Diskussion um Alzheimermittel Lecanemab

Die im September bekanntgegebenen positiven Resultate einer Phase-3-Studie mit dem Amyloid-Antikörper Lecanemab sind nun im Detail publiziert worden – und sorgen unter Fachleuten für Diskussionen um den klinischen Nutzen der neuen Therapie. Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Die Bekanntgabe der Top-Line-Resultate zur Phase-3-Studie Clarity AD Ende September sorgte für einen Paukenschlag: Erstmals konnte in einer großen Studie zweifelsfrei der Nutzen einer Anti-Amyloid-Therapie bei Morbus Alzheimer belegt werden (siehe Bericht). Mit dem monoklonalen Antikörper Lecanemab von Eisai und Biogen ließ sich die Progression der Erkrankung im Vergleich zu Placebo um rund 27 % verzögern. Der Antikörper hat damit gute Chancen, als erstes krankheitsmodifizierendes Arzneimittel gegen Alzheimer in der EU zugelassen zu werden. „Diese Ergebnisse markieren eine Zeitenwende“, so Professor Christian Haas vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in München gegenüber dem Science Media Center (SMC). „Die zentrale Bedeutung von Anti-Amyloid-Therapien für Patienten mit der Alzheimer-Krankheit ergibt sich weniger aus dem Datensatz zu Lecanemab selbst, sondern vielmehr aus der Stimmigkeit des Gesamtbildes mit den Daten zu Aducanumab und Donanemab. Alle diese Antikörpertherapien entfernen effektiv Amyloid-Ablagerungen aus dem Gehirn und scheinen auch einen günstigen Einfluss auf die Tau-Ablagerungen zu haben. Damit einher geht ein klinischer Effekt, der bei einer Verlangsamung der Krankheitsprogression zwischen 25 und 30 Prozent zu liegen scheint.“ Gerade diesen klinischen Effekt halten andere aber für recht mager. „Die Frage ist natürlich: Ist das klinisch relevant? Wenn eine Studie groß genug ist, sind auch geringe Unterschiede statistisch signifikant, doch ist der Effekt für den einzelnen Patienten dann auch spürbar?“, so Professor Richard Dodel im Gespräch mit Springer Medizin. Dodel verweist auf die Differenz von nur 0,45 Punkten zwischen Verum und Placebo beim klinischen Endpunkt, der „Clinical Dementia Rating – Sum of boxes“ (CDR–SB). „In der Literatur gelten erst Werte ab 0,5 Punkten als klinisch relevant. Lecanemab ist zwar nahe dran, aber dennoch leicht darunter. Wir sehen hier keinen Wow-Effekt“, so Dodel. „Davon merkt der Patient kaum etwas“, gibt auch Professor Stefan Teipel vom DZNE in Rostock/Greifswald gegenüber dem SMC zu bedenken, hält es aber für möglich, dass bei einer länger dauernden Therapie die Effekte relevanter werden. An der Phase-3-Studie haben 1795 Personen teilgenommen. 62 % hatten noch keine manifeste Alzheimerdemenz, sondern lediglich erste kognitive Einschränkungen (MCI), die auf eine Alzheimerpathologie zurückgeführt wurden – Ergebnisse von Liquor- oder PET-Untersuchung deuteten bei ihnen auf eine verstärkte Amyloidablagerung im Gehirn. 38 % hatten bereits eine leichte Alzheimerdemenz, 68 % waren ApoE4-positiv, knapp 16 % homozygot. Der Anteil der Personen mit MCI und der mit ApoE4 war in allen Gruppen gleich groß, berichtet ein Team um Christopher van Dyck von der Yale School of Medicine in New Heaven, USA. Auf der Multidomänen-Kognitionsskala CDR-SB betrug der Wert anfangs im Mittel 3,2 Punkte und variierte zwischen 0,5 und 8,5 Punkten. Maximal möglich sind 18 Punkte bei stärkster Demenz. Werte bis 6 Punkte deuten auf eine leichte Demenz. Der Mini-Mental-Status-Wert (MMST) lag zwischen 22 und 30 Punkten, der Mittelwert erreichte 25 Punkte. Die Hälfte der Teilnehmenden bekam Lecanemab in einer Dosierung von 10 mg/kg alle zwei Wochen infundiert, die übrigen erhielten Placebo. Behandelt wurde über 18 Monate hinweg. Die wichtigsten Ergebnisse: Der CDR-SB-Wert nahm im Studienverlauf unter Lecanemab um 1,21 Punkte, unter Placebo um 1,66 Punkte zu – eine statistisch signifikante Differenz beim primären Endpunkt von 0,45 Punkten und eine relative Differenz von 27 %. Die Kurven gingen mit der Zeit auseinander, möglicherweise wäre die Differenz bei längeren Zeiträumen noch größer geworden. Ein ähnliches Bild ergab sich beim ADAS-cog14-Wert: Ausgehend von im Schnitt rund 24 Punkten verschlechterte er sich um 4,14 Punkte mit Lecanemab und 5,58 Punkte unter Placebo – eine ebenfalls signifikante Differenz von 1,44 Punkten (relativ 25 %). Auf der Alltagsfunktionsskala ADCS-MCI-ADL (maximal 53 Punkte) sank der Wert ausgehend von 41 Punkten unter Lecanemab um 3,5 und um 5,5 Punkte unter Placebo – eine absolute Differenz von 2,0 Punkten und eine relative von 36 %. Wie erwartet, nahm die Amyloidlast unter dem Antikörper im Gehirn drastisch ab (um 55 %) und mit Placebo leicht zu. Ernste Nebenwirkungen traten bei 14,0 % mit Lecanemab und 11,3 % unter Placebo auf, sechs Personen starben in der Lecanemab-, sieben in der Placebogruppe, ein Zusammenhang mit der Behandlung wurde nicht gesehen. Ein besonderes Augenmerk von Anti-Amyloid-Therapien liegt auf Amyloid-bezogenen Auffälligkeiten in der Bildgebung wie Ödemen (ARIA-E) und Mikroblutungen (ARIA-H), die meist aber asymptomatisch sind. ARIA-H wurden bei 17,3 % mit Lecanemab und 9,0 % mit Placebo, ARIA-E bei jeweils 12,6 % und 1,7 % beobachtet. Diese Auffälligkeiten waren bei knapp 80 % asymptomatisch und gingen bei den übrigen mit Kopfschmerzen und Benommenheit einher. Kopfschmerzen traten insgesamt etwas häufiger auf als unter Placebo (bei 11 % versus 9 %), ebenso Infusionsreaktionen (bei 27 % versus 7 %). Ansonsten gab es keine belastbaren Unterschiede bei den überprüften Nebenwirkungen. Knapp 7 % in der Lecanemab-Gruppe und 3 % unter Placebo brachen die Behandlung wegen Nebenwirkungen ab. Die Studie wird nun offen fortgeführt, zudem laufen noch weitere Untersuchungen mit dem Antikörper bei präklinischem und bei familiär bedingtem Alzheimer. Empfehlung der Redaktion Demenz – Themenseite Wie therapiert man Alzheimerpatienten leitliniengerecht? Warum sind "keiner" und "nein" bei Dementen tabu? Und was tut sich in der Alzheimertherapie-Forschung? Antworten gibt die Themenseite Demenz. Hier finden Sie Übersichten, News, kommentierte Studienreferate und Kasuistiken. Das Wichtigste in Kürze Frage: Kann eine Therapie mit dem monoklonalen Antikörper Lecanemab die Alzheimerprogression bremsen? Antwort: In der Phase-3-Studie Clarity AD wurde die Alzheimerprogression unter Lecanemab bezogen auf die Multidomänen-Kognitionsskala CDR-SB um 27 % und bezogen auf die Alltagsfunktionsskala ADCS-MCI-ADL um 36 % reduziert. Bedeutung: Lecanemab kann Morbus Alzheimer wirksam bremsen. Welche klinische Bedeutung die Effekte haben, wird noch diskutiert. Einschränkung: Relativ kurze Studiendauer.

Springer Medizin

Diskussion um Alzheimermittel Lecanemab

Weiterführende Themen

Passend zum Thema

Fragen und Antworten zur COVID-19-Impfung

Dysphagie Screening Tool Geriatrie (DSTG)

consilium – Expertenwissen zu Themen aus dem Praxisalltag der Allgemeinmedizin und der Geriatrie