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18.11.2024 | Morbus Alzheimer | Nachrichten

Expertengespräch

Wie schafft Deutschland den Neustart in der Alzheimerversorgung?

verfasst von: Thomas Müller

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Die Therapie mit Amyloid-Antikörpern erfordert eine frühe Diagnostik und eine aufwändige Therapie. Eine Expertenrunde geht davon aus: Ärzte in Deutschland können das stemmen. Viele Fragen zur Finanzierung und Implementierung der Diagnostik sind aber noch offen.

Nun hat die europäischen Arzneimittelagentur EMA doch noch die Kurve gekriegt und sich im November für eine Zulassung des Amyloid-Antikörpers Lecanemab ausgesprochen. Damit ist klar: Auch in Deutschland können Menschen mit ersten kognitiven Beeinträchtigungen (MCI) und leichter Demenz demnächst das Mittel erhalten, sofern eine Alzheimerpathologie nachgewiesen wird und keine ApoE-Homozygotie vorliegt. Um eine Alzheimerpathologie aufzuspüren, sind aber Biomarkeranalysen nötig – derzeit Liquoranalyse, MRT oder PET oder bald auch der serumbasierte Alzheimernachweis. Solche Analysen finden derzeit nur in geringem Umfang statt – in Forschungsprojekten oder bei ausgewählten Patientinnen und Patienten. Sie müssten nun großflächig ausgerollt werden. Zudem sind jetzt Strukturen und Ressourcen für Infusionen (alle zwei Wochen) und regelmäßige MRT-Kontrollen erforderlich (viermal im ersten Therapiejahr). Letztere werden benötigt, um potentiell gefährliche Hirnschwellungen und Mikroblutungen (ARIA) aufzuspüren. All das muss mit der Zulassung von Lecanemab nun rasch angeschoben und auch finanziert werden. Es geht also nicht nur um die Einführung eines neuen Medikaments, sondern um die Neueinführung einer Krankheit in den medizinischen Workflow, einer Erkrankung, die zudem sehr viele Menschen betrifft. Zeit also, sich darüber Gedanken zu machen, wie künftig in Deutschland Alzheimer diagnostiziert wird und wer die Betroffenen behandelt.

Gedächtnisambulanzen als Nukleus der Frühdiagnostik

Während einer Expertenrunde in Berlin kurz vor der EMA-Entscheidung, organisiert von den Fachgesellschaften DGPPN*, DGN* sowie dem Deutschen Netzwerk Gedächtnisambulanzen (DNG), plädierte Professor Jörg Schulz vom Uniklinikum Aachen für eine zentrale Rolle der Gedächtnisambulanzen in der Frühdiagnostik und auch der Therapie. Sie könnten den Nukleus der künftigen Alzheimerversorgung darstellen. „Die Ambulanzen sind heute schon die Expertenzentren für eine Ätiologie-orientierte frühe Diagnosestellung“, erläuterte der Neurologe. Hier arbeiteten bereits multidisziplinäre Teams mit Fachkräften aus Neurologie, Psychiatrie, Geriatrie und Sozialdienst, es gebe Möglichkeiten zur Liquorpunktion, Bildgebung und ebenso Angebote für Angehörige zur Psychoedukation. Für die Antikörpertherapien müssten jedoch noch Möglichkeiten zur Infusion und zum Monitoring etabliert werden. Als weiteren Vorteil der Ambulanzen sieht Schulz auch die Möglichkeit, Alzheimerkranke recht einfach in Studien und Register aufzunehmen, etwa um zeitnah Real-World-Daten zu den neuen Therapien zu gewinnen.

Der Neurologe stellt sich eine Zuweisung von kognitiv auffälligen Personen zunächst über Hausärzte an Fachärztinnen und Fachärzte vor (Neurologie, Psychiatrie, Nervenheilkunde) und von diesen an die Gedächtnisambulanzen, sofern es sich nicht um spezialisierte Facharztzentren handelt, welche die Diagnostik selbst übernehmen. In den Ambulanzen würden die Diagnostik und eventuell auch Therapie erfolgen, die weitere Betreuung jedoch bei den Haus- und Fachärzten. Eine direkte Zuweisung von Hausärzten lehnt Schulz ab. „Hier wollen wir schon den fachärztlichen Filter haben.“

Ein Problem sei jedoch die derzeitige Finanzierung der Diagnostik: Der Neurologe rechnete vor, dass eine Alzheimerdiagnostik inklusive Liquor-Biomarker rund 1200 Euro koste, für jeden Ambulanzpatienten gebe es derzeit aber nur rund 400 Euro. Durch Prozessoptimierungen ließe sich vielleicht noch etwas bei den Kosten sparen – letztlich, so Schulz und auch andere Experten, sei hier jedoch eine andere Art der Finanzierung nötig.

Dr. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in einer Gemeinschaftspraxis in Jena sowie Vorsitzende der beiden Berufsverbände der Psychiater und Nervenärzte (BVDP, BVDN), sieht die Hauptlast der medizinischen Alzheimerversorgung jedoch nicht unbedingt bei den Gedächtnisambulanzen, sondern den rund 38.000 vertragsärztlich tätigen Hausärzten sowie den 9000 Fachärztinnen und Fachärzten im Bereich Psychiatrie, Neurologie und Nervenheilkunde, die sich auch heute schon um die Betroffenen kümmern. „Wir sind ja sehr viele“, so Köhler. Als Vorteil der Niedergelassenen betrachtet sie den niedrigschwelligen Zugang, die Einbeziehung der Angehörigen und die Zusammenarbeit mit anderen Professionen. Eine Lumbalpunktion, wie sie für die frühe Alzheimerdiagnostik nötig ist, könnten auch Facharztpraxen ermöglichen, ebenso Infusionen. Köhler verwies jedoch auf zahlreiche Hürden, die dies erschwerten: So würden die Beiträge für Haftpflichtversicherungen bis um das Dreifache steigen und es würden Hygienebedingungen wie bei ambulanten Operationen gefordert, wenn die Praxen eine Lumbalpunktion anböten. Dies alles erhöhe die Kosten einer Prozedur, die auch so schon unterfinanziert sei, erläuterte die Ärztin. Hinzu komme eine mangelhafte Finanzierung von Kognitionstests. „Solche Probleme müssen wir offen ansprechen und lösen, fachlich können wir das leisten.“

Multiprofessionelle Versorgung auch in den Praxen?

Köhler wünscht sich zudem eine multiprofessionelle Versorgung auch in den Praxen. Bislang sei es nicht möglich, nichtmedizinische Professionen (Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Koordination, Dokumentation) in Vertragsarztpraxen anzustellen und somit den Anforderungen der Demenzleitlinie gerecht zu werden. Hier könnten auch berufsübergreifende Konzepte weiterhelfen, wie sie die KSVPsych-Richtlinie ermögliche, die aber Demenzkranke explizit ausschließe.

Auch Hausärzte dürften bei der Demenzversorgung eine größere Bedeutung erlangen. Zum einen seien sie aufgefordert, Menschen mit kognitiven Auffälligkeiten aktiv anzusprechen und über die neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten aufzuklären, sofern sie denn kommen. Auf diese Weise könnten sie geeignete MCI- und Alzheimerfälle identifizieren und dem Versorgungssystem zuführen, erläuterte der Gerontopsychiater Professor Lutz Frölich vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Zum anderen könnte die Basisdiagnostik an die Hausärzte gehen, sobald sich valide Bluttests etablieren. Diese ließen sich wie andere Labortests auch recht einfach über Hausarztpraxen abwickeln. Entscheidend sei, dass man sich hier auf Schwellenwerte einige, die eine weitere Diagnostik bei Fachärzten triggern. Dies könnte dazu beitragen, die Diagnostik zu beschleunigen.

Frölich verwies auf eine eigene Untersuchung, nach der in Deutschland die Wartezeiten derzeit rund fünf Jahre für eine Biomarkerdiagnostik betragen würden, wenn alle mit leichter Demenz oder MCI diese im derzeitigen System auf einmal beanspruchten. Die Einführung von Bluttests im Primärarztsystem würde die Zeit auf rund 20 Monate reduzieren. In anderen Ländern, etwa Schweden, ließen sich die Wartezeiten mangels Personalkapazitäten hingegen nicht wesentlich verbessern. In Deutschland gebe es also genug Ärztinnen und Ärzte, um die frühe Alzheimerdiagnostik zu stemmen, die Probleme seien eher technischer und finanzieller Natur.

Professor Frank Jessen von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Köln warnte jedoch vor einer leichtfertigen Anwendung und Interpretation solcher Bluttests. Sie seien nicht zum Screening asymptomatischer Personen geeignet – hier würden sie unweigerlich oft zu falsch positiven Resultaten führen – mitunter mit ernsten Konsequenzen. „Es geht hier nicht um den Cholesterinspiegel. Es darf nicht passieren, dass jemand sagt: Ihr Bluttest ist positiv, Sie haben Alzheimer.“

Wie wird also die Alzheimerdiagnostik und -therapie in zehn Jahren aussehen? Jessen vermutet, dass geeignete Strukturen sich langsam etablieren, in ähnlicher Weise, wie dies bei der Thrombektomie geschah. Zudem könnten sich viele der Probleme mit anderen Therapeutika lösen, etwa solchen, die als Tabletten verfügbar sind und kein aufwändiges Monitoring erfordern. Frölich sieht für Deutschland gute Chancen, dass es nicht zu einem Therapie- oder Diagnostikstau kommt, vielleicht würden auch spezialisierte frühdiagnostische Zentren etabliert. Schulz geht davon aus, dass neue Therapeutika eine individuellere, an einzelne Krankheitsstadien angepasste Behandlung erlauben. Und Köhler wünscht sich, zusammen mit anderen unterschiedlichen Fachkräften in einer gemeinsamen Praxis Alzheimerkranke vom Früh- bis zum Spätstadium zu behandeln – vernetzt mit spezialisierten Ambulanzen, um dann ähnlich wie in Tumorboards einen individuellen Therapieplan zu erstellen.

 *Abkürzungen:

DGPPN: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde

DGN: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)


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Literatur

Frühe Diagnostik und neue Therapien der Alzheimer-Krankheit. Gemeinsame Veranstaltung der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und dem Deutschem Netzwerk Gedächtnisambulanzen (DNG) in Kooperation mit der Nationalen Demenzstrategie (NDS), der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, dem Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und dem Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN). Berlin, 17. Oktober 2024

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