Aktuell und in Zukunft: Stellenwert der Hirnatrophie als Therapieentscheidungshilfe

Bei Multiple Sklerose (MS) ist das Ausmaß der Hirnatrophie mit messbaren Effekten auf die Symptomlast und Behinderungsprogression klinisch relevant. Daher erörterten Expert*innen der Neurologie den aktuellen Stellenwert des Hirnvolumenverlustes in der Praxis und dessen Potenzial zur Prognoseabschätzung. psdesign1 / Fotolia × Jeder Mensch verliert pro Jahr etwa 0,2–0,4% seines Hirnvolumens. Diese Veränderungen sind bei neurologischen Erkrankungen wie beispielsweise MS und Morbus Alzheimer krankheitsbedingt stärker ausgeprägt und liegen jährlich bei etwa 0,5–1% bzw. 1,5–2,5%. Das Hirnvolumen setzt sich aus Neuronen (46%), Glia- und anderen Zellen (30%) sowie Myelin (24%) zusammen. „Der Pathomechanismus der MS-Hirnatrophie basiert auf dem Untergang von Neuronen bzw. axonalem Verlust und Demyelinisierung“, erläuterte Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie, Uniklinik in Essen [1]. Bei der MS-Hirnatrophie dominieren diffuse Entzündungsprozesse im ZNS, die als hauptverantwortlich für den Hirnvolumenverlust und auch für die schubunabhängige Behinderungsprogression angesehen werden. Neben akuten fokalen Schäden, die eine schubbedingte Verschlechterung verursachen, sind diese schwelenden Entzündungsprozesse bei MS von großer Relevanz. Diese können sich im Krankheitsverlauf akkumulieren, vorhandene Kompensationsreserven tilgen und körperliche und kognitive Beeinträchtigungen verstärken [2]. Hirnatrophie tritt früh und diffus auf Studienergebnisse deuten darauf hin, dass das jeweilige Ausmaß der Hirnatrophie im frühen Krankheitsverlauf einen potenziellen prädiktiven Stellenwert für den späteren Krankheitsverlauf hat. So wiesen MS-Patient*innen, bei denen der Hirnvolumenverlust (BVL, Brain Volume Loss) stärker ausgeprägt war, häufiger eine stärkere Behinderungsprogression auf als jene mit niedrigerem BVL. Der Volumenverlust der grauen Substanz korreliert zudem mit dem Grad der kognitiven Beeinträchtigung z. B. hinsichtlich Merkspanne, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit und Wortflüssigkeit. „Die bisherige Datenlage zum Thema Hirnvolumenverlust deutet an, dass das Ausmaß des Hirnvolumenverlustes mit schlechteren klinischen Parametern und höherer Symptomlast bei MS assoziiert ist. Hierzu zählen EDSS (Expanded Disability Status Scale)-Progression, kognitive Defizite, affektive Störungen, autonome Defizite (z. B. in Blasenfunktion, Sexualfunktion und gastrointestinaler Motilität) und Fatigue“, fasste Kleinschnitz zusammen [3, 4]. Reduktion der Hirnatrophie unter Teriflunomid Die MS-Hirnatrophie könnte als prognostischer Marker im frühen Krankheitsstadium an Bedeutung gewinnen, was auch die Entscheidung der Therapiewahl beeinflussen könnte, so Kleinschnitz. Der MS-bedingten Hirnatrophie kann beispielsweise mit der etablierten Behandlungsoption Teriflunomida entgegengewirkt werden. In der SIENA-Analyse (structural image evaluation using normalization of atrophy) der TEMSO-MRT-Daten reduzierte Teriflunomid (1x täglich 14mg) die MS-Hirnatrophie im Vergleich zu Placebo über zwei Jahre hinweg signifikant (n=808 in Jahr 1 und n=709 in Jahr 2). Der mediane prozentuale Anteil der Hirnatrophie von Baseline bis zu Jahr 1 und Jahr 2 betrug in der Placebo-Gruppe 0,61% bzw. 1,29% und in der Teriflunomid-14-mg-Gruppe 0,39% bzw. 0,90% mit einer relativen Reduktion von 36,9% im ersten Jahr und 30,6% im zweiten Jahr (p=0,0001; Abb. 1) [6]. Die Effekte von Teriflunomid auf das Ausmaß des Hirnvolumenverlustes waren sowohl bei Personen mit als auch bei Personen ohne Behinderungsprogression signifikant. „Diese Ergebnisse legen nahe, dass Teriflunomid die Hirnatrophie bei schubförmiger MS im klinisch relevanten Ausmaß reduziert“, schlussfolgerte Kleinschnitz [6]. Abb. 1 Teriflunomid: reduzierter Hirnvolumenverlust über zwei Jahre (modifiziert nach [6]) Springer Medizin Verlag GmbH × Zusammenhang von BVL und Behinderungsprogression In der TEMSO-Studie reduzierte Teriflunomid den Hirnvolumenverlust (p=0,0008) und die bestätigte Behinderungsprogression signifikant (p=0,0347). Weitere Analysen der TEMSO-Kernstudie (bis Jahr 2) und im Langzeit-Verlauf bis zum Jahr 7 untersuchten den Zusammenhang von Behinderungsprogression und BVL unter Teriflunomid genauer. MS-Patient*innen mit dem geringsten Hirnvolumenverlust nach zwei Jahren hatten die niedrigste Wahrscheinlichkeit, innerhalb von sieben Jahren eine bestätigte Behinderungsprogression über 12 oder 24 Wochen zu erleiden. In einer Analyse dieser Daten wurde deutlich, dass der Hirnvolumenverlust mehr als die Hälfte (51,3%) des Behandlungseffektes auf die Behinderungsprogression erklärt. „Dieses Ergebnis legt nahe, dass der Effekt von Teriflunomid auf die Behinderungsprogression überwiegend durch den Schutz des Hirnvolumens vermittelt wird“, sagte Kleinschnitz [7]. Laut Kleinschnitz sei Teriflunomid zu einem starken Vergleichskomparator avanciert, wenn es um die diffusen entzündlichen Parameter bei MS geht. Der Experte verdeutlichte dies anhand von Head-to-Head-Daten mit dem AntiCD20-Antikörper Ofatumumab (Studien ASCLEPIOS I und II) und dem selektiven Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-1- (S1P1)-Modulator Ponesimod (Studie OPTIMUM) [8, 9]. Teriflunomid im Vergleich: vergleichbare Wirksamkeit und Schutz des Hirnvolumens In der doppelblinden, randomisierten Studie OPTIMUM wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Ponesimod (20mg 1 x täglich, n=567) mit Teriflunomid (14mg 1x täglich, n=566) bei Patient*innen mit aktiver schubförmiger MS (RMS) über eine Behandlungsdauer von 108 Wochen verglichen. Hinsichtlich des primären Studienendpunktes reduzierte Ponesimod die jährliche Schubrate (ARR) um 30,5% versus Teriflunomid 14mg (0,202 versus 0,290; p<0,001). Es zeigten sich keine statistisch signifikanten Unterschiede bei der über 12 Wochen und 24 Wochen bestätigten Behinderungsprogression, einem der sekundären Endpunkte (Abb. 2) [8]. Abb. 2 Studie OPTIMUM: sekundärer Endpunkt CDA (Confirmed Disability Accumulation, bestätigte Schätzwerte des Behinderungsrisikos) (modifiziert nach [8]) Springer Medizin Verlag GmbH × In den beiden doppelblinden Phase-III-Studien ASCLEPIOS I und II mit identischem Studiendesign wurden ebenfalls Patient*innen mit RMS eingeschlossen, die randomisiert entweder Ofatumumab (n=946) oder Teriflunomid 14mg (n=936) über bis zu 30 Monate erhielten. Ofatumumab und Teriflunomid waren in den ASCLEPIOS-Studien mit geringen jährlichen Schubraten verbunden – gegenüber Teriflunomid wies Ofatumumab eine leicht verminderte jährlichen Schubrate auf. Ofatumumab und Teriflunomid zeigten vergleichbare Effekte bei der Verbesserung von Behinderung und beim Hirnvolumenverlust, wobei die Patient*innen in der Teriflunomid-Gruppe nach 12 Wochen und nach 24 Monaten einen numerisch geringeren Hirnvolumenverlust als die Patient*innen der Ofatumumab-Gruppe aufwiesen. „Das zeigt, dass Teriflunomid in punkto Verringerung von Behinderungsprogression und Verhinderung von Hirnvolumenverlust mit einem hochpotenten antiinflammatorischen Medikament wie Ofatumumab mithalten kann“, so Kleinschnitz, (Abb. 3) [9]. Abb. 3 Studien ASCLEPIOS I und ASCLEPIOS II: Hirnvolumenverlust (modifiziert nach [9]) Springer Medizin Verlag GmbH × Bestehende Hürden der Hirnatrophie-Messung BVL-Messungen haben sich in klinischen Studien etabliert, da eine MRT (magnetresonanztomografische)-Untersuchung des Gehirns die Atrophie grundsätzlich messen kann. Für den Einsatz in der klinischen Praxis ist die Messung des Hirnvolumenverlustes derzeit aber noch nicht ausreichend standardisiert, gab Prof. Dr. Dr. Mike P. Wattjes, Leiter der neuroinflammatorischen und neuroinfektiologischen Neuroradiologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, zu bedenken. Zudem ist die Messung und Interpretation des Hirnvolumenverlustes fehleranfällig. Sie kann beispielsweise durch beeinflussende Faktoren, wie eine medikamentös-induzierte Pseudoatrophie, verfälscht sein. Trotzdem besitzt die Messung des Hirnvolumens das Potenzial, MS-Patient*innen noch individueller einschätzen und auch behandeln zu können, so die Auffassung von Wattjes. Als prädiktiver Faktor könne die Veränderung des Hirnvolumens zusammen mit weiteren Forschungsansätzen genutzt werden, die auf radiologischen Merkmalen basieren [10]. Der Bedarf an validen Markern ist hoch „Zur Bestimmung der aktuellen Krankheitsaktivität und auch zur Überprüfung der aktuellen Therapie müssen Testverfahren aller Art einfach, schnell und reliabel sein und von den Kostenträgern abgedeckt werden“, betonte Dr. med. Dipl. oec. med. Verena Isabell Leussink, Fachärztin für Neurologie in Meerbusch. Leussink nimmt derzeit an Beobachtungsprogrammen teil, die den Einsatz der Hirnvolumenbestimmung in der klinischen Routine erforschen. Nach ihren bisherigen Erfahrungen ist eine ausschließliche Therapieumstellung nur aufgrund dieser Daten gegenwärtig schwierig. Die Expertin verdeutlichte dies anhand einer Kasuistik einer 36-jährigen Patientin mit MS (Erstdiagnose 2005), die seit 07/2018 mit einem Immunmodulator behandelt worden war. Der Hirnvolumenverlust betrug in den letzten 3,3 Jahren –2,3% (ca. –0,7%/Jahr), ohne Schubaktivität und Behinderungsprogression anhand des EDSS, jedoch mit Symptomen wie Fatigue und leicht depressiver Symptomatik. Im konkreten Fall gab der Hirnatrophiebefund zwar Anlass für eine Diskussion mit der Patientin, eine Therapieumstellung ausschließlich aufgrund des beobachteten Hirnvolumenverlustes blieb schwierig, schilderte Leussink. Hohe technische Variabilität und lange Beobachtungszeiträume Erste Untersuchungen mit zwei Probanden (eine gesunde Kontrollperson und ein MS-Patient) deuten beispielsweise darauf hin, dass allein die technisch bedingte Variabilität der Messungen von Veränderung des Hirnvolumens relevant ausfallen kann. Ob Messungen des Hirnvolumenverlustes nützlich sein könnten, um das Management einzelner Patient*innen zu steuern, hängt von der relativen Größe der Veränderungen über ein ausreichend langes Zeitintervall sowie von der Messvariabilität der technischen Ausstattung ab, schlussfolgern die Autoren. „Die technische Variabilität ist sicherlich ein wesentlicher Faktor, den es zu berücksichtigen gilt“, so Leussink [11]. Einheitliche MRT-Standards setzen Die klinische Heterogenität der MS erfordert immer eine individuell abgestimmte Therapie. Eine zunehmende Evidenz deutet darauf hin, dass die Messung des Hirnvolumens in Zukunft eine sinnvolle Bereicherung bei der Beurteilung und Vorhersage des individuellen Krankheitsverlaufs darstellen kann, was dann auch mit therapeutischen Konsequenzen verbunden wäre, so das Fazit von Leussink. Für die Umsetzung in den Praxisalltag müssen noch einheitliche Standards gesetzt werden. Derzeit arbeiten Initiativen wie beispielsweise die MRTMS Konsensusgruppe aus Essen (11 Neurolog*innen und 28 Radiolog*innen) daran, die Basis für einheitliche MRT-Protokolle und Befundberichtsstandards bei MS zumindest regional zu schaffen. a Teriflunomid ist für die Therapie von Erwachsenen und Kindern ab 10 Jahren mit milder bis moderater schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS) indiziert [5]. Fazit: Hirnatrophie bei Multipler Sklerose (MS) MS-Hirnatrophie… ist bereits früh im Krankheitsverlauf messbar ist zum Teil unabhängig von der inflammatorischen Krankheitsaktivität hat eine hohe klinische Relevanz Frühzeitige und effiziente MS-Therapie mit einem Medikament mit neuroprotektiven Eigenschaften… kann die Hirnatrophie verlangsamen hat einen messbaren Effekt auf Krankheits- und Behinderungsprogression Das MRT (magnetresonanztomografische Untersuchung) des Gehirns… kann Atrophie grundsätzlich messen erfordert noch ein hohes Maß an Standardisierung kann in Zukunft durch das Anzeigen einer möglichen Atrophie dabei unterstützen, die Progression vorherzusagen Literatur Lycklama à Nijeholt GJ, J Neurol Sci 2005, 233:199–202# Giovannoni G et al., Ther Adv Neurol Disord 2022, 15:1–18# Sprenger T et al., Mult Scler 2020, 26:1207– 1216# Calabrese M et al., Arch Neurol 2009, 66:1144– 1150# Fachinformation Aubagio®, Stand: Juli 2021_2 Radue EW et al., Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2017, 4:e390# Sprenger T et al., Mult Scler 2020, 26:1207–1221# Kappos L et al., JAMA Neurol 2021, 78:558–567# Hauser SL et al., N Engl J Med 2020, 383:546– 557# Tommasin S et al., J Neurol 2021, 268:4834– 4845# Narayanan S et al., NeuroImage 2020, 214: 116737, doi: 10.1016/j.neuroimage.2020. 116737# # In den Daten der Literaturreferenzen Nr. 1–4 und Nr. 6–11 waren ausschließlich Patient*innen eingeschlossen, die älter als 18 Jahre waren. Impressum Expertenroundtable „Fokus Hirnatrophie in der Multiplen Sklerose“ Essen, 13. Juni 2022 Bericht: Dr. Christine Willen, Köln Beilage in „DGNeurologie“, Band 5, Heft 6, November 2022 Mit freundlicher Unterstützung der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Frankfurt/Main Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Friederike Holthausen Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: Multiple Sklerose - Aktuell und in Zukunft: Stellenwert der Hirnatrophie als Therapieentscheidungshilfe

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