Multiple Sklerose: Therapiewahl an Patientenbedürfnissen ausrichten

Das Therapieschema der Leitlinien ordnet das Spektrum der verlaufsmodifizierenden Medikamente bei Multipler Sklerose (MS) nach dem Grad der Krankheitsaktivität bei einem Patienten. Neue Therapieansätze haben die Behandlungsmöglichkeiten deutlich erweitert. Bei Patienten mit MS orientiert sich die Wahl der Therapie an der zugrundeliegenden Krankheitsaktivität sowie den individuellen Bedürfnissen des Patienten [1]. Konsens herrscht darüber, dass ein früher Therapiebeginn mit einem individuell passenden Medikament die Krankheitsaktivität wirksam bremst und so die Langzeitprognose substanziell verbessern kann [1]. Welches Medikament zu welchem Zeitpunkt für den jeweiligen Patienten passt, muss im Einzelfall entschieden werden und wird im Rahmen des 90. Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) diskutiert. Aktuelle Daten vom AAN Fünf verlaufsmodifizierende Therapien und ein Präparat zur Verbesserung der Gehfähigkeit umfasst das Portfolio des Biotechnologie-Unternehmens Biogen. Daten zu diesen Therapieoptionen wurden beim diesjährigen Kongress der American Academy of Neurology (AAN) vorgestellt: Mit über 245 000 behandelten Patienten weltweit [2] hat Dimethylfumarat (DMF, Tecfidera®) einen festen Stellenwert in der First-line-Therapie der schubförmig remittierenden MS (RRMS) [1]. Auch zu Natalizumab (Tysabri®) existiert solide Evidenz aus klinischen Studien, die Zeiträume von über zehn Jahren abdecken. Die individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung zu Natalizumab kann durch die 2016 aktualisierte Risikostratifizierung noch differenzierter erfolgen. Der Weg des Patienten entlang von Krankheitsverlauf und Therapieentscheidungen („MS Patient Journey“) wird von drei Wegabschnitten geprägt [1]: Die Therapie sollte möglichst früh mit einem möglichst stark wirkenden und für den Patienten passenden Medikament begonnen werden Während der Therapie sollte die Krankheitsaktivität anhand der Parameter Schubfreiheit, Freiheit von Behinderungsprogression (bestätigt nach 12 und/oder 24 Wochen) sowie Aktivität in der MRT regelmäßig überprüft werden. Bei Krankheitsaktivität oder veränderten Präferenzen der Patienten sollte rechtzeitig eine Veränderung der Therapie in Erwägung gezogen werden. Therapie milder/moderater Verläufe Dimethylfumarat (DMF) ist ein oral einzunehmender Immunmodulator zur Behandlung erwachsener Patienten mit RRMS [3]. Eine Subgruppenanalyse der prospektiven Beobachtungsstudie PROTEC unterstützt frühere Studien-Erkenntnisse zur Wirksamkeit von DMF [4]. In die Analyse einbezogen wurden Patienten mit Neudiagnose (MS-Diagnose ≤ 1 Jahr vor Studieneinschluss), im frühen MS-Verlauf (EDSS-Werte ≤ 3,5) und mit mild/moderater Krankheitsaktivität im Vorjahr (≤ 1 Schub). Die DMF-Therapie war mit einer deutlichen Reduktion des Schubrisikos im Vergleich zum Vorjahr und einer niedrigen jährlichen Schubrate (ARR) zwölf Monate nach dem Beginn der Behandlung assoziiert, und zwar sowohl in der Gesamtgruppe (Risikoreduktion -84 Prozent) als auch in den Subgruppen der Patienten mit einem EDSS ≤ 3,5 (-77 Prozent), mit ≤ 1 Schub im Vorjahr (-71 Prozent) sowie in der Subgruppe mit einem EDSS ≤ 3,5 und ≤ 1 Schub im Vorjahr (-75 Prozent) [4]. In allen untersuchten Subgruppen zeigten sich nach zwölf Wochen zudem signifikante Verbesserungen bei der Lebensqualität (erfasst über EQ-5D-5L VAS), den Auswirkungen der MS sowie der MS-assoziierten Fatigue im Alltag (MSIS-29 bzw. MFIS-5) [4]. Weitere Belege für den klinischen Nutzen von DMF liefert eine Subgruppenanalyse der Beobachtungsstudie RESPOND [5]. In der nicht-interventionellen Studie wird untersucht, wie sich die Umstellung der Therapie auf DMF bei Patienten mit suboptimalem Ansprechen auf Glatirameracetat als einziger vorangegangener Therapie auswirkt. Schon im ersten Jahr nach der Umstellung auf DMF nahm die ARR gegenüber dem Vorjahr unter Glatirameracetat signifikant um 78 Prozent (von 0,48 auf 0,11) ab. In den Subgruppen, in denen die Patienten bei der Umstellung einen EDSS ≤ 3,5 hatten, maximal einen Schub erlitten hatten oder beide Kriterien erfüllten, verringerte sich die ARR um 87 Prozent, 75 Prozent bzw. 83 Prozent [5]. Rund 93 Prozent der Patienten in der Gesamtgruppe waren zwölf Monate nach Therapiebeginn mit DMF schubfrei. In den drei Subgruppen waren 96,1 Prozent (EDSS ≤ 3,5), 93,2 Prozent (≤ 1 Schub) bzw. 95,9 Prozent (EDSS ≤ 3,5 und ≤ 1 Schub) der Patienten schubfrei. Zudem wurden patientenberichtete Beurteilungen zu MS-Symptomen und zur Adhärenz bei Therapiebeginn und nach 12 Monaten erfasst: Sie blieben in allen Subgruppen stabil oder besserten sich [5]. Eine retrospektive Analyse von US-Krankenversichertendaten* bei über 7500 Patienten, die mit Fingolimod, Teriflunomid oder DMF behandelt worden waren, ergab unter DMF ein um 30 Prozent niedrigeres Schubrisiko als unter Teriflunomid.6 Das Schubrisiko unter DMF war ähnlich wie unter Fingolimod [6]. Springer Medizin Verlag GmbH × * Die Daten stammen aus einer Datenbank von US-Krankenversicherern. Die untersuchten MS-Präparate unterliegen dem Stand der FDA Zulassung; die in die Analyse eingeschlossenen MS-Präparate weisen teilweise andere Wirkstoffkonzentrationen auf als die in Deutschland zugelassenen MS-Präparate. Die Analyse erreicht nicht den Evidenzgrad von randomisierten, verblindeten Studien. Schritte bei der MS Patient Journey Mit einer wirksamen, für den Patienten bestmöglich passenden Therapie früh beginnen Krankheitsaktivität regelmäßig überprüfen Therapie rechtzeitig optimieren Was tun bei hochaktiven Verlaufsformen? Die Wahl der individuell passenden Therapieoption wird heute an der Krankheitsaktivität ausgerichtet. Bei aktiver, hochaktiver oder anhaltend aktiver Krankheit trotz Behandlung sollte der Patient auf ein stärker wirksames Präparat ein- oder umgestellt werden. Für den einmal monatlich subkutan (s.c.) zu injizierenden humanisierten monoklonalen Antikörper Daclizumab (Zinbryta®) belegt die Studie DECIDE eine ausgeprägte Wirksamkeit [7]. Daclizumab war bei Patienten mit schubförmiger MS dem Interferon beta-1a i.m. (IFN β-1a i.m.) in wichtigen Endpunkten überlegen [7]. Auch erwiesen sich das Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil von Daclizumab über bis zu fünf Jahre als stabil [7, 8]. Bei Anzeichen einer Leberschädigung ist jedoch erhöhte Aufmerksamkeit gegeben, wobei der Patient bei Symptomen, die auf eine Leberschädigung hindeuten, unverzüglich an einen Hepatologen zu überweisen ist. Volumenverlust im Gehirn reduziert Aus einer Auswertung von Daten aus der DECIDE-Studie zur Volumenveränderung im Thalamus liegen nun aktuelle Ergebnisse vor: Der Verlust des Thalamusvolumens von Woche 24 bis Woche 96 war unter Daclizumab signifikant niedriger als unter IFN β -1a i.m. [9]. Diese Analyse liefert Hinweise darauf, dass Daclizumab den regionalen Volumenverlust im Gehirn reduzieren kann. Der Effekt auf den Verlust an Hirngewebe könnte den beobachteten Nutzen von Daclizumab auf Schübe, Behinderungsprogression, kognitive Funktion und andere funktionelle Parameter in der DECIDE-Studie erklären [9]. Da bei manchen verlaufsmodifizierenden Therapien nach einer Therapiepause eine Steigerung der Krankheitsaktivität auf ein höheres Niveau als vor Therapiebeginn berichtet wurde, wurde in einer weiteren Studie die Auswirkung einer 24-wöchigen Pause der Behandlung mit Daclizumab auf die Krankheitsaktivität geprüft [10]. Es zeigte sich, dass die Zahl der Gd+-Läsionen und die jährliche Schubrate nach 24 Wochen Anwendungspause von Daclizumab unter dem Niveau vor der Behandlung blieb [10]. Natalizumab für effektive Kontrolle Auch zu Natalizumab (Tysabri®) wurden auf der diesjährigen Jahrestagung der AAN neue Daten aus Studien präsentiert. Im Fokus standen Ergebnisse der Real-World-Daten aus TOP (Tysabri Observational Program). Die Subgruppenanalyse hat gezeigt, dass ein Beginn der Natalizumab-Therapie schon früh im Krankheitsverlauf die Ergebnisse hinsichtlich der Reduktion der jährlichen Schubrate sowie der Wahrscheinlichkeit der EDSS verbessert [11]. Die Patientenkohorten wurden nach Krankheitsdauer seit Symptombeginn eingeteilt: ≤ 1 Jahr (n = 233), 1–5 Jahre (n = 179) und > 5 Jahre (n = 144) bei Aufnahme der Natalizumab-Therapie. Über den gesamten Beobachtungszeitraum von drei Jahren war die adjustierte Wahrscheinlichkeit einer EDSS-Verschlechterung niedrig und in den drei Patientenkohorten vergleichbar [11]. Natalizumab reduzierte die jährliche Schubrate in allen drei Patientenkohorten um etwa 93 Prozent [11]. Real-World-Daten aus TOP deuten darauf hin, dass Bedenken wegen des Risikos einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie oft der Grund für das Abbrechen nach dem ersten Therapiejahr waren [12]. Unter Natalizumab zeigte sich aber auch bei mehr Patienten eine EDSS-Verbesserung als unter den Folgetherapien. Vor dem Hintergrund der zuverlässigen Wirksamkeit ist es zwingend erforderlich, das Nutzen-Risiko-Profil von Natalizumab für jeden Patienten individuell abzuwägen, bevor man die Entscheidung für oder gegen ein Absetzen der Therapie trifft. Injektion alle zwei Wochen Peginterferon beta-1a (Plegridy®) wird alle zwei Wochen subkutan appliziert. Langzeitdaten belegen ein anhaltendes günstiges Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil bei schubförmig remittierender Multipler Sklerose [13]. Etwa 85 Prozent der Patienten zeigten nach fünf Jahren keine Progression der Behinderung (bestätigt nach zwölf Wochen) [13]. Adjustierte, indirekte Vergleiche von Studien zeigen, dass unter Peginterferon beta-1a nach zwei Jahren die Progression der Behinderung statistisch signifikant und die jährliche Schubrate numerisch geringer sind als unter Interferon beta-1a (p = 0,0007; p = 0,0901) oder Teriflunomid (p = 0,032; p = 0,051) [14, 15]. Bei Patienten, die von Interferon beta-1a zu Peginterferon beta-1a wechselten, verbesserten sich signifikant die Zufriedenheit mit der Anwendung (p < 0,0001), die allgemeine Zufriedenheit (p < 0,0001) sowie die Rate an Nebenwirkungen (p < 0,05) [16]. Literatur Gold R et al., Nervenheilkunde 2015, 34: 915–923 Pozzilli C et al., AAN 2017, P5.383; Patienten in Studien und nach Marktzulassung Fachinformation Tecfidera®, Stand: Mai 2017 Berger T et al., AAN 2017, P6.363 Kresa-Reahl K et al., AAN 2017, P2.406 Nicholas J et al., AAN 2017, P375 Kappos L et al., N Engl J Med 2015, 373: 1418-1428 Kappos L et al., ECTRIMS 2016, P653 Rose J et al., AAN 2017, S12.001 Giovannoni G et al., AAN 2017, P2.400 Spelman T et al., AAN 2017, P350 Trojano M et al., AAN 2017, P399 Fiore et al., AAN 2016, P4.010 Coyle PK et al., AAN 2017, P367 Newsome SD et al., AAN 2017, P368 Hendin B et al., AAN 2017, P394 Impressum Multiple Sklerose: Therapiewahl an Patientenbedürfnissen ausrichten Literaturarbeit Berichterstattung: Abdol A. Ameri, Weidenstetten Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung für Neurologen und Psychiater Nr. 4 Donnerstag 24. August 2017 Mit freundlicher Unterstützung der Biogen GmbH Deutschland, Ismaning Corporate Publishing (verantwortl. i. 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