige operative Korrekturen sollten frühzeitig in einem erfahrenen Zentrum durchgeführt werden.
Zahn- und Kieferanomalien
In Zusammenhang mit CFM sind charakteristische Zahn- und Kieferanomalien beschrieben worden. In der Literatur finden sich Prävalenzen von bis zu 33 % hinsichtlich der Nichtanlage von Zähnen. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Aplasien korreliert positiv mit dem Ausprägungsgrad der CFM. Besonders häufig sind Prämolaren, zweite Molaren sowie seitliche untere Schneidezähne nicht angelegt [
22]. Einige Studien zeigen, dass
Zahnaplasien bei asymmetrischen CFM bevorzugt auf der betroffenen Seite zu beobachten sind [
22]. Weiterhin weisen Patienten mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit Zahnentwicklungs- sowie Zahndurchbruchsstörungen der Prämolaren und Molaren auf der betroffenen Seite auf [
23]. In Abhängigkeit vom Schweregrad der CFM kann bei asymmetrischen Formen zudem eine geringere Größe der Seitenzähne auf der betroffenen Seite beobachtet werden.
Neben diesen dentalen Anomalien treten bei Patienten mit CFM Kieferfehlstellungen auf, die die
Okklusion erheblich beeinträchtigen können. In diesem Zusammenhang steht die
Mandibulahypoplasie im Vordergrund, die mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 91 % zu beobachten ist [
24]. Unilateral betroffene Patienten zeigen meist eine vertikale Kippung sowie transversale Abweichung der Mandibula auf die betroffene Seite hin [
25]. Die häufig zu beobachtende maxilläre Hypoplasie und Kippung der Kauebene kann als Folge der mandibulären Anomalie angenommen werden [
25]. Schlussendlich resultiert meist eine
Distalbisslage, die bei unilateralem Auftreten der Anomalie mit
Mittellinienabweichungen und transversalen Okklusionsstörungen einhergeht. Hierdurch können in weiterer Folge
funktionelle Einschränkungen wie eine inadäquate Abbeiß- und Kaufunktion, ein unzureichender Lippenschluss, ein viszerales Schluckmuster, eine habituelle Mundatmung sowie eine kompromittierte Sprachlautbildung resultieren [
7].
Vertebrale Anomalien
Die Prävalenz vertebraler Anomalien im Rahmen einer CFM ist mit ungefähr 30 % hoch [
26]. Hierbei können alle Anteile der
Wirbelsäule betroffen sein. Als minimale Form liegen vermehrte Nackenschmerzen und Verspannungen vor. Zu den häufigsten vertebralen Anomalien zählen eine Block- oder Halbwirbelbildung, eine Skoliose der Wirbelsäule und Rippenanomalien. Im Zusammenhang mit einem
Tortikollis sind ebenfalls vermehrt Bewegungseinschränkungen zu beobachten [
27]. Mit steigendem Schweregrad der CFM steigt sowohl die Gefahr für das Auftreten von vertebralen Anomalien als auch das Risiko für weitere extrakranielle Fehlbildungen. Bei entsprechenden klinischen Verdachtsmomenten sollte eine
neuropädiatrische Konsultation erfolgen. Im Rahmen von notwendigen Allgemeinanästhesien sollte bei der Lagerung ein besonderes Augenmerk auf die Halswirbelsäule gelegt werden. Notwendige operative Interventionen zur Stabilisierung der Wirbelsäule können das Entstehen sekundärer Schäden verhindern.
Psychosoziale Probleme
Neben den zahlreichen somatischen Problemen sollten die psychosozialen Aspekte der CFM nie außer Acht gelassen werden [
28]. Das Risiko einer
sozialen Stigmatisierung steigt mit dem Schweregrad der Erkrankung und ist insbesondere bei bilateralen Formen erhöht. Betroffene Patienten zeigen vermehrt ein
verringertes Selbstwertgefühl und werden öfter Opfer von Mobbing. Neben der kindlichen Problematik sind auch bei vielen der betroffenen Eltern deutlich erhöhte
Stresswerte festzustellen [
29]. Die neurokognitive Entwicklung von Kindern mit CFM ist geringfügig schlechter, allerdings mit deutlichen individuellen Unterschieden. Eine frühzeitige
psychologische Betreuung der Kinder und Eltern ist ein wichtiger Aspekt der Behandlung [
28].
Kieferorthopädische Therapie
Die Kieferorthopädie ist aufgrund der häufig sehr ausgeprägten Zahnanomalien, Kieferfehlstellungen, Okklusionsstörungen und den damit verbundenen funktionellen Beeinträchtigungen bei Patienten mit CFM Teil des interdisziplinären Behandlungsteams. Eine erste kieferorthopädische Beratung sollte etwa im Alter von 5 Jahren erfolgen. Wegen der sehr unterschiedlichen Ausprägungen der dentalen und skeletalen Anomalien bedarf es für die kieferorthopädische Therapie einer
individuellen Behandlungsplanung [
7].
Bei Patienten mit gering ausgeprägter CFM kann zur Einstellung einer gesicherten Okklusion i. d. R. auf eine kieferverlagernde Operation verzichtet werden. Durch funktionskieferorthopädische Geräte (z. B. Aktivator) und eine anschließende festsitzende kieferorthopädische Versorgung wird die neuromuskuläre Funktion verbessert, das Wachstum der Kiefer positiv beeinflusst und eine stabile Okklusion eingestellt [
23].
In der Mehrzahl der Fälle ist jedoch ein kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgisches Vorgehen zur Korrektur der Kieferfehllage und zur Einstellung einer gesicherten Okklusion erforderlich. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine ausschließlich kieferorthopädische Einstellung der Okklusion zwar möglich wäre, jedoch aufgrund
ästhetischer Überlegungen zur Verbesserung der extraoralen Erscheinung chirurgische Eingriffe indiziert sind – beispielsweise eine Neigung der Okklusionsebene oder eine Schwenkung des Unterkiefers [
30]. Ziel der kieferorthopädischen Behandlung ist es dann, die Zahnbögen auszuformen und für die kieferverlagernde Operation vorzubereiten. Eine funktionskieferorthopädische Therapie kann zwar auch bei kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgisch geplanten Behandlungen eine Verbesserung insbesondere der neuromuskulären Funktionsabläufe erzielen, jedoch sollte darauf geachtet werden, dass die
Patientencompliance durch eine langfristige Behandlung nicht überfordert wird [
31]. Ein gemeinsamer, interdisziplinärer Behandlungsplan des behandelnden Kieferorthopäden und Mund‑, Kiefer- und Gesichtschirurgen ist in kombinierten Behandlungssituationen sowohl für die kieferorthopädische Behandlungsplanung als auch die Auswahl der erforderlichen chirurgischen Eingriffe essenzielle Voraussetzung [
7].
Chirurgische Therapie
Das Therapiekonzept für Patienten mit CFM ist sehr unterschiedlich. Zum einen richtet sich die chirurgische Therapie nach der Art und Schwere der Gesichtsanomalie, den Zielen und Wünschen des Patienten und der Familie sowie der psychosozialen Unterstützung. Zum anderen müssen das zugrunde liegende Wachstumsmuster, der Zahndurchbruch wie auch private und schulische Aktivitäten Berücksichtigung in der Planung der Normalisierung von Form und Funktion der betroffenen Regionen finden. In Anlehnung an die OMENS-Klassifikation werden im Folgenden mögliche kraniofaziale chirurgische Eingriffe beschrieben.
Orbita
Chirurgische Eingriffe an der Orbita im Rahmen der CFM umfassen weichgewebige wie auch knöcherne Eingriffe. Anomalien, die zum Visusverlust führen bzw. die Stimulation des
visuellen Kortex verschlechtern oder unterbinden könnten, werden i. d. R. zeitnah therapiert. So bedürfen Augenlidkolobome, Blepharoptosen oder Anomalien der Tränenwege aufgrund der Gefahr eines Visusverlustes einer frühen Intervention im Säuglingsalter [
32,
33]. Lipodermale oder epibulbäre Dermoide können hingegen erst im Kindesalter operativ therapiert werden. Bei vorhandener Sehfähigkeit sollte die Indikation zur operativen Korrektur knöcherner Asymmetrien, im Sinne von
Orbitotomien, zunächst zurückhaltend gestellt und nur in schweren Fällen vorgenommen werden [
34]. Zwar ist das Wachstum der Orbita mit dem 3.–4. Lebensjahr weitestgehend abgeschlossen, unter Berücksichtigung hoch liegender
Zahnkeime wird jedoch empfohlen, wenn möglich erst nach dem 6.–8. Lebensjahr in dieser Region zu operieren [
35].
Mandibula
Je nach Ausprägung der Unterkieferhypoplasie bzw. Aplasie des Kiefergelenks und/oder des Unterkieferasts können unterschiedliche operative Therapien in Betracht gezogen werden. Gerade beim milderen Ausprägungsgrad der CFM ist die frühe
mandibuläre Distraktionsosteogenese (MDO) eine plausible Therapievariante, um Deformitäten und Asymmetrien auszugleichen. Übersichtsstudien zeigen jedoch, dass bei mittleren bis schweren Ausprägungsgraden der CFM nach früher MDO oftmals weitere
dysgnathiechirurgische Eingriffe nach Abschluss der Wachstumsphase vonnöten sind, um Gesichtsasymmetrien auszugleichen, was auf instabile Langzeitergebnisse hinweist [
30,
36]. Bei Patienten mit schwereren Ausbildungsgraden der Unterkieferhypoplasie ist oftmals ein Aufbau des Ramus mandibulae wie auch des Kiefergelenks mittels freier oder mikrovaskulärer (Knorpel‑)Knochen-Transplantate notwendig. Kostochondrale Transplantate, bikortikale Becken- und Fibulatransplantate werden zur Rekonstruktion des Unterkiefers herangezogen [
30].
Je nach Zeitpunkt der Distraktion oder Rekonstruktion des Unterkiefers, ergibt sich unter Berücksichtigung des weiteren Wachstums und evtl. neu auftretender Asymmetrien und/oder Funktionsbeeinträchtigungen die Notwendigkeit weiterer orthognather Eingriffe [
37]. Bei milderen Ausprägungsgraden der Hypoplasie kommen mono-/bimaxilläre
Umstellungsosteotomien und/oder Genioplastiken auch als Ersttherapie infrage [
30]. Funktionelle und ästhetische Gesichtspunkte spielen bei der Planung dysgnathiechirurgischer Eingriffe eine entscheidende Rolle.
Auch der allogene Ersatz des Kiefergelenks mittels
patientenindividueller Implantate nach Abschluss des Wachstums scheint nicht nur für Patienten mit fehlgeschlagenen autogenen Unterkieferrekonstruktionen eine adäquate Lösung zu sein [
38].
Ohr
Mit einer Prävalenz von bis zu 88 % stellt die
Mikrotie eines der häufigsten Merkmale der CFM dar. Je nach Patientenwunsch bzw. Ausprägungsgrad kommen Silikonprothesen, die magnetisch mittels osseointegrierter Implantate gehalten werden, oder chirurgische Rekonstruktionen der Ohrmuschel mit z. B. Polyethylenimplantaten oder autologem Rippenknorpel in Betracht [
39].
N. facialis
Die Prävalenz der
Fazialisparese bei Patienten mit CFM beträgt 22–53 %. Die Parese kann ein- oder beidseitig auftreten. Aufgrund der angeborenen Unterentwicklung des Nervs können Probleme des
Lidschlusses, der Artikulation und des Mundschlusses sowie mimische Beeinträchtigungen auftreten [
40]. Wie zuvor beschrieben, ist die chirurgische Behandlung des oberen oder unteren Augenlides zum Schutz vor längerer Hornhautexposition indiziert, wenn konservative Therapien versagen. Der leichtere Lidschluss kann neben der Injektion von
Botulinumtoxin auch durch die Insertion von
Goldimplantaten sowie die operative Verlängerung des M. levator palpebrae superioris erreicht werden. Die „facial reanimation surgery“, die Wiederherstellung der Fazialisfunktion u. a. mittels freier Muskeltransplantate, ist Mittel der Wahl zur Wiederherstellung v. a. des unteren Anteils des N. facialis [
41].
Weichgewebe
Ein relevanter Faktor, der zu Asymmetrien bei Patienten mit CFM führt, ist der Mangel an Unterhautfettgewebe oder Muskulatur, der bei ca. 82 % der Patienten auftritt. Abhängig von der Defektgröße kann die Volumenrekonstruktion mittels freier Fetttransplantate, gestielter lokaler Lappenplastiken, mikrovaskulärer Transplantate sowie mit patientenindividuellen alloplastischen Rekonstruktionen erfolgen.
Fazit für die Praxis
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Die kraniofaziale Mikrosomie ist eine Entwicklungsstörung mit sehr heterogener Symptomausprägung.
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Die Hypoplasie des Unterkiefers, Fehlbildungen des äußeren Ohrs mit Ohranhängseln und eine wachstumsbedingte schiefe Kauebene gehören zum typischen Erscheinungsbild der CFM.
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Die exakte Genese der CFM ist unklar.
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Die Komplexität dieser Erkrankung erschwert die Diagnostik und erfordert ein inter- und multidisziplinäres Therapiekonzept.
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Idealerweise werden diese Konzepte gemeinsam mit den Patienten und ihren Erziehungsberechtigten in interdisziplinären Sprechstunden erarbeitet.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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