Erster Schub: Netzhautanalyse deckt MS-Risiko auf

Bleibt es bei einem einzigen Schub oder kommt da noch mehr? Diese Frage stellen sich viele Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom. Eine Retinaanalyse per OCT kann mehr Klarheit schaffen. Hinweis: Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Schätzungsweise jeder fünfte Patient mit einem ersten demyelinisierenden Ereignis erleidet keine weiteren Schübe, entwickelt keine neuen MRT-Läsionen und damit auch keine MS. Bei vielen anderen flammt die Krankheitsaktivität oft erst nach Jahren erneut auf. Für die Betroffenen wäre es natürlich wichtig zu wissen, zu welcher Gruppe sie gehören. Offenbar kann eine Analyse der Retina mittels optischer Kohärenztomografie (OCT) etwas Klarheit schaffen: Patienten mit ausgeprägten Retinaschäden haben ein deutlich höheres Risiko, innerhalb weniger Jahre eine MS zu entwickeln, als solche mit einer normalen Dicke der einzelnen Netzhautschichten. Darauf deutet eine Untersuchung von Forschern um Hanna Zimmermann von der Charité Berlin und der TU München. Die Wissenschaftler machen sich zunutze, dass es bei einer MS oft schon sehr früh zu einem Untergang von Nervenzellen in der Retina und damit zu einer Ausdünnung der Netzhaut kommt – unabhängig davon, ob die Patienten eine Optikusneuritis entwickeln. Eine dünne Netzhaut ging in Studien mit einer ausgeprägten Hirnatrophie, einer ungünstigen Prognose und einer deutlichen Behinderungsprogression einher. Ein Blick ins Auge kann also zu einem gewissen Grad aufdecken, was gerade im Gehirn passiert. 55% entwickeln MS innerhalb von zwei Jahren Das Team um Zimmermann wollte schauen, ob sich die OCT auch schon bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS) eignet, um den Krankheitsverlauf und das MS-Risiko abzuschätzen. Zu diesem Zweck untersuchten sie 93 CIS-Patienten per OCT. Die Patienten waren im Schnitt 34 Jahre alt, zu zwei Drittel Frauen, der MS-artige Schub lag im Mittel drei Monate zurück. Untersucht wurden nur Augen ohne Optikusneuritis in der Vorgeschichte. Die Forscher verglichen die Dicke verschiedener Retinaschichten mit der von 90 gesunden Probanden. Anschließend beobachteten sie den Krankheitsverlauf – im Median über zwei Jahre hinweg. Als primären Endpunkt wählten sie das NEDA-3-Kriterium: keine weiteren Schübe, keine anhaltende Behinderungen, keine MRT-Aktivität. Dieses setzten sie in Beziehung zur Retinadicke. In der Nachbeobachtungszeit entwickelten 55% der CIS-Patienten eine MS nach den McDonald-Kriterien von 2010, 60% zeigten eine erneute Krankheitsaktivität und erfüllten damit nicht weiter das NEDA-3-Kriterium, 37% zeigten eine erneute MRT-Aktivität und 24% hatten einen weiteren Schub. Bei elf Patienten kam es zu einer anhaltenden Verschlechterung im EDSS-Wert um mindestens einen Punkt. Vierfach erhöhtes MS-Risiko Wie sich zeigte, korrelierte die Krankheitsprogression am besten mit der Gesamtdicke von Ganglienzellschicht plus innerer plexiformer Schicht. Zu Beginn der Untersuchung wiesen die CIS-Patienten hier einen Wert von 59 bis 85 Mikrometer auf, im Mittel lag der Wert bei 72 Mikrometern und war fast identisch mit dem Mittelwert der gesunden Kontrollpersonen. Doch bei etlichen CIS-Patienten zeigten diese beiden Schichten eine deutliche Ausdünnung. Entsprechend der Schichtendicke teilten die Forscher die Patienten in drei gleich große Gruppen auf. Im Terzil mit den dicksten Schichten erfüllte nach zwei Jahren noch rund die Hälfte das NEDA-3-Kriterium, im Terzil mit der den dünnsten Schichten war es gerade einmal jeder Achte. Von diesen Patienten scheiterten dreimal so viele am NEDA-3-Kriterium wie in der Gruppe mit den dicksten Schichten, und die MS-Rate war viermal so hoch. Aussagekräftig scheint auch die peripapilläre Nervenfaserschicht (pRNFL) zu sein. Im Terzil mit der dünnsten Schicht war die Rate der Patienten mit erneuter Krankheitsaktivität zweieinhalbfach erhöht. Dagegen gab es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Dicke der innere Körnerschicht und dem Krankheitsverlauf. Aus den Daten schließen die Forscher um Zimmermann, dass bei einer Gesamtdicke über 69 Mikrometer von Ganglienzellschicht plus innerer plexiformen Schicht die Chancen relativ gut stehen, die folgenden Jahre ohne erneut aufflammende Krankheitsaktivität zu überstehen. Umgekehrt deuteten niedrigere Werte bei CIS-Patienten auf einen ungünstigeren Verlauf. Abkürzungen: CIS: Clinically Isolated Syndrome, klinisch isoliertes Syndrom EDSS: Expanded Disability Status Scale MRT: Magnetresonanztomografie MS: Multiple Sklerose NEDA: No Evidence of Disease Activity OCT: Optische Kohärenztomografie pRNFL: peripapillary Retinal Nerve Fiber Layer Das Wichtigste in Kürze Frage: Erlaubt die OCT eine Prognose bei CIS-Patienten? Antwort: Eine Ausdünnung der Ganglienzellschicht und der inneren plexiformen Schicht deuten auf eine rasche MS-Konversion. Bedeutung: Die Retinaanalyse per OCT ermöglicht auf recht einfache Weise eine Abschätzung des MS-Risikos Einschränkung: Das Verfahren ist noch nicht ausreichend standardisiert.

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